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Kolumne „Der Schweizer Blick“

In schlechter Verfassung

Albert Knobel ist 72 Jahre alt und war einst ein erfolgreicher Radrennfahrer. Im Jahr 2020 wurde er unvermittelt zum politischen Aktivisten. Wann immer Menschen gegen die Coronamaßnahmen auf die Straße gingen, war Knobel dabei. Stets hatte er die gedruckte Version der Schweizer Verfassung dabei.

Er wollte keine Revolution anzetteln, er plante keine Neuordnung. Er wollte ganz einfach, dass die Verfassung, die ihm heilig ist, eingehalten wird. Mehr als einmal wurde der freundliche ältere Herr abgeführt. Nur, weil er sich wünschte, dass der Staat seine höchste Leitlinie würdigt und sie nicht einfach aushebelt, wenn ihm danach ist.

Der Mann ist in kritischen Kreisen eine Legende. Er kennt die Verfassung mit Sicherheit besser als jeder Politiker. Aber im Unterschied zu diesen nimmt er sie wörtlich und legt sie nicht je nach gerade gewünschten Maßnahmen kreativ aus. Es gibt keinen Zweifel, dass die Verfassung des Bundesstaats Schweiz seit 2020 mehrfach verletzt wurde durch die Coronamaßnahmen. Es hat nur keinen interessiert. Außer eben Albert Knobel.

Und nun soll der 175. Geburtstag dieser Verfassung feierlich begangen werden. Bundesräte schwärmen seit Anfang des Jahres von dem nahezu zeitlosen Papier, das im Lauf der Geschichte nur zwei Mal im größeren Stil angepasst werden musste.

Begeisterung ist Heuchelei

Die zur Schau getragene Begeisterung ist ein purer Akt der Heuchelei. Es ist ein bisschen so, als würde man den runden Geburtstag des Opas groß feiern und ihm anerkennend zuprosten, nachdem man ihn das ganze Jahr mit Nichtbeachtung bestraft und nie besucht hat.

Die Schweizer Verfassung ist in der Tat ein Meisterwerk. Zumal sie inmitten von politischen Wirrungen und nach zahllosen internen Fehden kreiert werden musste. Aber inzwischen wird sie behandelt wie das Leitbild eines mittelständischen Fertigküchenherstellers, das am Kühlschrank der Kantine hängt. So nach dem Motto: Schön, dass sich mal jemand einige Gedanken gemacht hat, aber beachten muss man das Werk im Alltag ja nicht. Im Gegenteil, man kann es aktiv ignorieren, wenn es der Durchsetzung der gewünschten Politik im Weg steht.

Die Verfassung schützt zeitlose Werte

Natürlich würden weder die Landesregierung noch die meisten Parlamentarier je eingestehen, dass sie in den letzten drei Jahren munter über die Verfassung hinweggetrampelt sind. Sie behaupten gerne, dass vieles Auslegungssache sei und dass große Begriffe wie „Freiheit“ und „Grundrechte“ im aktuellen Kontext interpretiert werden müssen. Konkret: Wenn es gilt, Menschenleben zu schützen, muss die persönliche Freiheit eben hinten anstehen. Sachpolitik versus Überbau.

Das kann man so sehen. Dann sollte man sich aber das mit der Verfassung sparen. Ihr Sinn liegt ja gerade darin, große Linien zu ziehen, die man nicht mal schnell überschreiten kann, weil irgendwelche supranationalen Organisationen in Panik geraten. Genau vor solchen Fehlern soll uns dieses Fundament des Staates ja bewahren. Es vermittelt Stabilität und Verlässlichkeit in volatilen Zeiten. Es beschützt zeitlose Werte, die auch dann gewahrt werden müssen, wenn gerade alle am Rad drehen.

Soll die Verfassung feiern, wer will. Ihre Schöpfer pfeifen drauf, die sind längst tot. Ein viel größeres Anliegen wäre es ihnen vermutlich, dass wir uns an das halten, was sie einst geschaffen haben.

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