Die Grenzen Europas: verzweifelt gesucht
Wer einige Zeit in Ungarn oder in anderen mitteleuropäischen Staaten wie der Slowakei, in Tschechien und Polen verbringt, staunt über das Straßenbild. Hinter der Oberfläche der öffentlichen Ordnung verbirgt sich eine unterschiedliche Migrations- und Grenzpolitik und dahinter ein unterschiedliches Politikverständnis als das in Westeuropa.
Die Spaltung zwischen West- und Mitteleuropa verläuft nicht zuletzt entlang der Frage nach den kulturellen und physischen Grenzen Europas. Nicht nur die offenen Grenzen, sondern auch die Auflösung der Geschlechter in der Regenbogenideologie gelten in Polen oder Ungarn als dekadente Selbstauflösung von Kultur. Das ungarische und polnische Beharren auf physischen und kulturellen Grenzen gilt den Aufgewachten im Westen wiederum als rechts, autoritär und nationalistisch.
Es ist spezifisch westlich, Grenzen überwinden zu wollen, dies galt in deren Überschreitung nach außen, danach umgekehrt in der fast bedingungslosen Offenheit gegenüber allen fremden Einflüssen. Heute sind wir wieder einen Schritt weiter und wollen auch noch die Grenzen zwischen den Geschlechtern überwinden und damit vom Geschöpf zum Selbstschöpfer werden. Darüber sind die wichtigsten Grenzen überhaupt in Vergessenheit geraten: die Grenzen des Möglichen und damit auch der Sinn für das Sinnhafte und Notwendige.
Die entgrenzte Europäische Union
Es ist zunächst verblüffend, wie Kapitalinteressen und die – früher meist antikapitalistischen – humanitären Motive im Paradigma der Entgrenzung zueinandergefunden haben. Doch Weltoffenheit und Globalität gelten in beiden Fällen als wichtiger als der Nationalstaat; das Weltklima und offene Grenzen sind wichtiger als die Interessen der eigenen Bevölkerung oder die Bewahrung der eigenen Kultur.
Diese neue Ideologie des „Globalismus“ (Quinn Slobodian) steht jenseits von ehemals rechten oder linken Positionen und provoziert sowohl in anderen Kulturen als auch bei den überforderten Teilen der Bevölkerung im Westen Kulturalismus und Nationalismus. Sofern diese sich radikalisieren, droht dies umgekehrt die Handlungsräume auf eine Weise zu verengen, welche die Wohlstandsdynamik der Globalisierung einschränken würde. Der Brexit sollte uns eine Warnung sein.
Die Missachtung der Grenzen des Westens trug zu den Interventionskriegen der USA im Nahen Osten bei. Die Folgen ihrer Destabilisierungen der Levante sind durch die Flüchtlingsströme auf ein Europa zurückgefallen, dessen Grenzen nicht geschützt sind und das sich unterdessen selbst gewaltsamen Unruhen und islamistischen Einflüssen ausgesetzt sieht.
Globalisten halten Grenzen für die „dümmste Erfindung, die Politiker je gemacht haben“ (Jean-Claude Juncker). Europas Eliten sind stolz darauf, dass die Europäische Union sich weder kulturell noch physisch von anderen Kulturen abgrenzt. Neben ihren auch durchweg erfolglosen Interventionen von Afghanistan bis Mali führt dies umgekehrt zu einer fremdkulturellen Zuwanderung mit leider absehbaren Folgen.
Die Ukraine in die Falle gelockt
Auch eine wesentliche Ursache des Ukrainekrieges liegt darin, dass die kulturellen und politischen Grenzen zwischen dem Westen und der russischen Einflusssphäre ungeklärt waren. Die Ukraine wurde mit Offerten von EU und vor allem der NATO von der russischen Einflusssphäre weggelockt, galt aber andererseits noch nicht als hinreichend europäisch beziehungsweise atlantisch, um sie umgehend aufzunehmen und ihr volle Schutzgarantien zu gewähren. Sie wurde durch die westliche Mischung aus Idealismus und Imperialismus in die Falle gelockt.
Unklarheit herrscht heute immer noch hinsichtlich des Balkans, dessen Kleinstaaten sich in jahrzehntelangen Warteschleifen zur EU befinden und sich nach anderen Schutzherren und Einflusszonen umzusehen beginnen. Die Mitgliedschaft dieser wenig leistungsfähigen und kulturell zerklüfteten Staatenwelt wird die EU nur dann nicht überfordern, wenn diese zuvor auf ihren Zentralismus verzichtet und sich auf wenige Kernaufgaben beschränkt: vor allem auf den Binnenmarkt und auf eine gemeinsame Sicherung der Grenzen.
Zuwanderung als Selbstaufgabe
Europas Politik der offenen Grenzen kann nicht einmal eine humanitäre Dimension für sich beanspruchen. Im Mittelmeer sind in den vergangenen zehn Jahren mehr als 20.000 Menschen auf der Flucht gestorben. Europa habe – so Ruud Koopmans – das tödlichste Migrationssystem der Welt.
Statt einer Einwanderung in den Arbeitsmarkt, die Europa braucht, wandert die Mehrzahl der Zuwanderer in die Sozialsysteme ein. In den USA, Kanada und Australien stärkt dagegen die gelenkte Einwanderung aus Ostasien den Arbeitsmarkt. Demgegenüber erweisen sich die meist muslimischen Zuwanderer sowohl an die postindustrielle Wissensökonomie wie auch an die postmoderne Kultur der Europäer als kaum anschlussfähig.
Ihre religiös geprägte Werteordnung steht in einem Spannungsverhältnis sowohl zur christlich-aufklärerischen Kultur als auch zum relativistisch-postmodernen Kulturverständnis der Europäer. Mit beiden ist der Islam inkompatibel, was im zweiten Fall durchaus als Kompliment verstanden werden kann, aber schwere Spannungen gerade mit den ihn hofierenden Idealisten der Weltoffenheit heraufbeschwört.
Es fehlt weder an Mitteln noch an Gesetzen, sondern am Willen
Ungarn und Polen oder auch Australien beweisen, dass es sehr wohl Mittel gibt, die eigenen Grenzen vor illegaler Migration zu schützen. Sie lägen darin, alle Anträge von Personen, die Asyl in Europa wollen, bereits außerhalb, etwa an den bis zu 27 EU-Botschaften, zu bearbeiten. Wer dennoch illegal über das Meer kommt, wird umgehend an seinen Ausgangsort zurückgeführt, wenn nötig – wie in Australien – mit Hilfe der Marine.
Es fehlt weder an Mitteln noch an Gesetzen, sondern am Willen und an der Konsequenz, die eigenen Grenzen zu achten und zu schützen. In Deutschland hätte schon die Beachtung von Art. 16a Grundgesetz – wonach kein Asyl für Zuwanderer aus sicheren Drittstaaten gewährt wird – zur rechtlichen Unterbindung aller Grenzübertritte von Asylbewerbern aus allen Nachbarländern gereicht. Es fehlt auch nicht an Mitteln, die Ausgangsländer zur Rücknahme zu bewegen. Die EU und ihre Staaten stellen 66 Prozent der Weltentwicklungshilfe, und sie könnten ihre Hilfe an die Bedingung der Wiederaufnahme ihrer Bürger binden.
Je länger die EU in dieser Schicksalsfrage versagt, desto mehr löst sich der Zusammenhalt der Union auf. Auch der jüngste Kompromiss zur Asylpolitik ist ein verspäteter und unzureichender Versuch, das Problem einzugrenzen. Er erfasst nur einen kleinen Teil der Flüchtlinge und stellt mit der geplanten Verteilung der Migranten weiterhin einen Pull-Faktor dar.
Immer mehr Nationalstaaten gehen eigene Wege
Immer mehr Nationalstaaten gehen eigene Wege. Wenn die Union auch noch die Handlungsfähigkeit der Nationalstaaten behindert, ist sie weniger als die Summe ihrer Teile. In ihrer Kritik an Griechenland, welches illegale Migration konsequent bekämpft, zeigte die Frontex-Agentur ihr eigentliches Gesicht. Sie ist weniger eine Grenzschutzagentur als eine Agentur zur Kontrolle von Grenzschützern, eine Grenzschutz-Kontroll-Agentur.
Je mehr die Nationalstaaten sich die Hoheit über ihre Grenzen zurückholen, desto besser wird darüber Europa indirekt mitgeschützt. Aber umso mehr werden sich die Migranten an die weiterhin ungeschützten Staaten wenden. Deutschland ist auch auf diesem Gebiet dabei, sich aus lauter Globalismus zum nationalen Schlusslicht zu entwickeln.
Beim Aufkommen protektionistischer Bewegungen in nahezu jedem europäischen Land handelt es sich um eine selbstverständliche dialektische Reaktion auf die demonstrative Verneinung von schützenden Grenzen.
Die Weltoffenheit ruiniert die offenen Diskurse der offenen Gesellschaft
Die fehlenden Grenzen nach außen führen zu Spannungen zwischen vielen Staaten Europas und zudem innerhalb der Gesellschaften. Die Warner vor einer illegalen Migration werden seit langem aus dem Diskurs ausgegrenzt, so dass ausgerechnet die Weltoffenheit die offenen Diskurse der offenen Gesellschaft ruiniert. Mit den offenen Debatten gehen auch die Chancen auf differenzierte Wege wie etwa moderate Grenzkontrollen dahin.
Von „Interkulturalität“, lange Jahre das Lieblingsprojekt aller Gutwilligen, hören wir nichts mehr. Stattdessen wurde Multikulturalität ausgerufen, die sich mit einem bloßen Nebeneinander des Verschiedenen begnügt. Wenn auch diese scheitert, ist es um den inneren Frieden geschehen.
Doch selbst darüber ist noch kein Einlenken der Globalisten zu erwarten, denn nach ihrer Sicht ist die kulturelle Unsensibilität etwa der Lehrer und Polizisten Verursacher der Misere. Sogar Kriminelle gelten ihnen als Opfer, denen keine Selbstverantwortung zugemutet werden kann. Damit wird auch die eigene Verantwortung an der missglückten Migrations- und Integrationspolitik geleugnet.
Besser gegen die Ursachen der Angst kämpfen
In Zukunft sollte der „Kampf gegen rechts“ in einen Kampf gegen die Ursachen dessen übergehen, was immer mehr Bürgern Angst macht. Das Bedürfnis nach mehr Schutz und Umgrenzung drängt in den Wahlen vor; zum Beispiel schränken dänische Sozialdemokraten das Asylrecht ein, um den Sozialstaat zu bewahren.
Das Paradigma „Weltoffenheit“ muss von einer neuen Strategie der Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung abgelöst werden. Aber auch dabei besteht die Gefahr einer Ideologisierung, wenn die berechtigten Wünsche nach Protektion – wie bei den Brexitern – in volle Abkehr von der EU und damit auch von deren Binnenmarkt umschlägt. Der Gefahr eines umgekehrten Globalismus entgehen wir nur durch Differenzierung – und dafür wären statt des Kampfes gegen Andersdenkende offene Diskurse über die Grenzen der Offenheit gefordert.
Die Rückkehr zum Nationalstaat erfolgt selten aus „völkischem“ Denken heraus, viel öfter aus nackter Angst um die eigene Selbstbehauptung. Sie unterscheidet sich mit ihrem Willen zur defensiven Selbstbegrenzung grundlegend etwa von dem erobernden Nazismus von einst.
Neue Querdenker für neue Synthesen gesucht
Auch der Liberalismus gehört vom Kopf auf die Füße gestellt. Denn im Konfliktfall scheint sich der ersatzreligiöse Moralismus als noch stärker zu erweisen als der Globalismus. Die „wertegeleitete Außenpolitik“ kollidiert immer mehr mit dem zunehmenden Autoritarismus in anderen Kulturkreisen. Unterdessen werden darüber sogar selbstschädigende Sanktionen in Kauf genommen und Lieferketten auf eine korrekte Herkunft überprüft, unbeschadet materieller Verluste.
Es wäre auch hierbei Aufgabe des politischen Realismus, den Freihandel, den Respekt vor unseren und anderen Werten und zudem den Schutz etwa des eigenen Mittelstands und der eigenen Kultur in einen Ausgleich zu bringen. Statt innerhalb der Gesellschaft sollte der Multikulturalismus in der multipolaren Weltordnung anerkannt und gefördert werden.
Über die Aufgaben einer Selbstbehauptung und Selbstbegrenzung werden die alten Ideologien relativiert. Es werden neue Querdenker gesucht, die – wie einst bei Kapital und Arbeit in der Sozialen Marktwirtschaft – Gegensätze in neue Synthesen zu überführen verstehen:
Illegale Zuwanderung muss nicht in Abschottung, aber in eine gesteuerte Einwanderung überführt werden. Die gegenwärtigen Eigeninteressen und die ökologischen Ferninteressen müssen in ein subsidiäres Verhältnis gesetzt werden. Erst müssten in dezentralisierten Strukturen etwa die regionalen und nationalen Eigen- und Nahinteressen des Bürgers im Mittelpunkt stehen. Erst wenn diese befriedigend geklärt sind, kann man die nächsthöhere Ebene besteigen. Im ideologisierten Globalismus verhält es sich umgekehrt: zuerst kommt die Menschheit, der sich die bürgerlichen Eigeninteressen unterzuordnen haben.
Eine strategische Alternative zur NATO aufbauen
Auch die Alternative „national oder europäisch“ ist unterkomplex. Es geht um eine zentralistisch oder dezentral agierende EU. In letzterer müssten wiederum die Funktionssysteme unterschieden werden. Nicht die Geschlechter- und Sozialpolitik, sondern die Grenz- und Verteidigungspolitik bedürfen der Steuerung und Koordinierung.
Eine europäische Verteidigungsgemeinschaft hätte sich auf defensive Schutzaufgaben zu beschränken. Wer darüber hinaus mit den USA in aller Welt aktiv werden will, möge dies auf eigene Rechnung tun. Auf diese Weise könnte den über den westlichen Kulturkreis hinaus agierenden NATO-Staaten eine strategische, auf Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung ausgerichtete Bündnisalternative entgegengehalten werden.
Der Leitbildwechsel zur Selbstbegrenzung Europas erfordert aber nicht weniger als eine geistige Umorientierung von der Dekonstruktion zur Bewahrung unserer Kultur. Wer diese schon sprachlich aufzulösen bestrebt ist, wird sie kaum begrenzen und behaupten wollen. Die Debatte über die physischen Grenzen Europas sollte zum Nachdenken über unsere kulturelle Identität und geistig-moralischen Grenzen überleiten.
Paul Dornfeld:
An den Selbstverteidigungsgedanken außerhalb der Nato muss ich mich erst gewöhnen, sonst würde ich in allen Punkten zustimmen. Wobei die Aufforderung recht tollkühn ist, zu sagen, gesucht seien „neue Querdenker“, ist aber gut und notwendig, den entwendeten Begriff vom Missbrauch zu säubern. Ja, die ‚offene Gesellschaft‘ sollte vor sich selbst geschützt werden.
Einen Punkt, die unkontrollierte muslimische Einwanderung, möchte ich herausgreifen:
„„..Mit beiden (christl.-aufklärerische Kultur und relativist.-postmoderne Kultur) ist der Islam inkompatibel, was im zweiten Fall durchaus als Kompliment verstanden werden kann, aber schwere Spannungen gerade mit den ihn hofierenden Idealisten der Weltoffenheit heraufbeschwört…“
Tatsächlich sind es nur die christlichen Kirchen, die den regenbogenbunten Offenheits-Hype mitmachen und ihre Kirchen entsprechend einkleiden, die Moscheegemeinden gehen da zum Glück nicht mit. Angesichts der eigenen festen Geschlechterreglements muss ihnen die aktuelle transidentitäre-geschlechteroffene Transformation ein Graus sein.
Wieso ist dazu dennoch keine kritische Stimme aus der muslimischen Community zu hören?
Vielleicht, um es sich mit den linksgrünen Förderern ihrer Ansprüche nicht zu verderben?
Paul Dornfeld:
An den Selbstverteidigungsgedanken außerhalb der Nato muss ich mich erst gewöhnen, sonst würde ich in allen Punkten zustimmen. Wobei die Aufforderung recht tollkühn ist, zu sagen, gesucht seien „neue Querdenker“, ist aber gut und notwendig, den entwendeten Begriff vom Missbrauch zu säubern. Ja, die ‚offene Gesellschaft‘ sollte vor sich selbst geschützt werden.
Einen Punkt, die unkontrollierte muslimische Einwanderung, möchte ich herausgreifen:
„„..Mit beiden (christl.-aufklärerische Kultur und relativist.-postmoderne Kultur) ist der Islam inkompatibel, was im zweiten Fall durchaus als Kompliment verstanden werden kann, aber schwere Spannungen gerade mit den ihn hofierenden Idealisten der Weltoffenheit heraufbeschwört…“
Tatsächlich sind es nur die christlichen Kirchen, die den regenbogenbunten Offenheits-Hype mitmachen und ihre Kirchen entsprechend einkleiden, die Moscheegemeinden gehen da zum Glück nicht mit. Angesichts der eigenen festen Geschlechterreglements muss ihnen die aktuelle transidentitäre-geschlechteroffene Transformation ein Graus sein.
Wieso ist dazu dennoch keine kritische Stimme aus der muslimischen Community zu hören?
Vielleicht, um es sich mit den linksgrünen Förderern ihrer Ansprüche nicht zu verderben?