Der Liberalismus unterschätzt das Böse
Wenn Deutsche romantisieren, ist der Untergang nicht weit. So ist es auch bei Friedrich Schiller. Der Dichter des Sturm und Drang hat Revolutionsgedanken romantisiert und den Traditionsbruch idealisiert. Das liest man im 1781 veröffentlichen Drama „Die Räuber“: „Ich fühle eine Armee in meiner Faust – Tod oder Freiheit!“ und ganz emotional im Gedicht „An die Freude“, in dem es heißt: „Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt.“
Weil alle Menschen nun mal nicht Brüder sind, muss die Räuberarmee erst dafür sorgen. Man kann daher sagen, dass die Französische Revolution ab 1789 Schillers Wünsche politisch umsetzte: Man schrie „Liberté, Égalité, Fraternité“ – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, und wenig später kam es zu nie gekannter Gewalt: „So entstand die Republik – im Kriege und unter Mord- und Gräueltaten“ (Ernst Schulin).
Jetzt sind wir mitten im Liberalismus. Was ist mit Liberalismus gemeint? Es geht nicht um den sogenannten Wirtschaftsliberalismus, sofern es sich dabei um Marktwirtschaft handelt. Es geht um den Liberalismus, der die Bühne der Weltanschauung betritt und zur neuen Religion wird. Jener Liberalismus, der aus der Aufklärung hervorgeht und sich als revolutionäre Bewegung versteht. Er leugnet die Erkennbarkeit von Wahrheit und setzt an dessen Stelle die subjektiven Wünsche des Individuums.
Der dumme Triumph des Subjektivismus
Im Zentrum steht die (größtmögliche) Freiheit von Staat, Religion, Gesellschaft, Familie sowie Tradition und die (größtmögliche) Freiheit für die Selbstverwirklichung des Individuums mit seinen Bedürfnissen, Wünschen und Leidenschaften. Der Liberalismus ist als gutgemeinte Idee eine Romantisierung des Menschen. Er sieht ihn ähnlich wie Jean-Jacques Rousseau als „edlen Wilden“, der von Tradition und Konventionen „gefesselt“ sei. Als politische Realität ist er immer mit der Revolution verbunden, weil es in organischen, durch keine groben Brüche neugestalteten Gesellschaften keinen Liberalismus gibt.
Der Liberalismus ist hier insofern mit dem Kommunismus identisch, als er die Bedürfnisse des Menschen ins Zentrum rückt, worunter auch Laster, Sünden und jene Dinge fallen, die traditionell als verwerflich gelten. Er unterscheidet sich vom Kommunismus dadurch, dass er das Individuum betont, nicht das Kollektiv. Aber wie im Kommunismus sind für ihn Begriffe wie „Wahrheit“, „Gott“ und „Tradition“ fremd und hinderlich. Er strebt darum auch subversive Umstürze an, um seine Freiheitsmaxime zu erreichen.
Im Zentrum des Liberalismus stehen subjektive Rechte. Es gibt keine feste Ordnung des Seins und Sollens. Eine liberale Ethik gibt möglichst keine Inhalte und konkrete Tugenden vor, sondern nur die Freiheit, etwas zu ermöglichen, das dem Individuum gefällt oder ihm als das Gute erscheint. Der klassische Liberale würde daher immer für die „Selbstentfaltung“ plädieren, nicht für eine metaphysisch verankerte Ordnung des Seins und Sollens, wie sie für die Tradition maßgeblich ist.
Das wirkliche Leben entzaubert die Ideologie
Der liberale Mensch sieht sich in diesem Sinne als der „befreite“ Mensch, der seinen Weg geht und seine „eigene Wahrheit“ findet. Das klingt gut, das klingt romantisch, doch genau hier besteht sein Irrtum. Denn der Mensch kann sich nicht einfach selbst „befreien“, seine eigene Wahrheit erfinden. Das führt nicht zur Freiheit oder zum Glück, sondern zur Unfreiheit. Das Leben zeigt deutlich, dass oft nicht Freiheit, sondern Leidenschaften, Schwächen und Laster über Menschen herrschen.
Das Böse hat genau dann eine Macht, wenn der Liberale seine Unzulänglichkeit nicht sieht. Er sieht sich als frei, ist aber in Wirklichkeit unfrei und fremdbestimmt. Weil er überzeitliche Ordnungen und Orientierungen ablehnt, verwechselt er das Ausleben von Gefühlen und Bedürfnissen mit Freiheit. Der Rückzug ins Sentimentale wird zum Ausdruck „maximaler Individualität“. Dabei ist der Liberale nur seiner Laster Knecht.
Der „befreite“ Mensch des Liberalismus ist substanziell leer. Es kann für ihn keine andere Erfüllung geben als seinen Begierden zu folgen. Dazu braucht er Geld und Wohlstand. Das sind seine eigentlichen „Werte“. Sie schreiben ihm nichts vor, sie kennen kein „Richtig und Falsch“, sondern lassen ihn in Ruhe „frei“ sein.
Doch die Geschichte zeigt, dass wirklicher Reichtum immer nur eine Sache von wenigen ist. Insofern ist Liberalismus durch finanzielle Selbstverwirklichung kein realisierbares Ziel für die meisten Menschen. Das ist ein Grund, warum Reiche oft den Liberalismus als Weg der Verheißung sehen und Arme den Kommunismus.
Was macht man als Liberaler, wenn man den hedonistischen Traum nicht leben kann? Dann ist es naheliegend, offen für revolutionäre und subversive Bewegungen zu sein, die Freiheit und Glück versprechen – im Hier und Jetzt. Dann kommt es zum offenen Kampf gegen Religion und Tradition, sofern sie als Hindernis gesehen werden.
Weil der Liberale keinen Begriff für das Böse hat, für das wirklich Zerstörerische und Abgründige, weil es in seiner Konzeption keine inhaltlichen und klaren Vorgaben gibt, kein Gut und Böse, sondern nur „frei“ und „unfrei“, kann diese Revolution gnadenlos verlaufen: „Tod oder Freiheit!“
Es gibt die Lust am Bösen
Das Böse zeigt sich immer wieder in der Welt. Der Liberale ist wie ein Schaf, das den Wolf nicht kennt und sich von ihm fressen lässt, wenn der Wolf sich als „Weg zur Freiheit“ und „Selbstverwirklichung“ verkauft. Weil der Liberale nicht nach objektiven, sondern subjektiven Maßstäben urteilt, gerät er schnell ins Schwärmen und landet so im Bauch des Wolfs. Das ist nebenbei das Schicksal des liberalen Christentums unserer Tage.
Gleichzeitig kann der Liberale aber auch selbst zum Wolf werden. Was nämlich auch oft übersehen wird, ist die Tatsache, dass nicht immer einfach nur „das Gute“ anstrebt wird, sondern, dass es ebenso eine „Lust am Bösen“ gibt. Besonders wenn es um Macht geht. Gerade in Zeiten der Not ist die Bereitschaft groß, „über Leichen zu gehen“ oder die Lösung im Totalitären zu suchen. Dann kommt es nicht nur zur Revolution, sondern zu Mord und Gräueltaten. Leidenschaften und Schwächen bestimmen dann die Handlungsweisen statt „liberaler Werte“.
Die Geschichte der vergangenen 250 Jahre ist der beste Zeuge dafür. Neben der Französischen Revolution und den berühmten Beispielen der europäischen Geschichte wie dem Untergang der Weimarer Republik gibt es auch weniger bekannte Ereignisse, die alle als Scheitern des Liberalismus gedeutet werden können. Denn es handelte sich dabei nicht um kommunistische Revolutionen wie in Russland, sondern um „liberale Republiken“, die in der Katastrophe endeten.
Darunter fällt zum Beispiel die Gewalt der Ersten Portugiesischen Republik (1910–1926), die Priester einsperrte und sich später als „Diktatur der Schwerter“ – Ditadura das Espadas einen Namen machte. Ähnlich war es während der Mexikanischen Revolution (1910), im Königreich Italien und überall, wo man den Bruch im Namen der „Freiheit“ ausrief.
Die Wahrheit ist erkennbar
Auf „Freiheit“ folgte oft das Militär, und am Ende stand der Totalitarismus im Gesicht des Faschismus. Wer die Zügel lockerte, landete nicht in Utopia, sondern überließ den Hemmungslosen das Feld. Das Einhalten von Grenzen ist daher unabdingbar für Freiheit.
Um klare Grenzen zu definieren, braucht man eine Weltanschauung, die sich an objektiven Maßstäben orientiert. Es ist notwendig anzuerkennen, dass es objektive Wahrheit und eine Naturordnung gibt und diese erkennbar sind. Freiheit findet man nicht, indem man sich von dieser Ordnung befreit, sondern indem man sie bejaht. Freiheit und Wahrheit gehören zusammen.
Der freie, wirklich befreite Mensch im Sinne der europäischen Kulturgeschichte ist jener, der frei ist von Sünden, Lastern und Schwächen und das Gute tut. Im alten Athen gab es einen klaren Grundsatz: „Nur der Weise ist frei.“
Liberalismus versteht sich niemals als revolutionäre Bewegung und er leugnet auch nicht die Erkennbarkeit von Wahrheit, wendet sich allerdings gegen jene, die so auftreten, als hätten sie ein Monopol auf wahre Erkenntnisse. Und was meint, "die (größtmögliche) Freiheit"? Der (Ordo)Liberalismus setzt selbstverständlich voraus, daß der Mensch in Gemeinschaften (Bitte nicht Gemeinschaft mit Gesellschaft verwechseln!) eingebunden ist und erst diese die "größtmögliche Freiheit" ermöglichen, wie ihr auch Grenzen - mit der Annahme einer "größtmögliche Freiheit" wird ja zugleich angenommen, da es "unmögliche Freiheiten" gibt - setzen. Bekanntlich geht der Schrift von Adam Smith "An inquiry into the nature and causes of the wealth of nations" (1776) sein "essay towards an analysis of the principles by which men naturally judge concerning the conduct and character, first of their neighbours, and afterwards of themselves“ (1759, der Titel, wie zitiert so erst ab der 4. Auflage 1777). Und man lese insbesondere Friedrich August von Hayek, um sich klar zu machen, wie Liberalismus die Einbindung des Einzelnen in die Gemeinschaft voraussetzt. Die Russeausche Vorstellung des einsamen Robinson als Homo oeconomicus hängt im luftleerem Raum: „Der philosophisch gewitzte Sozialtheoretiker braucht den Homo-oeconomicus-Ideologen nur nach der Bestimmung seines Begriffs vom Individuum zu fragen. Eine ehrliche Antwort kann nicht anders als durch den Rückgriff auf ein Ganzes gegeben werden, dessen unteilbarer Teil jenes Individuum ist. Dieses Ganze aber heißt in der Sozialtheorie Gemeinschaft.“ (Peter Ruben: Die kommunistische Antwort auf die soziale Frage. In ders.: Gesammelte Philosophische Schriften hg. von Ulrich Hedtke und Camilla Warnke. Band 2: Zu philosophischen Fragen von Wirtschaft und Gesellschaft. Erscheint voraussichtlich Berlin 2022, zit. nach dem Fahnenausdruck S. 368 Fußn. 2). Siehe auch Gebhard Kirchgässner: Homo oeconomicus: Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Tübingen 1991; Laurenz Volkmann: Homo oeconomicus: Studien zur Modellierung eines neuen Menschenbilds in der englischen Literatur vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert. Heidelberg 2003.)
Es wären noch weitere Einwände gegen die von Herrn Jung vorgetragenen Vorstellungen vorzubringen, aber das erspare ich mir hier.
Es ist in Wirklichkeit der Humanismus, den Sie hier beschreiben. Sobald sich der Mensch selbst vergottet und Gott verleugnet, sind dem Bösen Tür und Tor geöffnet.
Zum Kommentar von Herrn Pawliczak: Es mögen im wissenschaftlichen Sinne durchaus Einwände gehen Formulierungen von Herrn Jung vorliegen. Wenn wir jedoch die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen studieren, sollten wir Herrn Jung zugestehen, dass ihm die präzise Charakterisierung einer elementaren Problematik gelungen ist. Vielen Dank dafür.
Herr Jung beschreibt ein wirklichkeitsverzerrendes Phantombild. Die angemessene Antwort darauf hat Prof. Habermann mit seinem Text "Über die Werte des Liberalismus" gegeben.
https://www.corrigenda.online/kultur/ueber-die-werte-des-liberalismus
Es ist in Wirklichkeit der Humanismus, den Sie hier beschreiben. Sobald sich der Mensch selbst vergottet und Gott verleugnet, sind dem Bösen Tür und Tor geöffnet.
Zum Kommentar von Herrn Pawliczak: Es mögen im wissenschaftlichen Sinne durchaus Einwände gehen Formulierungen von Herrn Jung vorliegen. Wenn wir jedoch die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen studieren, sollten wir Herrn Jung zugestehen, dass ihm die präzise Charakterisierung einer elementaren Problematik gelungen ist. Vielen Dank dafür.
Herr Jung beschreibt ein wirklichkeitsverzerrendes Phantombild. Die angemessene Antwort darauf hat Prof. Habermann mit seinem Text "Über die Werte des Liberalismus" gegeben.
https://www.corrigenda.online/kultur/ueber-die-werte-des-liberalismus
Liberalismus versteht sich niemals als revolutionäre Bewegung und er leugnet auch nicht die Erkennbarkeit von Wahrheit, wendet sich allerdings gegen jene, die so auftreten, als hätten sie ein Monopol auf wahre Erkenntnisse. Und was meint, "die (größtmögliche) Freiheit"? Der (Ordo)Liberalismus setzt selbstverständlich voraus, daß der Mensch in Gemeinschaften (Bitte nicht Gemeinschaft mit Gesellschaft verwechseln!) eingebunden ist und erst diese die "größtmögliche Freiheit" ermöglichen, wie ihr auch Grenzen - mit der Annahme einer "größtmögliche Freiheit" wird ja zugleich angenommen, da es "unmögliche Freiheiten" gibt - setzen. Bekanntlich geht der Schrift von Adam Smith "An inquiry into the nature and causes of the wealth of nations" (1776) sein "essay towards an analysis of the principles by which men naturally judge concerning the conduct and character, first of their neighbours, and afterwards of themselves“ (1759, der Titel, wie zitiert so erst ab der 4. Auflage 1777). Und man lese insbesondere Friedrich August von Hayek, um sich klar zu machen, wie Liberalismus die Einbindung des Einzelnen in die Gemeinschaft voraussetzt. Die Russeausche Vorstellung des einsamen Robinson als Homo oeconomicus hängt im luftleerem Raum: „Der philosophisch gewitzte Sozialtheoretiker braucht den Homo-oeconomicus-Ideologen nur nach der Bestimmung seines Begriffs vom Individuum zu fragen. Eine ehrliche Antwort kann nicht anders als durch den Rückgriff auf ein Ganzes gegeben werden, dessen unteilbarer Teil jenes Individuum ist. Dieses Ganze aber heißt in der Sozialtheorie Gemeinschaft.“ (Peter Ruben: Die kommunistische Antwort auf die soziale Frage. In ders.: Gesammelte Philosophische Schriften hg. von Ulrich Hedtke und Camilla Warnke. Band 2: Zu philosophischen Fragen von Wirtschaft und Gesellschaft. Erscheint voraussichtlich Berlin 2022, zit. nach dem Fahnenausdruck S. 368 Fußn. 2). Siehe auch Gebhard Kirchgässner: Homo oeconomicus: Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Tübingen 1991; Laurenz Volkmann: Homo oeconomicus: Studien zur Modellierung eines neuen Menschenbilds in der englischen Literatur vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert. Heidelberg 2003.)
Es wären noch weitere Einwände gegen die von Herrn Jung vorgetragenen Vorstellungen vorzubringen, aber das erspare ich mir hier.