Das wird ein Supersommer

„Ich ziehe heute ein Kleid an“, trällert Judith, und von da an weiß ich, dass es jetzt Sommer wird. Im Winter trägt meine Frau durchgehend fellgefütterte Stiefel, die aussehen, als hätte sie das Töchterchen mit Kreide gemalt: ein schlichtes, dunkelgraues „L“ ohne Schnick und Schnack, aber mit abgelaufenen Hacken. Dazu wickelt sie einen schwarzen Schal um den Hals, und so geht das von Oktober bis März. Manchmal denke ich, ich bin schon tot, weil sie in Witwentracht geht. Und manchmal reicht es auch in den April hinein.
Aber jetzt ist Schluss damit. Das Gras an unserem Badesee ist zwar noch niedergedrückt und braun. An den Zweigen sind die Knospen noch fast nicht zu sehen. Der Spargel im Laden stammt von der anderen Seite der Welt. Heute Abend werde ich noch eine Holzpalette spalten, was in den Tiefen der Großstadt eine erprobte Methode ist, um billig an etwas zum Brennen für den Kamin zu kommen.
Die Luft ist schon an Blumen vorbeigestreift
Aber in unseren Adern und Muskeln rauscht das Blut. Die Luft, die wir einsaugen, ist schon an Blumen vorbeigestreift und hat ihren Duft mitgenommen. Für ein paar Tage war sie der Rosen Zeitgenosse. Wir „atmen, was um ihre aufgeblühten Seelen schwebt“, schreibt Rilke, der der romantischste Dichter aller Verliebten ist. Und ich stelle mir vor, wie ich mich auf einer Blumenwiese räkele, seinen Gedichtband in der Hand, während Judith im Kleid um mich herumträllert.
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Wir werden in diesem Sommer den Zitronenbaum pflegen, den Rosmarin ernten und die Schaukel ölen. Wir werden keuchend den Berg erklimmen, schweißnass ins Wasser fallen und uns den Rücken mit Öl einreiben. Es wird im Auto nach nasser Hündin und feuchten Handtüchern riechen, wir werden die Grillen zirpen und den Grill zischen hören.
Wir werden Nächte zu Tagen machen
Wir werden auf den noch sonnenwarmen Stufen vor der Küche eine eiskalte Flasche öffnen, beim zwölften Schlag der alten Turmuhr in den schwarzen Himmel schauen und die Sterne zählen. Wir werden Nächte zu Tagen machen, ohne Bettdecke schlafen und keine Strümpfe mehr tragen. Wir werden Freunden zuhören und Geschichten vom pochenden Leben erzählen.
„Ein bisschen besser wäre“, sagt Judith, „du gehst auf dem Weg ins Büro noch bei der Reinigung vorbei.“ Sie reicht mir den Beutel mit Kleidern zum Waschen. Prall gefüllt, wie er ist, weiß ich genau: Das wird ein Supersommer.
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