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Kolumne „Mild bis rauchig“

Bergfest

Zunächst ein kleiner Bildungscheck, den ich bis zum Ende zu lesen empfehle. Ehemalige katholische Kommunionkinder können sich dabei vergewissern, was sie möglicherweise längst vergessen haben oder was man ihnen im Mal- und Bastel-Religionsunterricht an katholischen Kernwahrheiten in der Absicht, sie zu schonen, vorenthalten hat. Nichtkatholiken können durch den kleinen Ausflug in den Katechismus etwas dazulernen und ihre Vorurteile möglicherweise korrigieren. Am Ende wird sich herausstellen, weshalb ich diese Unterweisung für sinnvoll halte.

Nun also die Prüfungsfrage: Was ist ein Requiem? Abgesehen davon, dass der Begriff sich vorwiegend in musikalischen Kontexten erhalten hat, ist er doch ein wichtiger Bestandteil der katholischen Liturgie. Das Wort „Requiem“ – von „Requies“, Ruhe – bildet den Anfang des wiederum als Beginn fungierenden Eröffungsgesanges der Totenmesse, des Introitus. „Requiem aeternam dona eis, Domine: et lux perpetua luceat eis“ – „Ewige Ruhe gib ihnen, Herr, und ewiges Licht leuchte ihnen“.

Damit hebt eine Handlung an, die sich zwar in der Zeit bewegt, die aber dennoch eine überzeitliche Wirklichkeit vergegenwärtigen will. Die katholische Glaubensvorstellung sagt: Wenn jemand gestorben ist, ist er nicht verschwunden, sondern lebt im Jenseits weiter. Wie es ihm dann geht, wissen wir nicht, aber es gibt Anlass zur Hoffnung, dass es ein ewiges Leben in Vollendung und Glück gibt, und zwar für diejenigen, die Gott in seinem Gericht dazu für würdig befindet. Zugleich gibt es die Sorge, dass die menschlichen Möglichkeiten zu Lebzeiten nicht ausgeschöpft wurden und deswegen die Sünden, die ein Mensch in seinem Leben auf sich geladen und die er reuelos bei seinem Sterben mit in die Ewigkeit genommen hat, ihm zu Gericht und Verdammnis werden.

Der Ort der „Armen Seelen“

Weil aber Menschen nie ganz schwarz oder weiß sind, sondern in sich stets einem Kampf zwischen guten Absichten und schädlicher Schwäche ausgeliefert sind, ist ihnen von Gott Barmherzigkeit zugesagt für den Fall, dass sie nicht fataler Autonomiesucht erliegen und ohne Reue bleiben, wenn sie über die Schwelle des Lebens in den Tod schreiten.

Für alle, die sich bewusst sind, dass sie nicht der liebe Gott sind und deswegen ihn, der sie aus Liebe gemacht hat, brauchen, steht die Aussicht im Raum, dass ihnen eine Läuterung helfen kann, das zu sühnen, was sie aus freien Stücken falsch gemacht haben. Dies nennt man „Fegefeuer“, und es hat auch tatsächlich etwas mit Fegen zu tun, oder anders ausgedrückt, mit Reinigung. Das Purgatorium – so der lateinische Begriff –, der „Ort“ der Reinigung ist ein Zwischenzustand, der die Seele des Verstorbenen zu einer beseligenden Anschauung Gottes im Himmel zurüsten soll.

Und jetzt kommt das Requiem ins Spiel. Denn nach katholischer Lehre können die Christen im Diesseits für ihre Brüder und Schwestern im Jenseits etwas tun. Sie können für sie beten und damit dazu beitragen, dass sie den Ort der Reinigung, das Fegefeuer, schneller verlassen, als es ohne die Zuwendung ihrer noch auf dem irdischen Pilgerweg befindlichen Angehörigen und Freunde der Fall wäre. Natürlich kann man in der Ewigkeit nicht mehr mit zeitlichen Kategorien arbeiten, aber wir Menschen denken nun mal so.

Das Requiem als Hilfe in den Himmel

Das Fegefeuer ist zugleich der Ort der Sehnsucht. Die „Armen Seelen“, wie man sie nennt, sind in Unruhe und brennendem Verlangen, das noch nicht gestillt ist. Sie wollen Gott sehen und glücklich sein, aber sie können es noch nicht. Hier hilft das Requiem. Denn als Totenliturgie – besser als heilige Messe für einen Verstorbenen – ist das Requiem wirksam zur Milderung und Verkürzung des Läuterungsschmerzes der Armen Seelen im Fegefeuer.

Denn die Messe – das ist unter anderem auch eine mittlerweile dank ihrer stiefmütterlichen Behandlung in den handelsüblichen Sonntagspredigten eher vergessene katholische Glaubenswahrheit – entfaltet ihre Wirkungen als unsichtbare, aber reale Vergegenwärtigung des Kreuzestodes Jesu Christi nicht nur für diejenigen, die sichtbar in der Kirche am Altar feiern, sondern auch für diejenigen, die bereits den Kreis der Lebenden verlassen haben.

Die Totenmesse kann also den Verstorbenen Ruhe schenken inmitten ihrer fegefeuerlichen Sehnsucht nach einem Ende der Läuterung, in der sie für sich selbst nichts mehr tun können. Und deswegen wird die Messe für die Verstorbenen, die man nicht nur am Tag der Beisetzung, sondern jederzeit feiern kann, mit der Bitte um „Ewigen Frieden“ eingeläutet: „Requiem aeternam dona eis, Domine“ – Herr, schenke ihnen ewige Erholung und Ruhe nach dem Stress des irdischen Lebens und der Sehnsucht des Fegefeuers!

Keine Trauerfeier!

Ein Requiem, wie man die Totenmesse wegen ihrer ersten gesprochenen oder gesungenen Worte nennt, ist also keine Trauerfeier, sondern ein Akt der Zuwendung für zwar in dieser Welt nicht mehr lebende, aber dennoch nicht wirklich tote Menschen. Die Liturgie bittet um Erfüllung dessen, was Gott allen verheißt, die mit Glauben und Vertrauen in die Ewigkeit gegangen sind. Man trauert nicht über das Ende des irdischen Lebens, sondern wendet den Blick durchaus positiv, wenn auch respektvoll ob der Gerechtigkeit Gottes, in die Zukunft der Verstorbenen im Reich des Friedens.

Deswegen geht es beim Requiem nie in erster Linie um den Verlust und die Tröstung der Hinterbliebenen, sondern um die Aussicht für diejenigen, die gegangen sind. Ihnen gilt der Kult in der Hoffnung, auf dass er ihnen helfen möge. Unnötig zu sagen, dass nur für Menschen ein Requiem gefeiert werden kann, weil Menschen – im Gegensatz zur Lieblingskatze – ausgestattet sind mit Verstand und Wille und einer unsterblichen Seele. Nur Menschen können wegen ihrer Freiheit, durch Verstand und Wille auf Abwege zu geraten, nach ihrem Tod ein Problem haben.

Soweit die kleine Katechese, von der ich hoffe, dass der geneigte Leser nicht ausgestiegen ist, bevor ich jetzt die Frage beantworten will, weshalb ich mitten im Hochsommer, wo die Blätter noch auf den Bäumen sind, ein solch frostiges Novemberthema angehe, das eher auf entlaubte Friedhöfe passt. Die Frage ist schnell beantwortet. Denn man konnte im Kontext der bisherigen Ausführungen am vergangenen Dienstag Zeuge einer grandiosen Begriffsverwirrung werden, als es im Süden des Landes ein „Requiem“ für einen bemerkenswerten Verstorbenen gab, der kein Mensch war, sondern – ein Berg.

Requiem für einen Gletscher

Der südliche Schneeferner, einer der Gletscher der Zugspitze, ist nicht mehr. Er ist abgeschmolzen und den mörderischen Attacken des Klimawandels erlegen, so wurde es kommuniziert. Erderwärmung und Saharastaub haben ihn verflüssigt. Die sensibilisierte Öffentlichkeit wurde daraufhin mit jener Trauerarbeit begleitet, wie sie derzeit in den beiden großen Kirchen gerne praktiziert wird. Das „ökumenische Requiem“, wie man die Metapher für das zeitgeistliche Geschehen nannte, beklagte den Verlust dessen, was böse Menschenmächte an der guten Natur angerichtet hätten – und trauerte um den Gletscher.

Nachdem man in diesem Fall den Verstorbenen schlecht „unter die Erde bringen“ konnte, wurde er dennoch evangelisch bebetet und katholisch mit Weihwasser und Weihrauch ausgesegnet. Eine für klarsichtig denkende und glaubende Christen beider Konfessionen groteske Posse, die wiederum eines offenbarte: Die Kirchen haben nicht nur den Glauben verloren, sondern ganz offensichtlich auch den Verstand. Denn wie anders als dümmlich soll man es bezeichnen, wenn die Vertreter einer Religion, die wie keine andere Diesseits und Jenseits zum Heil der Menschen miteinander verbindet, sich – in diesem Fall allerdings nur mental – an dieser Erde festkleben.

Hoffnung in die Politik statt in Gott

Die Hilflosigkeit, die man mit dem Gletscherrequiem erkennen ließ, dokumentiert den Zustand der christlichen Religion in unserem Land. Der jahrzehntelange Verlust der Verkündigung zugunsten einer orientierungslosen Lamentation über die Tatsache, dass aus dieser Erde kein Himmel gemacht werden kann, produziert derlei Ausgeburten glaubensschwacher Kirchenbeamter. Nicht Gottvertrauen auf ein ewiges Glück und die Mühe, es zu erreichen ist ihre Sorge, sondern die Unfähigkeit, dieser Welt Unsterblichkeit zu verleihen. Der mitwirkende katholische Pastoralreferent sieht folglich nur die eine Hoffnung: „… die Menschen zusammenzubringen und gemeinsam die nötigen Schritte einzuleiten, in der Wirtschaft, in der Politik und im individuellen Verhalten ...“

Wie tröstlich! Es gibt eine Hoffnung auf die Politik! Sie wird es am Ende richten und mit Hilfe der Kirchensteuer-Klima-Kirche das Bewusstsein erweitern. Und das wird den Menschen retten aus der Sorge um den Verlust seines vollkaskoversicherten Lebens. Weiter kann die Entfernung dieser Profanreligion zu dem, was sich in einem katholischen Requiem an Glaube und Hoffnung ausspricht, nicht sein. Denn dort wird die Zuversicht gefeiert, dass der Mensch eine Heimat hat, die ihm nicht genommen werden kann. Sie liegt nicht in dieser Welt, ist aber dennoch in ihr gegenwärtig.

Ich werde den Eindruck nicht los, dass nicht nur der Schneeferner seine Glanzzeit hinter sich hat, sondern auch die Kirche längst ihr Bergfest feiern konnte, was den Glauben ihrer Mitglieder betrifft, und von der Höhe gottvoller Theologie und Frömmigkeit hinab ins Tal marschiert. Denn geschmolzen sind die wahren Hoffnungen und zu Hilflosigkeit zerfallen. Herr, gib ihnen die ewige Ruhe!

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