Wie die EU die Entdemokratisierung von Politik vorantreibt
Vor kurzem konnte man in den Medien die Meldung lesen, dass die Europäische Zentralbank (EZB) nun ganz auf den Kauf „grüner“ Anleihen setzten wolle, um die Wende zu einer nachhaltigen Energiewirtschaft zu fördern.
In diesem Sinne äußerte sich etwa die EZB-Direktorin Isabel Schnabel (Tagesspiegel, 12. Januar 2023). Unternehmen, die ihr Geld mit der Erzeugung erneuerbarer Energie verdienen, würden weniger Zinsen für ihre Unternehmensanleihen zahlen müssen als andere, weil die EZB durch ihre Ankaufspolitik den Zins drückt. Das macht sie zum Beispiel seit Jahren bei italienischen Staatsanleihen.
Von daher ist der politisch motivierte, selektive Kauf von Unternehmensanleihen eigentlich nur die konsequente Fortsetzung der seit 2012 verfolgten Geldpolitik der EZB, die vor allem das Ziel verfolgte, das Überleben des Euro zu sichern.
Nun spricht fast alles dafür, stärker als in der Vergangenheit erneuerbare Energien einzusetzen, um den CO2-Ausstoß zu reduzieren. Allerdings würden viele Experten dann auch dazu raten, auf Atomenergie zu setzen, da Atomkraftwerke zuverlässig und unabhängig von Sonne und Wind Energie liefern, bei deren Erzeugung kein CO2 ausgestoßen wird.
Eine Art Nebenregierung ohne Kontrolle
Wie wäre wohl die Reaktion in Deutschland, wenn Frau Schnabel sich offen dazu bekennen würde, dass die EZB mit ihrer Selektion von Unternehmensanleihen für ihr Portfolio Konzerne bevorzugen wolle, die AKWs betreiben, um ihnen auf diese Weise ihre Refinanzierung zu erleichtern? Es würde mit Sicherheit zu einer heftigen Kontroverse kommen. Noch stärker würde die Auseinandersetzung, wenn die EZB primär Staatsanleihen von Ländern kaufen würde, die aus ihrer Sicht die richtige Umweltpolitik betreiben, etwa eher französische oder finnische als deutsche Anleihen.
Auch solche Maßnahmen werden offenbar in Frankfurt diskutiert. Sie sind kein reines Phantasiegebilde, sondern ein Zeichen für die Hybris, die mittlerweile in den Schaltzentralen der EZB herrscht; man sieht sich offenbar als eine Art Nebenregierung der Eurozone. In diese Rolle ist die EZB von den nationalen Regierungen freilich selbst hineingedrängt worden, da man ihr seit 2010 weitgehend die Aufgabe überließ, den Euro um jeden Preis zu retten.
Auch diesmal hat die EZB zumindest juristisch wenig zu befürchten. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) wird ihr niemals in den Arm fallen, und das deutsche Bundesverfassungsgericht ist in den letzten Jahren mit regierungskonformen Juristen besetzt worden und daher gezähmt. Viel Mut hatte Karlsruhe in der Auseinandersetzung mit der EZB in der Vergangenheit ohnehin selten. Jetzt wird das Gericht nicht einmal mehr wagen, sich laut zu räuspern.
Die Entdemokratisierung von Politik bietet den politischen Eliten große Vorteile
Was sich in der Politik der EZB anbahnt, ist eine immer weitere Entdemokratisierung, denn die EZB wurde bewusst so konstruiert, dass ihr Handeln jeder demokratischen Kontrolle entzogen ist, um unabhängig agieren zu können. Gerade diese Entdemokratisierung ist aber den politischen Eliten in der EU durchaus willkommen. Sie stehen in den nächsten Jahrzehnten vor der schwierigen Aufgabe, ihren Wählern vorwiegend schlechte Nachrichten übermitteln zu müssen.
Die Energiewende wird wegen ihrer erheblichen Kosten zumindest auf Sicht der nächsten 20 Jahre zu einem fühlbaren Sinken des Lebensstandards der Masse der Bevölkerung führen. Dazu kommt eine trabende Inflation, die nicht nur eine Folge von Krieg und Deglobalisierung, sondern auch der Geldpolitik der EZB ist. Nicht zu vergessen ist schließlich, dass der Sozialstaat in seiner aktuellen Form kaum noch bezahlbar ist, blickt man auf die Überalterung der Bevölkerung in den allermeisten EU-Ländern.
Als Folge wird man der Bevölkerung immer mehr Einschränkungen zumuten müssen. Dafür demokratische Mehrheiten zu gewinnen ist schwierig, also liegt es nahe, wichtige Weichenstellungen außerhalb der normalen demokratischen Prozesse vorzunehmen. Im Idealfall werden Richtungsentscheidungen durch Gremien und Institutionen verordnet, die jeder demokratischen Kontrolle gänzlich entzogen sind, wie etwa die EZB oder auch die Gerichte – Karlsruhe ist hier mit seinem Urteil zum Klimaschutz schon einen wichtigen Schritt vorausgegangen.
Das EU-Parlament hat ein Demokratiedefizit
Aber auch die normalen Institutionen der EU bieten sich für eine solche Entdemokratisierung an. Die Kommission geriert sich unter ihrer Präsidentin Ursula von der Leyen immer mehr wie eine europäische Regierung, die aber von Wahlen weitgehend unabhängig ist. Die einzelnen Kommissare werden von den nationalen Regierungen nominiert, und die Kommission als Ganze ist nicht darauf angewiesen, sich auf eine feste Koalition von Parteien im EU-Parlament zu stützen; sie kann sich ihre Mehrheiten von Fall zu Fall zusammensuchen.
Von daher kann man eine EU-Kommission nicht wirklich abwählen, so wie man eine nationale Regierung abwählen kann. Außerdem ist das Wahlrecht für das EU-Parlament kein wirklich demokratisches, da die kleineren Länder im Parlament stark überrepräsentiert sind.
Dazu kommt der Umstand, dass Entscheidungen in Brüssel oft das Ergebnis mühsam ausgehandelter Kompromisse zwischen den unterschiedlichen einzelnen Nationalstaaten und den Nationalstaaten insgesamt (vertreten im Europäischen Rat) sowie dem Parlament sind. Die Verantwortung für eine Entscheidung bestimmten Akteuren im Nachhinein konkret zuzuordnen, ist in diesem System unmöglich. Dazu sind die Entscheidungsprozesse für die Öffentlichkeit auch zu intransparent.
Die Nationalstaaten stehen der Demokratisierung der EU im Wege
Hier wird ein tieferes Problem sichtbar: Interessenkonflikte zwischen unterschiedlichen Nationen lassen sich nicht einfach durch Mehrheitsentscheidungen beilegen; wenn das so wäre, gäbe es ja auch keine Unabhängigkeitsbewegungen in Katalonien oder Schottland.
Eine wirkliche Demokratisierung der EU hätte also eigentlich die weitgehende Auflösung der bisherigen Nationalstaaten zur Vorbedingung, eine Auflösung, die außerhalb Deutschlands kaum jemand wirklich will. Auf diese Problematik hatte letzten Endes auch schon Karlsruhe 2009 in seinem Lissabon-Urteil hingewiesen, als die Richter noch wagten, in europapolitischen Fragen eine eigene, nicht-konforme Meinung zu haben. Das Urteil verdeutlicht, warum es eine echte Demokratisierung der EU kaum geben kann, solange es noch wirkliche Nationalstaaten in Europa gibt, die auch als solche auf der internationalen Bühne auftreten.
Was aber bedeutet das für die Legitimität politischer Maßnahmen und Weichenstellungen? Muss nicht mit einem stärkeren Widerstand gerechnet werden, wenn Bürger das Gefühl haben, kein echtes Mitspracherecht mehr zu haben? Ein solcher Widerstand hat sich im Süden Europas schon gezeigt, als es galt, schmerzhafte wirtschaftliche Reformen, auf denen Brüssel bestand, durchzuführen.
Ungarn und Polen halten an den Idealen eines Nationalstaates fest
Italien lehnt mittlerweile alle Reformauflagen in Verbindung mit Finanzhilfen der EU oder der Eurozone radikal ab und ist mit dieser Linie durchaus erfolgreich. Dass in Zukunft die EU auch in schwächeren Ländern wie Portugal oder Griechenland keine Reformen mehr durchsetzen können wird, ist ziemlich klar. Hier wirken sich die Legitimitätsdefizite der europäischen Institutionen schon massiv aus.
Anders ist der Fall gelagert, wenn man auf Polen und Ungarn blickt. Hier lehnen die jeweiligen Regierungsparteien die gesamte politische Kultur, die in Brüssel und Westeuropa mittlerweile vorherrscht, ab. Sie wollen an einer genuin konservativen Politik und an dem Ideal eines kulturell homogenen Nationalstaates festhalten – Vorstellungen, die in Westeuropa und noch mehr bei den EU-Eliten als ketzerisch und tendenziell rechtsradikal gelten. Dass Viktor Orbán oder die polnische Regierungspartei PiS dabei nicht zimperlich sind, wenn es gilt, ihr eigenes Machtmonopol zu verteidigen, ist freilich auch wahr.
Man könnte argumentieren, dass das Idealbild Ungarns und Polens einer illiberalen Demokratie spiegelbildlich ähnlichen Vorstellungen der politischen Linken entspricht. Deren Vertreter sind auch bemüht, den Raum des Sagbaren permanent einzuschränken, um damit aus ihrer Sicht oppositionelle Kräfte ganz aus der politischen Diskussion auszuschließen.
Kann mit Widerstand aus Deutschland gerechnet werden?
Ein Aufstand gegen die postdemokratische Herrschaft der EU wie in den südlichen EU-Ländern oder in Teilen Ostmitteleuropas zeichnet sich freilich in Deutschland nicht ab. Dazu ist die gesamte politische Kultur Deutschlands seit den 1950er Jahren (damals noch in Westdeutschland) viel zu sehr auf die Einbindung in supranationale Organisationen im Sinne einer Selbstbeschränkung der eigenen Souveränität ausgerichtet.
Man könnte sagen, dass die politische Klasse Deutschlands mehr noch als in anderen Ländern den eigenen Bürgern stark misstraut und sie gern unter Aufsicht stellen möchte. Gegebenenfalls auch unter internationale Aufsicht, aus Angst, sie könnten auf falsche Gedanken kommen. Hier wirkt der Untergang Weimars nach, wo am Ende eine Mehrheit der Wähler für extremistische Parteien stimmte.
Doch Umfragen zeigen, dass zunehmend auch die deutschen Bürger den Parteien wie der gesamten politischen Elite misstrauen. Sie glauben nicht mehr, dass dieses Personal dazu in der Lage beziehungsweise gewillt sei, die drängenden Probleme der Gegenwart zu lösen.
Dieses wachsende Misstrauen der Bevölkerung wird durch eine Verschiebung des demokratischen Prozesses der Entscheidungsfindung hin zu Institutionen, deren Willensbildung man durch Wahlen kaum oder gar nicht beeinflussen kann, sicher nicht geringer. Im Gegenteil, diese Entdemokratisierung wird die Entfremdung der Bürger von ihrem eigenen Staat noch weiter steigern.
Korrektur nur bei fundamentaler Krise
Das wird in Deutschland vielleicht nicht zu massenhaften Straßenprotesten und Revolten, wie sie in Frankreich von jeher üblich sind, führen. Doch ein Land wird nicht leicht zu regieren sein, dessen Bürger dem Staat und den Parteien überwiegend misstrauen. Das sollte denjenigen, die der EZB jede antidemokratische Anmaßung kritiklos durchgehen lassen und auch sonst hoffen, die Verlagerung von Entscheidungen nach Brüssel werde sie der unangenehmen Aufgabe entheben, um das Vertrauen der Bürger zu werben, zu denken geben.
Eine Korrektur des jetzigen Kurses ist jedoch bestenfalls als Reaktion auf eine wirklich fundamentale Krise zu erwarten. Zu denken wäre hier etwa an eine anhaltende Kapitalflucht aus dem Euroraum oder eine rasche Verarmung breiter Bevölkerungsschichten. Dann wird man sich vielleicht darauf besinnen, dass man auf jene Form von Legitimität, die der demokratische Nationalstaat generiert, doch nicht so leicht verzichten kann.
Eine solche Selbstbesinnung innerhalb der EU wird aber kaum von Deutschland ausgehen, sondern eher von anderen Ländern und auch erst dann eintreten, wenn die Einsicht um sich greift, dass eine Verlagerung von Kompetenzen nach Brüssel auch finanziell nichts mehr bringt, weil der eigentliche Garant der EU-Finanzen und -Schulden, Deutschland, nicht mehr zahlungskräftig genug ist. So lange werden wir uns wohl noch gedulden müssen.