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Kolumne „Der Philosoph“

Würde ohne Wahrheit gibt es nicht

„Die Bezeichnung einer Frau als Mann und die Verwendung des männlichen Geschlechts bzw. Pronomens in Bezug auf eine Frau stellen einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht und einen Angriff auf ihre Menschenwürde dar.“ Mit dieser Begründung untersagte das Landgericht Frankfurt am Main per Eilbeschluss vom 18. Juli 2024 dem Nachrichtenportal NIUS, eine sogenannte Transfrau, die sich Zutritt zu einem Frauenfitnessstudio verschaffen wollte, als Mann zu bezeichnen. Ist es angesichts eines solchen Urteils überhaupt noch erlaubt zu schreiben, dass „Transfrauen“ selbstverständlich Männer seien, die fälschlicherweise glauben oder vorgeben, eine Frau zu sein, obwohl sie es ihrer leiblichen Natur nach nicht sind? Genau das drückt sich aber in dem Wörtchen „Trans“ aus. 

Ob man durch semantische Konstruktionen eine Bedeutung des Wortes „Frau“ finden kann, der zufolge auch „Transfrauen“ Frauen sind, spielt dafür keine Rolle. Könnte man sich sicher sein, dafür nicht juristisch belangt zu werden, wäre daher wahrheitsgemäß zu sagen, dass im normalsten Sinne des Wortes „Transfrauen“ Männer sind.

Ein falscher Konflikt zwischen Würde und Wahrheit

Faktisch postuliert das Landgericht Frankfurt mit seiner Entscheidung also einen Konflikt zwischen der Würde des Menschen und der Wahrheit. Ein solcher Widerstreit liefe darauf hinaus, dass das Gute – denn zu diesem dürfen wir die Würde als höchsten personalen Wert zählen – und das Wahre auseinanderfallen können. Ist also die immerwährende philosophische Lehre von der Einheit des Wahren und Guten zu revidieren? Mitnichten. Vielmehr zeigt sich bei genauerer Betrachtung des Würdebegriffs, dass der vom Landgericht implizierte Konflikt zwischen Würde und Wahrheit auf einem falschen Verständnis von Würde beruht.

Was also ist Würde? Das Urteil des Landgerichts Frankfurt legt nahe, die Würde des Menschen werde verletzt, wenn Behauptungen die eigene Person betreffend von anderen nicht anerkannt würden. Ein solche Auffassung von Würde steht offenbar im engen Zusammenhang mit einem doppelten Rechtsanspruch: einmal dem Recht, über das eigene Streben und Tun, den eigenen Lebenswandel und die eigene Identität zu bestimmen, sowie dem Anspruch, dass andere diesen Akten der Selbstbestimmung nicht einmal widersprechen dürfen. 

Bei all dem scheint es keine Rolle für die Würde zu spielen, ob die getroffenen Entscheidungen einer Person irgendwelchen Kriterien entsprechen. Die Frage, ob ein Akt der Selbstbestimmung gut ist oder der Wahrheit entspricht, ist für diese Form der Selbstbestimmung und die ihr einhergehende Würdeauffassung schlicht irrelevant.

Gottesebenbildlichkeit des Menschen und Immanuel Kant

Eine solche Auffassung von Würde und Selbstbestimmung hat leider inzwischen auch eine höchstrichterliche Absegnung erhalten. So hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 26. Februar 2020 festgestellt, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie aus Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes „ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ umfasse. Für das Gericht handelt es sich hierbei um einen „Ausdruck persönlicher Autonomie“.

 

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Philosophisch betrachtet ruft diese Engführung von Autonomie und Würde unweigerlich den Namen Immanuel Kant auf den Plan. Denn es ist Kant, der in seiner Ethik der menschlichen Person einen unendlichen Wert – eine Würde – zugesprochen und diese Würde mit seiner Autonomiefähigkeit begründet hat. Auch die Väter und Mütter des Grundgesetzes bezogen sich, neben der christlichen Idee von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, auf den kantischen Würdebegriff.

Doch der kantische Würdebegriff ist dem, der den beiden erwähnten deutschen Gerichtsurteilen zugrunde liegt, diametral entgegengesetzt. Denn aus der kantischen Würdeauffassung erwachsen erst einmal keine Anspruchsrechte auf willkürliche Selbstbestimmung, sondern – im Gegenteil – strenge moralische Pflichten, die das Wollen und Handeln von Personen beschränken. Der Philosoph Engelbert Recktenwald hat in seinem jüngsten Buch „Autonomie. Eine philosophische Klärung“ (Be+Be-Verlag, Heiligenkreuz 2024) die radikalen Unterschiede zwischen der „Autonomie“, von der im Suizidentscheid des Bundesverfassungsgerichts die Rede ist, und der kantischen „Autonomie“ im Detail herausgearbeitet.

Willkür ist unvereinbar mit der Würde der menschlichen Person

Augenfällig wird der Unterschied anhand der Bewertung des Suizids: Während das Bundesverfassungsgericht meint, aus der Würde des Menschen folge ein Recht auf Selbsttötung, sieht Kant im Selbstmord einen Verstoß gegen die eigene Würde und damit eine Verletzung der Pflichten gegen sich selbst als Person. Denn dass Personen eine Würde haben, heißt nach Kant, dass sie einen Wert an sich verkörpern, der nicht instrumentalisiert, verrechnet oder veräußert werden darf – nicht einmal von ihnen selbst. Wer also den Wert seiner Existenz nach der vorhandenen Lust und Unlust zu leben beurteilt, missachtet die eigene Würde. Willkür – das kriterienlose Tun und Lassen, was man will – ist daher unvereinbar mit der Würde der menschlichen Person.

Würde hat der Mensch nach Kant also, insofern er prinzipiell über die Fähigkeit verfügt, moralische Pflichten zu befolgen. Moralische Pflichten aber entspringen einer allgemeinen, gesetzgebenden Vernunft. Die Würde des Menschen ist daher an seine Vernunftnatur gekoppelt. In diesem Punkt stimmen die kantische und die christliche Würdebegründung überein. Denn dass der Mensch Gottes Ebenbild ist, verweist nicht auf irgendwelche leiblichen Eigenheiten, sondern vor allem auf seine Vernunftnatur.

Die Vernunft ist es nun, die die Wahrheit – oder zumindest die Wahrhaftigkeit als Bemühen um die Wahrheit – zu einer Voraussetzung dafür macht, der Würde des Menschen gerecht zu werden. Vernünftig ist der Mensch, insofern er Einsicht nehmen kann in das, was in Wirklichkeit ist.

Einen Mann eine Frau zu nennen widerspricht der Würde aller involvierten Personen

Zum Sein im weitesten Sinne gehört aber auch die objektive moralische Wertordnung, an der sich der Mensch bei seinem Wollen und Handeln zu orientieren hat. Nur so ist ein würdegemäßes Handeln überhaupt möglich. Die Lüge ist deswegen nicht nur wahrheits-, sondern auch würdewidrig. Wer lügt, missachtet sich und andere in der auf Wahrhaftigkeit angelegten Vernunftnatur, die die Würde begründet.

Einen Mann eine Frau zu nennen, obwohl man weiß, dass das Gegenteil der Fall ist, widerspricht daher der Würde aller involvierten Personen. So gesehen fällt es schwer, sich einen perfideren Missbrauch des Menschenwürdegedankens vorzustellen als den gerichtlich verordneten Zwang, beim Errichten eines Reichs der Lüge mitzuwirken.

 

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