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„Berliner Blase“

Die Repräsentanten entfremden sich von den Repräsentierten

Es war die größte Blamage, die sich Kanzlerin a.D. Angela Merkel (CDU) in ihrer 16-jährigen Amtszeit geleistet hat: Am 21. März 2021 trat die vermeintlich mächtigste Frau der Welt vor die Presse, um die eben gemeinsam mit den Ministerpräsidenten der Länder beschlossene „Osterruhe“ wieder zurückzunehmen. Sie wisse „natürlich, dass dieser gesamte Vorgang zusätzliche Verunsicherung auslöst. Das bedauere ich zutiefst, und dafür bitte ich alle Bürgerinnen und Bürger um Verzeihung.“

 Um die erwartete Corona-Frühjahrswelle zu brechen, hatte man sich auf der Ministerpräsidentenkonferenz überlegt, das öffentliche Leben in ganz Deutschland über die Osterfeiertage knapp zwei Wochen lang in eine Art künstliches Koma zu versetzen. Alles sollte geschlossen bleiben, möglichst niemand die Wohnung verlassen (wozu auch, wenn alles geschlossen ist?). Lockdown total!

 Das Problem: Ganz gleich, welche Allmachtfantasien da mit der Kanzlerin und den Länderchefs durchgegangen waren, die Idee war so realitätsfern, dass sie sich schlicht nicht umsetzen ließ. Wer käme für die längst georderten und nun verderbenden Lebensmittel auf, die nicht mehr abverkauft oder ausgeschenkt werden könnten? Wer für den Verdienstausfall der Beschäftigten und die ausbleibenden Umsätze der Wirtschaft? Wer kann über Nacht die Verordnung über die Ladenöffnungszeiten ändern? Wer sichert die Ausnahmen für den nötigen Notbetrieb von Krankenhäusern, Wasserwerken, Tankstellen etc.?

Brutale Realität

Brutaler ist die Realität kaum je in die Berliner Politik-Blase eingebrochen, als im Falle der sogenannten Osterruhe. Sie ist lediglich ein besonders krasses Beispiel dafür, dass der Berliner Politikbetrieb über weite Strecken ein Eigenleben führt und sich vom Alltagsleben vieler Menschen im Lande entfernt. Als der jetzige Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Wahlkampf einräumen musste, die aktuellen Spritpreise nicht zu kennen, weil er meistens (auch aus Sicherheitsgründen) gefahren werde, lieferte er einen weiteren Hinweis darauf, dass die Klage über das politische Eigenleben nicht ganz aus der Luft gegriffen ist.

Inzwischen haben clevere Politiker gelernt, dass sie vor Talkshow-Auftritten sicherheitshalber gängige Milch- und Butterpreise lernen, um nicht bei mangelnder Volksnähe erwischt zu werden.

 Will man fair bleiben, dann muss man allerdings auch zugeben, dass es etwa aus Sicherheitsgründen durchaus sinnvoll sein kann, Spitzenpolitiker nicht mit dem eigenen Golf von Termin zu Termin fahren zu lassen. Auch die hohe Termin-Takt-Dichte die ich im Laufe der Jahre sowohl in Bundes- wie auch in Landesregierungen aus der Nähe beobachten konnte, lässt sich durch eine ausgefeilte Logistik von Fahrbereitschaften, vorbereiteten Protokoll-Abläufen und maximaler Zuarbeit besser, also effizienter bewältigen.

Man bemerkt sehr schnell, ob jemand einen Beruf gelernt hat

Hinzu kommt noch etwas anderes: Politik ist auf vielen Ebenen hoch spezialisiert, und es ist zum Nutzen aller, wenn sich Abgeordnete und Mandatsträger wie in jedem guten Unternehmen voll in die Materie (Gesundheit, Verteidigung, Finanzen etc.) einarbeiten, wobei der Alltag mitunter etwas zu kurz kommt. So viel zu Entschuldigung und zum Verständnis für einige Effekte, die zur „Berliner Blase“ führen.

 Es bleibt allerdings eine Gratwanderung. Ganz gleich, ob Abgeordnete, Minister oder Staatssekretäre, man bemerkt im direkten Umgang meist sehr schnell, ob jemand einen Beruf gelernt oder wenigstens ein paar Jahre „draußen im echten Leben“ gearbeitet hat. Da ist mehr Bodenhaftung, Vertrautheit mit Alltagsproblemen.

Der langjährige Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Rainer Haseloff (CDU), wie Merkel Physiker aus dem Osten, berichtete zuweilen, dass er die Kanzlerin mit Berichten über seine sechs Enkel und das Leben seiner Familie auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt habe. Über Haseloff selbst erzählte ein hoher CSU-Mann unlängst mit einem Hauch von Unverständnis und Verstörtheit, der Magdeburger falle in den Vorgesprächen der Unionsseite zum Bundessrat immer wieder damit auf, dass er „einfach sagt, was er denkt“.

„Entweder Säufer oder Hurenbock“

Wie in anderen Branchen auch, kreist der Berliner Politikbetrieb vor allem um sich selbst. Abgeordnete, die in Sitzungswochen meist in kleinen spartanischen Zweitwohnungen hausen, starten mit morgendlichen Sitzungen von Arbeitsgruppen, verschiedenen Fraktionsgremien, Ausschüssen, treffen sich mittags mit Experten oder Ministeriellen zum Austausch, haben nachmittags Plenum, Parteigremien oder Fraktionssitzung und abends Veranstaltungen mit Lobbyisten, Hintergrundkreise mit Journalisten oder Nachtsitzungen.

Abgeordnete befinden sich im Hamsterrad zwischen Sitzungen, Ausschüssen und Gremien. Am 23. November haben sie sich für die Generaldebatte des Deutschen Bundestags versammelt.

Alles mehr oder weniger freudlose Sitzungen, bei denen man darauf achten muss, nicht zu viel zu trinken oder bei jeder Keksmischung zuzugreifen, will man nicht aus dem Leim gehen. Der heutige Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) hatte sich lange dagegen gesträubt, in den Berliner Polit-Zirkus einzutreten, weil er andernfalls „entweder Säufer oder Hurenbock“ werde. Da ist leider etwas dran.

 Meist leiden die Familien stark unter der Vollzeit-Beschlagnahme durch die Politik, die ja auch im Wahlkreis weitergeht, will man als „Volksvertreter“ bei seinen Wählern am Ball bleiben. Wo Familien keine Bodenhaftung verleihen und alltägliche Verrichtungen zum Realitätskontakt zwingen, schmoren Politik und Politiker im eigenen Saft. Bei Parteien, wie den Grünen oder der FDP, die wenig Direktmandate erringen, entfällt zudem oft die Notwendigkeit, sich im Wahlkreis bei den Leuten blicken zu lassen, weil man über die Landeslisten mehr oder weniger fest in den Bundestag einzieht.

Logik des eigenen Establishments statt Sorgen der Bürger

Wie „repräsentativ“ aber kann die repräsentative Demokratie sein, wenn sich die Volksvertreter von jenen entfernen, die sie vertreten sollen? Denn auch die karrieredienliche Fixierung auf die programmatische Linie der eigenen Partei führt dazu, dass die nächste Aufstellung als Kandidat eher mit Anpassung an die Logik des eigenen Establishments zu bewerkstelligen ist, als mit dem Eintragen der Unzufriedenheit der Menschen draußen.

 Um nicht falsch verstanden zu werden: Es gibt eine ganze Reihe von Effekten, die Volksferne von Politikern im Amt begünstigen, aber längst nicht alle erliegen diesen. Wie mehr Volksnähe und Akzeptanz für aktive Politik institutionell herbeigeführt oder befördert werden kann, darüber zerbrechen sich Strategen seit langem die Köpfe.

 Ein vermeintliches Patentrezept, das derzeit sehr en vogue ist, sind sogenannte Bürgerräte, in denen „einfache Bürger“ sich zu thematischen Beratungsrunden zusammenfinden und der etablierten Politik gewissermaßen von unten Volkes Wille zurufen sollen. Klingt verlockend, ist im Detail allerdings eher eine Aushebelung von Demokratie statt eine Hilfe. Der Grund ist einfach: Zum einen geschieht in der Politik nichts ohne taktisches Kalkül. Deshalb träumen vor allem kleine Parteien davon, die Auswahl solcher Bürgerräte möglichst so zu steuern, dass am Ende die richtigen Meinungen rauskommen.

Bürgerräte und andere Nebenparlamente hebeln die Demokratie aus

Mit anderen Worten: Es soll nicht per Wahl entlang der klassischen Parteien geschehen. Gedacht ist an ein Los-Verfahren, dessen „Gewinner“ allerdings hinterher noch einmal von einer Jury ausgewählt werden sollen. Da hört der kundige Thebaner die Nachtigall bereits trapsen: Wer sonst keine Mehrheit bei Wahlen bekommt, wählt sich genehme Bürgerräte aus.

 Aber auch sonst ist die Idee von „Nebenparlamenten“ ohne demokratische Wahl schwierig. Kommen Bürgerräte zu Voten, die denjenigen in den demokratischen Wahl-Gremien (Stadträte, Landtagen, Bundestag) widersprechen, so entfalten sie auch ohne demokratische Legitimierung einen öffentlichen Druck als vermeintlicher Volkswille. Politische Verantwortung kann aber nicht geteilt werden. Übernimmt die Politik das angebliche Bürgervotum, ist am Ende trotzdem der gewählte Abgeordnete politisch verantwortlich und kann dafür abgewählt werden, nicht die Debattierrunde der Bürger.

 Wie man es dreht und wendet: Die Politik wird gerade in Zeiten des Internets lernen müssen, intensiver mit den Menschen zu kommunizieren, damit diese nicht in Scharen in verfestigte Milieus im Netz abwandern mit eigenen Informationen, eigenen „Wahrheiten“ und einer weitgehenden Unerreichbarkeit für die etablierte Politik. 

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