Weihnachtsfrust? Einfach mal zurückblättern
Weihnachten steht vor der Tür, wir müssen sie nur aufmachen – und da steht es dann, das Weihnachten. Es ist der weißbärtige Mann, der nur als Kopie unserer millionenfachen Vorstellung existiert. Es ist das blondlockige Christkind, das ich mir immer wie den ein bisschen älter gewordenen Jesus vorgestellt habe, bis meine Frau Judith ganz selbstverständlich erwähnte, dass das Christkind natürlich ein Mädchen sei.
Es ist der Duft vom Glühwein, um den ich inzwischen einen Bogen mache, weil das Becherchen 4 Euro 50 kostet, und der Inhalt von dem Augenblick, wo er nicht mehr alle Geschmacksnerven auf der Zunge verbrennt, dermaßen klebrig süß schmeckt, dass ich jedes ehrliche Bier vorziehe. Es ist das Rudi-rednose-reindeer-jingle-bells-dreeming- white-Gedudel, das sich als nie endender Stream über die Märkte ergießt. Manchmal frage ich mich, ob es nicht ein bisschen besser wäre, Weihnachten draußen zu lassen.
Ein Blick zurück im Bilderalbum meines Lebens
Ich blättere dann zurück im Bilderalbum meines Lebens und stoße auf Fotos: Ich vorm Lametta-Baum im blauen Nikki, leicht angestrengt ein Gedicht vortragend: „Von drauß vom Walde komm ich her“. Später dann: „In dieser wunderschönen Nacht, hat sie den Förster umgebracht. Er war ihr bei des Heimes Pflege seit langer Zeit schon sehr im Wege.“ Mein letztes Gedicht vorm Baum war ein Selbstverfasstes über die Klassifizierung von Fürzen nach Geruch. Damit war der Brauch dann auch verbraucht.
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Ich erinnere mich an Festessen, bei denen ein erstes Mal die Eltern der Freundin, die es ernst mit mir meinte, auf die eigenen trafen, und ich zur Auflockerung ein paar Witze einstudiert hatte: „Rauchen Sie hinterher? – Habe ich noch nie geguckt“ und so ein Zeug halt. Die Eltern haben sich übrigens nie gut verstanden. Mir fällt ein, wie ich die Geschenke unterm Baum taxierte, wo sich die elektrische Lokomotive befinden könnte, die noch heute Abend über die Märklin-Bahn schnurren sollte.
„Komm, wir gehen das Christkind suchen“
Wenn ich noch weiter zurückblättere, dann laufe ich an Papas Hand durch die dunklen Straßen am Heiligen Abend. „Komm, wir schauen, ob wir das Christkind entdecken“, hatte er gesagt und unser Spiel ging so, dass überall in den Wohnungen, wo der Baum schon brannte, das Christkind dagewesen sein musste.
Als wir nach Haus kamen, leuchtete auch unser Baum, wir hatten das Christkind jedes Mal nur um Haaresbreite verpasst. Ich erinnere mich an einen Weihnachtsabend, wo sich die Großeltern, die immer nur an diesem Tag aufeinandertrafen, nach 15 Jahren des einander Kennens das „Du“ anboten. Meiner Mutter kullerte eine Träne über die Backe.
„Komm“, sage ich zum Töchterchen, „wir gehen das Christkind suchen“. Und ich weiß, wenn wir zurückkommen, hat Judith den Baum angezündet. Gut, dass wir Weihnachten auch dieses Mal wieder hineinlassen werden.
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