Weihnachten in Wattenscheid
Er ist der Mann, von dem die Frauen träumen – wenigstens eine ganze Menge –, den aber auch die Männer bewundern, vor dem sich die Schurken aus aller Welt fürchten und der sich als mehrfacher Weltretter einen Namen gemacht hat.
Sein Charisma, sein Aussehen … er hat einfach das gewisse Etwas. James Bond. Wer kennt ihn nicht, den Agent 007, der für den MI6 arbeitet? Er jagt Dr. No, schickt Liebesgrüße aus Moskau, hat die Lizenz zum Töten, trinkt seinen Martini-Dry-Cocktail – geschüttelt, nicht gerührt – und hat, wenn man seinen jüngsten Geschichten glauben darf, nicht einmal Zeit zu sterben.
Millionen haben ihn und seine Abenteuer über Jahre und Jahrzehnte verfolgt. Und eingefleischte Fans wissen darüber hinaus noch mehr von ihm, kennen Schauplätze und Drehorte der diversen Filme und private Vorlieben. Einige wollen sogar wissen, wo James Bond geboren ist.
Es ist jedoch nicht London, nicht New York, es ist keine englische Kleinstadt oder ein mondänes britisches Seebad. Nein, nichts von alldem! James Bond wurde in Deutschland geboren und zwar in – Achtung! – Bochum-Wattenscheid. Ja, no joke! So steht es in der autorisierten und dennoch fiktiven Bond-Biographie von John Pearson aus dem Jahre 1973.
Am Hochreck der Weltrettung turnen
Demnach war James’ Vater Andrew Bond als Mitglied der alliierten Besatzungsbehörde im Ruhrgebiet im Einsatz, um nach dem Ersten Weltkrieg den Krupp-Konzern zu zerschlagen. Seine Frau Monique wollte ihren Sohn eigentlich in England zur Welt bringen, aber ein Streik der Eisenbahner verhinderte die Abreise, und somit ist James Bond gebürtiger Deutscher und erblickte am 11. November 1920 das Licht der Welt in Wattenscheid in Westfalen.
Wer hätte das gedacht? James Bond, der Top-Agent und Weltretter stammt aus dem Ruhrgebiet! Ernüchternd? Unpassend? Vielleicht sogar enttäuschend? Oder nur kurios? Sicher von allem etwas. In jedem Fall beschleicht einen das Gefühl, dass es einen irgendwie gearteten Widerspruch gibt zwischen dem Image eines Agenten, der die ganze Welt in Atem hält, und dem Image von Bochum-Wattenscheid.
Weder optisch, noch stilistisch, noch von seinem Anspruch her, am Hochreck der Weltrettung zu turnen, scheinen James Bond und seine Geburt im Ruhrgebiet zusammenzupassen. Ja, im Grunde ist so etwas enttäuschend! Denn ein Weltretter ist keiner, der aus einem Ort stammt, der so wenig spektakulär ist wie Wattenscheid. Nicht umsonst wird dieser peinliche Umstand in der Fangemeinde tunlichst verschwiegen.
Die Botschafter sind nicht vornehme Schriftgelehrte, sondern dahergelaufene Hirten
Was für eingefleischte James-Bond-Fans gilt, das galt sicher nicht minder für alle in Israel, die vor zweitausend Jahren den Weltenretter erwarteten und dabei sicherlich ebenfalls eine gehörig andere Vorstellung von seiner Herkunft und Geburt hatten, als es am Ende der Fall war. Der Messias – geboren in Betlehem?! Das ist nicht weit entfernt von Bochum-Wattenscheid. Und dann auch noch unter diesen Umständen!
In einer notdürftigen Geburtsstätte, ein Schuppen für Tiere, Harken und Dreschflegel. Merkwürdige Eltern, von denen der Vater nicht der Vater ist. Ein junges Paar, wohl ein bisschen verpeilt, weil zu spät bei der Suche nach einer Bleibe für die Nacht, um bei der wohl auch zu spät angegangenen Reise die Registrierungsstelle für Steuerlisten aufzusuchen.
Und die Botschafter der Geburt des angeblichen Gottessohnes sind nicht vornehme Schriftgelehrte, die nach eingehender Prüfung die Echtheit des Messias feststellen und amtlich verkünden, sondern es sind dahergelaufene Hirten, die dazu noch in fragwürdigen Visionen Engel haben singen hören – alles in allem wohl eine Ansammlung von Merkwürdigkeiten, aus denen man eigentlich schließen muss, dass dieser Messias kein Messias ist.
Ein Baby als Weltenretter?
Und vor allem: Ein Baby als Weltenretter, das außer schlafen und trinken, quengeln und lallen nichts kann? Also wenn man schon bereits bei seiner Geburt als Erlöser und als Gottessohn punkten will, dann wird man aber bitte nicht in Bochum-Wattenscheid geboren!
Kein Wunder, dass sich die sehnsüchtige Wartegemeinschaft spaltet. Nur wenige sind bereit, der ernüchternden Tatsache ins Auge zu blicken, dass der Retter seine Mission nicht als Anführer von Truppen auf dem Schlachtfeld beginnt oder als Politiker am Rednerpult, sondern dort, wo die alltägliche Not am größten ist: in der Nacht, im Dunkel, im Abseits, in der Verlassenheit, in der Wehrlosigkeit, im Ungeplanten, in der Verkennung, im Hunger, in der Härte des Lagers, in der Ausgrenzung, im Nicht-Erreichen der Mehrheit, im Bangen vor dem Morgen, in der Verzweiflung des mühevollen Überlebens, im Ausgeliefertsein der Machtlosen.
Und nicht zuletzt als Kind! Als Baby! Gott kommt nicht als erwachsener Herr, sondern als lallendes Kleinkind in die Welt, die er retten will. Das ist einer der ersten Skandale des Christentums, dass man an ein Kind glaubt, das Gott ist – oder umgekehrt an einen Gott, der durch seine Geburt als Mensch die Welt zu retten beabsichtigt und nicht durch einen Plan, ein Buch mit weisen Ratschlägen oder als ein apersonales Prinzip, gar als eine Funktion des Menschen, der sich selbst Retter sein will.
So wie es der Münchner Astrophysiker Gerhard Börner kürzlich in einem persönlichen, wissenschaftsaffinen Glaubensbekenntnis zur Nachahmung empfahl: „Ich halte es für sehr vernünftig, an ein kosmologisches Prinzip zu glauben, das so in der Welt wirkt, dass immer komplexere Gebilde entstehen. Für mich ist Gott aber nicht von Anfang an allwissend, sondern hat sich mit der Welt entwickelt. Gott erfährt durch uns, wie die Welt ist.“
Dem steht das Gespür einfacher Menschen an der Krippe entgegen, die in Betlehem das Gegenteil erleben und dort erfahren, wie Gott ist. Sie sind wie angewurzelt beim Anblick des Wunders, dass da Gott als Kind liegt, das überhaupt nicht in der Lage ist, mit Worten zu bestätigen, was ihnen glaubhaft gesagt worden war, dass es der Messias ist, der frisch geboren vor ihnen liegt. So provoziert der Inhalt des Weihnachtsfestes, die Geburt Gottes als hilfloser Säugling, eine Welt, die sich nicht vorstellen will, dass ihre Heilung und Rettung nicht durch die Menschen und damit durch die Welt selbst bewerkstelligt wird, sondern durch Gottes Nähe.
Genau hierin liegt das Geheimnis
Man entscheidet sich schon damals, wie man sich auch heute entscheidet. Die einen wollen einen Retter nach ihrem Gefallen, die anderen lassen sich von dem retten, den sie als den Richtigen erkannt haben. Und es sind damals wie heute keineswegs die Wissenden, die sich auf den Retter einlassen, sondern die Zutraulichen. Vielleicht weil sie sich in dem Mühen um Erkenntnis noch genügend Spielraum für die Sprache des Herzens gelassen haben, die so ganz anders ist, als die Propaganda es haben will.
Die einfältigen Hirten ahnen, dass hier das Geheimnis der Rettung liegt: dass Gott sein Herz dort öffnet, wo Menschen ihm zunächst die Tür vor der Nase zugeschlagen haben. Sie erkennen intuitiv, dass man finden wird, was man sucht.
Die bäuerliche Truppe hält nichts mehr bei ihren Herden. Sie spürt, dass der Retter sie – jetzt – haben will, sie, die schnörkellos vertrauen können. Sie werden nicht enttäuscht. Sie sind die ersten an der Krippe, weil sie sich nicht selbst im Weg stehen mit kalkulatorischen Diskussionen und sich den Blick für das Offenkundige bewahrt haben.
Die Geburt Christi ist kein Betriebsunfall – ganz im Gegenteil
Dass hier Gott sein wohl größtes Wunder dadurch wirkt, dass er sich als Kind dieser Welt ausliefert. Er lässt nicht einen Koran in das Ohr eines Menschen diktieren. Er erlässt keine Weisung über einen Mittelsmann. Er kommt selbst auf die Bühne dieser Welt. Und zwar so, wie Menschen eben auf die Welt kommen. Durch die Geburt. Als hilfloses, zahnloses, argloses Baby.
Insofern ist von Anfang an die Geburt Christi für die Christen kein Betriebsunfall, als den die Fans von James Bond dessen Herkunft aus Wattenscheid empfinden. Ganz im Gegenteil. Die Geburt musste sein! Und sie musste im wenig spektakulären Betlehem sein. Denn ein Menschenretter, der keine Ahnung vom Geborenwerden, Groß- und Erwachsenwerden, Lachen, Leiden, Hungern und Schwitzen und vom Leben im Abseits hat, hat auch keine Ahnung vom Menschenretten.
Das haben die Hirten sicher gespürt. Und außerdem: Wie anders könnte ein Gott die Menschen für sich einnehmen und sie sein Vertrauen in sie spüren lassen, als sich ihnen auszuliefern und ihnen mit dem versonnenen Lächeln eines Neugeborenen die Liebe zur Welt zu bringen, die alles Dunkle vertreiben kann.
Nicht betören lassen von der Sucht nach Mehrheiten
Möchten wir doch in diesen stürmischen Zeiten solche Menschen sein! Die sich nicht betören lassen von der Sucht nach Mehrheiten und ihren Befehlen, die sicher sind in ihrem Glauben, dass es einen Gott gibt, der sie ruft, die loslassen können von allem, was sie hindert, ihr Herz dem Kind zu öffnen, in dessen Ausgeliefertsein sie den größten Erweis der Liebe Gottes zu den Menschen erblicken dürfen. Gott will Kind sein für uns. Eine paradoxe, aber schlüssige Einsicht, der Kern des Christentums: Man wird durch Kleinwerden groß.
Die schlichten Hirten hat ihr Besuch in Betlehem nicht gesund und reich gemacht oder wissend. Man überreicht ihnen im Stall nicht den Nachweis ihrer Folgsamkeit oder beglückt sie mit Zukunftsversprechen. Aber man lässt sie dort den leibhaftigen Gott finden, der ihnen mit kindlichem Lächeln bestätigt, dass sie mit ihrem Zutrauen richtiggelegen hatten, als sie losgingen, um – entgegen allen schlauen Argumenten – Gott zu suchen. Ihr unverdorbenes Herz wird mit der schlichten Wahrheit belohnt, dass er nun endlich da ist.
Wie Recht sie behalten, zeigt die Geschichte der Weihnacht seit über zweitausend Jahren, die in glaubenden Menschen – Hirten, Weisen, Einfältigen, Armen und Reichen und nicht zuletzt in den Märtyrern – beweist, dass der Ort der Geburt Gottes kein biographischer Betriebsunfall war.
Das Heil ist nur für die zugänglich, die glauben und vertrauen
Sondern das sorgfältig gewählte Einfallstor des Göttlichen in diese Welt, um sie mit einem göttlichen Baby ob ihres Eigensinns und ihres Stolzes zu beschämen, mit dem sie es gewagt hatte, sich dem Willen Gottes zu verschließen und dem Heil die Tür zu weisen, weil sie unter sich sein wollte – in mehrheitsfähigen Runden Beflissener, die immer schon wissen, was zu geschehen hat.
Gott hat es anders vorgesehen. Das Heil ist nur für die zugänglich, die glauben und vertrauen. Die über den Schatten ihrer Vernünfteleien springen können und nach Betlehem gehen, wo es normalerweise nichts Besonderes zu sehen gibt, jetzt aber der Himmel auf die Erde gekommen ist, um bei ihr zu bleiben. Deswegen verschweigen Christen – anders als die Anhänger von James Bond – nicht, wo der Retter geboren ist.
Im Gegenteil, sie sprechen und singen sogar in diesen Tagen davon, dass Gottes Liebe auch dort zur Welt kommt, wo es niemand vermutet, wo es unscheinbar zugeht und man sich verlassen fühlt und selbst da, wo man ihn der Tür verweist. Diese Liebe ist so mächtig, dass sie in einer Frau menschliches Fleisch wurde, um nach der Geburt die Mächtigen ihrer Macht mit seinem entwaffnenden Lächeln zu entkleiden.
Wenn der Himmel sich so auf die Erde geneigt hat – in Betlehem – und als Kind die stroherne Welt betrat, dann kann man ihn seither überall finden. Selbst in Bochum-Wattenscheid.