Was der Fall Aiwanger über die Politik- und Medienlandschaft verrät
Es gibt ein paar Punkte in der aktuellen Causa Hubert Aiwanger (Freie Wähler), die sind klar. Erstens: Das vor 35 Jahren in der Schultasche des heutigen stellvertretenden bayerischen Ministerpräsidenten entdeckte Pamphlet ist „ekelhaft und menschenverachtend“ (Aiwanger gegenüber dem Spiegel).
Zweitens: Die Süddeutsche Zeitung (SZ), die den Staub aufgewirbelt hat, zählt nicht zum Fanclub Aiwangers – im Gegenteil. Das kann man auch an deren Artikeln sehen, in denen die Frage nach der Urheberschaft des Holocaust-verharmlosenden Flugblatts als nebensächliches Detail abgetan wurde, obwohl es dieselbe Zeitung im ersten Beitrag noch für hochrelevant befand. „Das ist PR, kein Journalismus“, kommentierte dazu der des konservativen Wut-Bürgertums unverdächtige Medienjournalist Stefan Niggemeier.
„Staub“ übrigens deshalb, weil es sich um ein Schriftstück aus dem Schuljahr 1987/88 handelt, der Pennäler Aiwanger war damals 17 Jahre alt. Und: Die Welt hat aufgedeckt, dass ein Reporter schon 2018 besagtes Pamphlet zu Gesicht bekommen hat, es aber trotz des erwähnten Zusammenhangs mit Aiwanger nicht für wichtig genug gehalten hat, um darüber zu berichten.
Drittens: Aiwanger und sein Team haben sich kommunikationstechnisch völlig amateurhaft bis erstaunlich dämlich verhalten. Auf die Anfrage der SZ reagierte der Politiker zunächst mit Lügen und Drohungen. Anschließend bestritt er die Vorwürfe, die er dann teilweise und peu à peu zugeben musste und zum Getriebenen der Journalisten wurde. Es wäre besser gewesen, in die Offensive zu gehen, sein Fehlverhalten mit 17 (!) Jahren zuzugeben und die Attacken linker Medien und Politiker à la Donald Trump im Wahlkampf zu nutzen. Die Wähler hätten es verstanden, weil die meisten Menschen in ihrer Jugend saudumme Dinge äußern.
Drei Fragen, die weit über die Flugblatt-Affäre hinausgehen
Es gibt aber auch ein paar Punkte, die den Fall – stellvertretend für die Politikszene und die Debattenkultur – betreffen und Fragen aufwerfen. Erstens: Warum fühlt sich ein betagter Lehrer dazu bemüßigt, nach einer Rede Aiwangers in Erding („Jetzt ist der Punkt erreicht, wo endlich die schweigende große Mehrheit dieses Landes sich die Demokratie wieder zurückholen muss“) seinen ehemaligen Schüler bei der Presse zu verpfeifen?
Liegt es vielleicht daran, dass es eine bestimmte Sorte Politiker, Medien- und Kulturschaffende gibt, die permanent ein neues 1933 herbeireden und manche Menschen deshalb tatsächlich Angst um die Demokratie im Deutschland des Jahres 2023 haben? Beginnt wieder eine skrupellose Phase der Denunziation, wie Hubertus Knabe unlängst im Corrigenda-Interview gewarnt hat?
Zweitens: Warum misst die mediale Öffentlichkeit derart mit zweierlei Maß? Es gibt viele Beispiele linker Politiker, die vor Jahren und Jahrzehnten radikale Aussagen getätigt und mitunter auch ebenso radikal gehandelt haben. Die SPD-Politikerin Sawsan Chebli hat erst vor wenigen Wochen zugegeben, in ihrer Jugend Hass auf Juden verspürt zu haben und oft wütend gewesen zu sein. Die Grüne-Jugend-Vorsitzende Sarah Lee Heinrich schrieb auf X (vormals Twitter) und damit potenziell sichtbar für hunderttausende Nutzer menschenverachtende Einträge, für die sie sich später entschuldigte.
Gegen den späteren Außenminister Joschka Fischer (Grüne) wurde nach der Teilnahme an einer verbotenen Demonstration, die in Gewalt gegen Polizisten eskalierte, unter anderem wegen versuchten Mordes ermittelt. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) war früher ebenfalls linksradikal. Die politischen Äußerungen, eine völlig verfehlte Satire oder Provokation eines minderjährigen Schülers, sollten ihm Jahrzehnte später nicht mehr zum Verhängnis werden.
Klug handelte besonders ein Politiker
Drittens: Wie kann eine wenn auch schwere, so doch immer noch pubertäre, über 30 Jahre zurückliegende Sünde eines Regionalpolitikers in der jetzigen Lage außerhalb Bayerns überhaupt eine solche Wucht entfalten? So, als gäbe es keine anderen, schwerwiegenden und drohenden irreversiblen Entwicklungen, als da wären: der wirtschaftliche Niedergang Deutschlands, die demographischen Verschiebungen, der dysfunktionale und wohlfahrtsverwahrloste Staat, die mangelnde Verteidigungsfähigkeit oder die Identitäts- und Ambitionslosigkeit des Landes.
Eine mögliche Erklärung dafür könnte der antisemitische Sound des Pamphlets sein. Bei Judenfeindlichkeit oder Holocaustverharmlosung ist Deutschland zu Recht hochsensibel – wobei hierbei mitunter auffällig mit zweierlei Maß gemessen wird, wenn die Urheber klar antisemitischer Äußerungen beispielsweise Moslems sind. Doch will man einem 17-Jährigen wirklich unterstellen, die ganze Tragweite des Geschriebenen verstanden zu haben?
Politisch klug und besonnen gehandelt hat in der Flugblatt-Affäre bislang Bayerns Ministerpräsident Markus Söder. Das merkt man auch daran, dass linke Journalisten ihm nun Zögern und Lavieren vorwerfen. Zum einen setzt der fränkische Machiavelli mit seinen 25 an Aiwanger gerichteten Fragen seinen Vize unter Druck und gewinnt Zeit. Jetzt ist der Freie-Wähler-Chef wieder am Zug. Zum anderen hat er auch die feuchten Träume jener linken Zeitgenossen platzen lassen, die aus Bayern – dem nicht-linken und deshalb letzten funktionierenden Bundesland – ein mit reichlich Steuergeldern gesegnetes Paradies für ihre utopistische Gesellschaftsverformung machen wollten.
Was das weitere Vorgehen Söders über dessen Ambitionen verrät
Das weitere Vorgehen Söders könnte nun zeigen, welche Ambitionen er hat. Lässt er Aiwanger doch noch fallen, wäre das wahrscheinlich ein Zeichen für den Griff nach dem Kanzleramt. Denn bundesweit spielen die Freien Wähler keine Rolle. Und will die Union nicht in eine erneute Stillstandskoalition mit der SPD eintreten, bleiben aufgrund ihrer Selbstbeschränkung nur die Grünen als Option übrig. Würde Söder Aiwanger schassen, hätte er bei den Grünen einen dicken Stein im Brett.
Hält der CSU-Chef aber an Aiwanger fest, könnte das ein Indiz dafür sein, dass er in Bayern bleibt. Denn die Bayern wollen keine linken Experimente, auch wenn Söder wie etwa in der Energiepolitik manches Mal schon hat aufblitzen lassen, dass er offen dafür wäre. SPD, Grüne und Linkspartei kommen laut aktuellen Umfragen im Freistaat zusammen nicht einmal auf 30 Prozent der Stimmen. Weil die AfD auch in Bayern als Koalitionspartner ausfällt, sind die Freien Wähler auch nach der Landtagswahl in knapp sechs Wochen der einzig mögliche Koalitionspartner.
Egal auf welcher Ebene man Aiwangers Flugblatt-Affäre betrachtet: Sie ist ein Lehrbeispiel dafür, wie die deutsche polit-mediale Öffentlichkeit funktioniert – und was dabei falsch läuft.
Menschenverachtend ja, große Dummheit ja - aber nicht antisemitisch! Hätte der Autor des Flugblattes den Lehrern z.B. gewünscht in Hiroshima zum Zeitpunkt des Atombombenabwurfs zu sein (genauso menschenverachtend und absurd), käme niemand auf die Idee, dass es anti-japanisch wäre!
Das bayerische Beamtengesetz sieht vor, daß ein bayerischer Beamter in dienstlichen Obliegenheiten Verschwiegenheit zu wahren hat - auch nach Beendigung des aktiven Diensverhältnisses.
JEIN, denn Markus Söder handelt an keiner Stelle "politisch klug und besonnen", es sind nicht nur Linke, die ihm nun "Zögern und Lavieren vorwerfen", wir auch. Außer der NZZ beschreibt kein MMM die Schmierenkomödie der SZ, im deutschen ÖR wird die "Affäre Aiwanger" genüsslich breitgetreten, der DLF z.B. holte als geeignete Kommentatorin die bayerische Grüne Katharina Schulze ins Studio. Die Frage, ob Lehrer dienstliche Begebenheiten öffentlich machen dürfen, wäre eigentlich gerichtlich zu klären. Denunziation nennt man das, Hubertus Knabe hat es hinter sich.
Menschenverachtend ja, große Dummheit ja - aber nicht antisemitisch! Hätte der Autor des Flugblattes den Lehrern z.B. gewünscht in Hiroshima zum Zeitpunkt des Atombombenabwurfs zu sein (genauso menschenverachtend und absurd), käme niemand auf die Idee, dass es anti-japanisch wäre!
Das bayerische Beamtengesetz sieht vor, daß ein bayerischer Beamter in dienstlichen Obliegenheiten Verschwiegenheit zu wahren hat - auch nach Beendigung des aktiven Diensverhältnisses.
JEIN, denn Markus Söder handelt an keiner Stelle "politisch klug und besonnen", es sind nicht nur Linke, die ihm nun "Zögern und Lavieren vorwerfen", wir auch. Außer der NZZ beschreibt kein MMM die Schmierenkomödie der SZ, im deutschen ÖR wird die "Affäre Aiwanger" genüsslich breitgetreten, der DLF z.B. holte als geeignete Kommentatorin die bayerische Grüne Katharina Schulze ins Studio. Die Frage, ob Lehrer dienstliche Begebenheiten öffentlich machen dürfen, wäre eigentlich gerichtlich zu klären. Denunziation nennt man das, Hubertus Knabe hat es hinter sich.