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Weckruf für Europa

Die demografische Krise als entscheidende Frage unserer Zeit

Drei große Transformationen prägen unsere Zeit, mahnt die Europäische Kommission: die Künstliche Intelligenz, der ökologische Wandel und der demografische Wandel. Letzterer, so der deutsche Demograf Harald Michel gegenüber Corrigenda, wird noch „aus allen Knopflöchern platzen“.

Der demografische Wandel, man kann ihn treffender als demografische Krise bezeichnen, stellt sowohl Österreich als auch Deutschland vor immense Herausforderungen: Sinkende Geburtenraten, eine alternde Bevölkerung und ein zunehmender Arbeitskräftemangel werden Wirtschaft und Sozialsysteme, wie wir sie kennen, umkrempeln. Doch wie können wir diesen Entwicklungen begegnen?

Der Letzte macht das Licht aus?

Seit den 1970er-Jahren weisen sowohl Deutschland als auch Österreich Geburtenraten auf, die deutlich unter dem Niveau liegen, das notwendig wäre, um die Bevölkerungszahl stabil zu halten. Jedes Jahr sterben mehr Menschen als geboren werden. Diese Entwicklung führt zu einer drastischen Veränderung der Altersstruktur: Die Bevölkerung wird älter, während die Zahl der jungen Menschen kontinuierlich sinkt.

In den vergangenen 50 Jahren hat nicht so sehr die Kinderzahl innerhalb der Familien abgenommen, jedoch ist die Kinderlosigkeit dramatisch gestiegen. In Japan etwa war 1974 lediglich eine von 20 Personen kinderlos – heute sind es bereits 40 Prozent. Ähnliche Entwicklungen sind in Italien zu beobachten: 1975 war eine von 30 Personen kinderlos, 1990 eine von drei, und inzwischen nähert sich die Kinderlosigkeit der 40-Prozent-Marke wie in Japan. In Südkorea liegt sie derzeit bei 55 Prozent, und selbst in den USA beträgt sie inzwischen mehr als 35 Prozent.

Die eigentliche Frage lautet daher nicht, warum haben die Menschen immer weniger Kinder, sondern, warum haben immer weniger Menschen Kinder?

Studien zeigen, dass rund 90 Prozent der Frauen Kinder haben oder haben möchten beziehungsweise sich vorstellen können, welche zu bekommen. So förderte beispielsweise die Nationale Erhebung zum Familienwachstum von 2017 bis 2019 (National Survey of Family Growth, NSFG) an mehr als 5.000 Frauen in den USA zu Tage, dass die meisten kinderlosen Frauen keine bewusste Entscheidung gegen Kinder getroffen hatten. Die meisten Ursachen für Kinderlosigkeit lassen sich auf äußere Umstände zurückführen: Beispielsweise das Fehlen des passenden Partners, die Verschiebung des Kinderwunsches, um einen bestimmten Lebensstil beibehalten zu können, sehr lange Bildungswege sowie Zukunftsangst oder Unsicherheit. Zudem kommt das neuerdings stark wachsende Phänomen der Unfruchtbarkeit hinzu, welches in der öffentlichen Debatte noch kaum aufgegriffen wurde.

Die Kinderlosenquote in Deutschland, basierend auf dem Mikrozensus von 2022

Ein besonders prägnantes Beispiel liefert Spanien: Das Durchschnittsalter der Erstgebärenden ist dort von 25 Jahre im Jahr 1981 auf 32 Jahre im Jahr 2021 gestiegen. Das Hinauszögern der Elternschaft führt oft dazu, dass viele Frauen überhaupt keine Kinder mehr bekommen. Daten aus verschiedenen Ländern deuten darauf hin, dass höchstens die Hälfte der Frauen, die mit 30 Jahren noch kinderlos sind, später noch Mutter werden.

Ungeplante Kinderlosigkeit bringt den Betroffenen oftmals erheblichen Kummer, insbesondere wenn sie älter werden und sich die Prioritäten im Leben ändern.

Eine kinderlose Gesellschaft neigt zu Dekadenz und Instabilität, wie bereits der französische Demograf Arsène Dumont im 19. Jahrhundert feststellte. Er sprach von einem „principe toxique“ in einer individualistischen Gesellschaft.

Ohne Menschen fehlt das Warum

Die Auswirkungen des demografischen Wandels sind tiefgreifend: Renten-, Pflege- und Sozialsysteme geraten unter enormen Druck. In Deutschland wird bis 2040 etwa ein Drittel der Bevölkerung im Rentenalter sein. Die Beiträge der Erwerbsbevölkerung werden nicht ausreichen, um die wachsenden Kosten zu decken.

Schon jetzt machen sich Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel bemerkbar – auch in essentiellen Bereichen wie im Pflege- und Gesundheitswesen, in Handwerk und Technik. Auch die Immigration kann diese Probleme nur begrenzt abfedern und stellt Gesellschaften vor zusätzliche Integrationsherausforderungen.

 

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Wir können Straßen, Gebäude und Fabriken bauen, aber ohne Menschen, die sie nutzen, haben sie keine Bedeutung. Deshalb ist eine demografische Rezession schlimmer als eine wirtschaftliche. Antworten auf den demografischen Wandel zu finden, muss oberste Priorität haben. Es reicht nicht aus, lediglich in den kurzen Zyklen einer Legislaturperiode zu denken. Stattdessen müssen dringend langfristige Maßnahmen priorisiert werden, die über kurzfristige Erfolge und Wiederwahlstrategien hinausgehen.

Wie können wir reagieren?

Die Bewältigung der tiefgehenden Herausforderungen des demografischen Wandels erfordert eine sofortige Priorisierung des Themas und einen vielschichtigen Ansatz, der sich auf eine Reihe von Strategien stützt. Die Entscheidung des Einzelnen, der jeweiligen Paare, muss der Staat natürlich respektieren. Gleichwohl kann er mit einem Maßnahmenbündel für eine Verringerung der Kinderlosigkeit eintreten. Dass es dafür sogar eine Notwendigkeit gibt, zeigt die Lücke zwischen der gewünschten und tatsächlichen Kinderzahl, die in allen betroffenen Staaten aufklafft. Mit familienpolitischen Maßnahmen allein ist es jedoch nicht getan.

Die demografische Krise wird nicht allein von der Politik gelöst werden können. Gesellschaftliche Anerkennung kann nicht politisch oktroyiert werden. Ein kultureller Wandel, eine breite gesellschaftliche Debatte auf Basis der Anerkennung der unersetzlichen Rolle der Familie für den Einzelnen und die Gesellschaft und die Wertschätzung von Kindern sind dafür notwendig. Dies beginnt bei jedem Menschen selbst und muss sich insbesondere bei den sogenannten Eliten, Entscheidungsträgern und Influencern durchsetzen, um die notwendigen Haltungsveränderung zu bewirken.

Österreich hat mit dem „Familienbonus Plus“ ein Beispiel gesetzt: Eltern erhalten steuerliche Erleichterungen, um die finanzielle Belastung durch Kinder zu verringern. Das ist gut, doch solche Maßnahmen reichen nicht aus. Denn Länder wie Ungarn, die solche Maßnahmen umgesetzt haben, konnten zwar die Fertilitätsziffern erhöhen, aber nicht so weit, dass sie das Reproduktionsniveau erreicht hätten. Familien benötigen gesellschaftliche Anerkennung für die Leistungen, die sie für ihre Kinder und damit zum Wohle der Allgemeinheit erbringen. Zudem ist die Förderung des aktiven Alterns und der Langlebigkeit von großer Bedeutung.

Gleichzeitig gilt es, politisch auf die demografischen Folgen zu reagieren, um die Renten- und Sozialsysteme, die Infrastruktur sowie die Produktivität und wirtschaftliche Stabilität mit einer zukünftig kleineren Erwerbsbevölkerung zu erhalten.

Zielgerichtete, mutige Reformen sind notwendig, um die Renten-, Alters- und Gesundheitsinfrastruktur zu sichern. Die Würde jedes einzelnen Menschen muss auch in einer alternden Gesellschaft gewahrt werden. Das wird vor allem in der Diskussion um den assistierten Suizid und Euthanasie deutlich, denen durch die demografischen Veränderungen nicht Tür und Tor geöffnet werden darf. Zudem tut es Not, der wachsenden Einsamkeit entgegenzuwirken. Darüber hinaus bedarf es einer gezielten Begleitung des Entvölkerungsprozesses in den besonders betroffenen Regionen.

Ein Weckruf für Europa

Der demografische Wandel ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit – und gleichzeitig eine Chance, Gesellschaften neu zu gestalten. Die Antwort von Seiten der Politik liegt in einem Zusammenspiel aus einer stärkeren Wertschätzung von Familie, kluger Generationenpolitik und vorausschauenden Anpassungsmaßnahmen.

Österreich und Deutschland stehen an einem Scheideweg: Die Entscheidungen, die heute getroffen werden, werden die Weichen für die kommenden Generationen stellen.

In Österreich wird aktuell eine neue Regierungskonstellationen verhandelt, in Deutschland wird das nach der Wahl in etwas mehr als drei Wochen der Fall sein. Die neuen Koalitionen müssen zeigen, dass sie der demografischen Krise oberste Priorität einräumen. Ob in den Koalitionsverträgen, in der Neuorganisation von Ministerien und der Einrichtung entsprechender politischer Ämter: Es muss deutlich werden, dass die Politik die Relevanz des demografischen Wandels verstanden und den damit einhergehenden tiefgreifenden Veränderungen entschlossen begegnet. Jetzt gilt es, die richtigen Weichen zu stellen!

Die Herausforderungen sind groß, aber die Menschheit hat in der Geschichte immer wieder gezeigt, dass sie auch schwerste Krisen meistern kann. Der menschliche Geist ist innovativ – und oft sind es gerade schwierige Zeiten, die uns dazu anspornen, Chancen zu ergreifen und die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Ja, wir sind durch die Geschichte gestolpert – aber bisher sind wir meist bergauf gestolpert!

 

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