Gott im Glas
Langenau bei Ulm, Oktober 2023. Andreas ist in einer kalten Herbstnacht zu Fuß auf dem Nachhauseweg von einem feucht-fröhlichen Abend mit Freunden. Als er in der Nähe seines Wohnhauses an einem Altglascontainer vorbeigeht, vernimmt er ein Geräusch, das er zunächst nicht recht zuzuordnen vermag. Es könnte ein Wimmern sein. Ganz sicher ist er sich nicht und setzt deswegen seinen Weg fort. Nachdem er zu Hause angekommen ist, lässt ihn der Gedanke und eine dumpfe Ahnung nicht los.
Er beschließt noch einmal zurückzugehen und nachzusehen, woher das seltsame Geräusch kommt. Jetzt ist es klar und unüberhörbar. Es ist das Schreien eines Babys. Als er sich dem Altglascontainer nähert, wird das Schreien lauter. Er schaut mit seiner Handykamera in den Container hinein und entdeckt schließlich in ihm einen Säugling, der schreiend, nackt und zitternd auf den Glasscherben liegt.
Er setzt einen Notruf ab und holt das Baby aus dem Container, wickelt das unbekleidete Kind in sein T-Shirt und versucht es bis zum Eintreffen der Rettungskräfte zu wärmen. Später klärt sich der Umstand: Der neugeborene Junge war von der eigenen Mutter ausgesetzt worden und zu diesem Zeitpunkt bereits stark unterkühlt, jedoch auf wundersame Weise trotz der ihn umgebenden Glasscherben unverletzt. lm Krankenhaus kann das Kind durchgebracht werden.
„Beispiellose Umsicht und Aufmerksamkeit“
„Als ich da an dem Container stand, war ich echt überfordert. Ich wusste nicht, wie ich handeln soll“, berichtet Andreas später in einem Beitrag, der in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY … ungelöst“ ausgestrahlt wird. „Andreas Bichert hat den Mord an einem Neugeborenen verhindert“, heißt es in der Begründung der „XY-Preis“-Jury: „Sein Handeln folgte beispielloser Umsicht und Aufmerksamkeit, wodurch er ein noch so junges Menschenleben bewahrt hat.“
Die Nation saß am vergangenen Mittwoch mit stockendem Atem vor dem Fernseher und schaute zu, wie das Geschehen nachgespielt wurde, das sich so und nicht anders zugetragen hatte. Rudi Cerne, der Moderator, widmete dem Lebensretter einen guten Teil der Sendung und interviewte den Lebensretter ausführlich.
Dem Format der Sendung folgend wurde Andreas Bichert als Vorbild inszeniert. Und das ist er auch zweifelsfrei. Und doch bleibt ein schaler Nachgeschmack zurück, wenn man sich eine andere unappetitliche Tatsache vor Augen hält.
Was wäre, wenn das Baby noch im Mutterleib gewesen wäre?
Denn der Umstand der Rettung eines ausgesetzten Neugeborenen hat einen doppelten Boden. Öffnet man ihm, schlägt einem der Odor der Verlogenheit ins Gesicht. Betrachtet man nämlich die derzeitige Stimmung im Land, was die Frage der Legalität der Abtreibung betrifft, gefriert die Begeisterung über den Zufallsfund im Glascontainer.
Denn wäre der Säugling kein Neugeborenes, sondern hätte sich noch unter dem Herzen seiner Mutter befunden, wäre er Freiwild für eine mögliche Abtreibung gewesen. Und zwar – wenn es je nach Umfrage nach der Mehrheit in unserem Land geht – bis kurz vor der Geburt und das bedeutet bis kurz vor seiner möglichen Auffindung im Abfall. Nach aktuellen Umfragen halten 45 bis 80 Prozent der Deutschen die Rechtswidrigkeit der Abtreibung für falsch.
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Der Streit um die Legalisierung der Abtreibung in der ausgehenden Legislaturperiode unseres Parlamentes offenbart eine erschreckende Divergenz zwischen der sentimentalen Story der Entdeckung des Babys im Abfall-Container und der kalten Brutalität, mit der sich eine Mehrheit unserer Zeitgenossen daran macht, dasselbe Leben, für dessen Rettung Andreas Bichert geehrte wurde, im Mutterleib für verfügbar und entsorgbar zu halten.
Das Prekäre an dieser Divergenz ist die Entkleidung der Debatte von dem bislang für kompromisslerische Gemüter vorgehaltenen Feigenblatt der Fristenlösung, die einen Menschen vor seiner Geburt ab Tag X zwar für einen schützenswerten Menschen hält, davor aber als rechtloses apersonales Gewebe behandelt und ihn zur Entnahme freigibt, obschon sein Herz vor und nach der am Parlamentspult ausgehandelten Frist gleichermaßen schlägt.
Die Frage der Geburt unterliegt dem Gericht der früher Geborenen
Die Frage der Geburt des möglichen künftigen Bundeskanzlers oder der vielleicht einmal prominenten Schauspielerin unterliegt dem Gericht der früher Geborenen. Dieser Umstand wird bislang weniger in seiner logischen Anstößigkeit als in seiner beunruhigend-beruhigenden Wirkung betrachtet, die er auf jene hat, die zwar den Skandal der Tötung eines Menschen vor seiner Geburt irgendwie nicht gut finden, aber angesichts der Vorhaltung der Freiheitsrechte von Müttern und Vätern den Kompromiss als „Lösung“ einer moralisch-juristischen Patt-Situation ergreifen.
Mama und Papa haben einen Spielraum, um über die Prioritäten ihres Lebens nachzudenken, und das Kind hat die Chance zu überleben, wenn man Mama und Papa überzeugen kann, sich für es zu entscheiden. Und: Ein Kind, das sich unauffällig im Mutterleib verhält, hat ja unter Umständen das Glück, erst nach dem Ablauf der Frist entdeckt zu werden.
Auch die Kirchen in Deutschland hatten sich in dieser Hinsicht dem Poker um Leben und Tod angeschlossen, bis Papst Johannes Paul II. die katholischen Bischöfe zwang, aus dem Beratungssystem auszusteigen, das durch die Aushändigung eines Beratungsscheins das ungeborene Leben ursächlich seiner optionalen Tötung auslieferte.
Weichgekochte Stimmungslage der Bevölkerung
Nun stehen wir nach Jahren am Scheitelpunkt der Entwicklung, die sich aus diesem falschen Kompromiss ergeben hat. Denn die Menschen verstehen zu Recht die Logik der Befristung einer Lizenz zum Töten nicht und ziehen die konsequente Schlussfolgerung: Wenn die Tötung im Mutterleib vor der Geburt irgendwie okay ist, dann soll sich das auch bitte im geltenden Recht abbilden und der lästige Paragraf 218 mit seiner Strafbar-aber-straffrei-Regelung abgeschafft werden.
Denn er beinhaltet ja im Eingemachten ohnehin das eine: Schon Geborene dürfen prinzipiell über das Leben von noch nicht Geborenen entscheiden. Aus der darin liegenden subkutanen Priorisierung des Freiheitsrechtes Geborener vor dem Lebensrecht von Ungeborenen ergibt sich schlussendlich und konsequent der aktuelle und der weichgekochten Stimmungslage der Bevölkerung entsprechende Ruf nach Abschaffung des Paragrafen 218.
Das aber heißt im Klartext, dass der Säugling im Glascontainer doppeltes Glück hatte. Und zwar einmal durch seine Auffindung und ein andermal dadurch, dass man ihm nicht einige Tage zuvor in der Klinik per Abtreibung das Leben genommen hat. Denn diese Möglichkeit wäre zweifelsfrei die Konsequenz aus der herbeigerufenen Änderung der Rechtslage. Ganz so wie es die Demokraten in den USA fordern, deren Wahlniederlage auch hierzulande staatlich und kirchlich flächendeckend betrauert wurde.
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Dort hatte der Vizepräsidentschaftskandidat Tim Walz gegen den Gottseibeiuns Donald Trump euphemistisch angekündigt, durch die Freigabe der Abtreibung bis zur Geburt „die körperliche Autonomie der Frauen sichern und schützen“ zu wollen. So ist es auch bei uns in den meisten Wahlprogrammen der großen Parteien verbrieft – mit Ausnahme jener Partei, die die Bischöfe uns Katholiken als unwählbar insinuieren.
Beispiel aus dem Wahlprogramm der Grünen von 2021: „Um die Versorgung für Frauen dauerhaft zu gewährleisten, braucht es eine Entstigmatisierung und Entkriminalisierung von selbstbestimmten Abbrüchen sowie eine generelle Kostenübernahme.“ Mit den der deutschen Sprache zur Verfügung stehenden Möglichkeiten heißt dieser sperrige Satz im Klartext: Wenn die Tötung eines Menschen im Mutterleib durch das Strafrecht entkriminalisiert wird, wird sie folglich grundsätzlich legal und dann ja auch konsequenterweise bis zur Geburt, weil ja die Legalität einer Handlung nicht einer Befristung ihrer Ausführung unterstellt werden kann.
Die SPD nannte ihr Wahlprogramm für 2021 „Zukunftsprogramm“. Darin fordert die Partei: „Länder und Kommunen [müssen] dafür sorgen, dass Krankenhäuser, die öffentliche Mittel erhalten, Schwangerschaftsabbrüche als Grundversorgung anbieten […] Zudem stellen wir in Hinblick auf die Paragraphen 218 ff. fest: Schwangerschaftskonflikte gehören nicht ins Strafrecht.“
Die Geburt als Moment der Menschwerdung?
Vor dem Hintergrund dieser in die Gesetzeslage unseres Landes sicher bald – mit und ohne c-parteilicher Sophistik – Einzug haltenden Freigabe der Abtreibung als legale Tötungsmöglichkeit eines Menschen, zum Beispiel zur legalen Konfliktbewältigung unordentlicher Familienplanung, nimmt sich die ohne Frage echte Begeisterung für die Rettung eines Neugeborenen aus dem Glascontainer einigermaßen schräg aus.
Denn sie dokumentiert eines: Der Schutz des Lebens ist zwar allen grundsätzlich ein Anliegen – der Säugling wird gerettet und die mit dem Tod ringende Oma mit Herzschwäche in der U-Bahn keineswegs sich selbst überlassen –, aber dieses Anliegen ist im Klammergriff von Deutungshoheiten, die es geschafft haben, die Geburt als Moment der Menschwerdung zu beschreiben.
Verantwortlich ist dafür die in unserer permissiven Gesellschaft verrutschte Moral, die die Autonomie des Menschen gegen die Gebote Gottes ausgetauscht und das Lebensgefühl – dem auch die Kirchen aktuell als neue Offenbarungsquelle huldigen – zum bestimmenden Regelfaktor unseres Zusammenlebens erhoben hat.
Was werden wir demnächst in dieser Hinsicht noch zu erwarten haben? Wird die Geburt als Schallgrenze für den Lebensschutz halten? Wird sie unter Vorbehalt gestellt? Wird man erst seine Klimagerechtigkeit und seine gesunde Ernährung in der E-Akte der Krankenkasse nachweisen müssen, um dem Fallbeil zu entgehen? Oder wird die Frist bis zum Abitur verlängert, wo das Leben bekanntlich erst richtig anfängt?
Eine verunsicherte Schwangere kam zu mir, weil ich Abtreibungen ablehne
Mir als Pfarrer bleibt oft im Sarkasmus die letzte Zuflucht. So wie vor Jahren, wo eine Sechzehnjährige bei mir Rat und Hilfe suchte, die ihre Schwangerschaft erst recht spät bemerkt hatte. Ihr konnte hier geholfen werden. Sie suchte mich auf, gerade weil sie wusste, dass eine Tötung für mich nicht in Frage kam und gerade deswegen eine Lösung für Mutter und Kind gesucht werden würde.
Sie wollte, wie sie sich ausdrückte, „lieber das Kind auf dem Kissen als auf dem Gewissen“ haben – trotz all der vielen Schwierigkeiten, die sie auf sich zukommen sah. Was ihr zuvor den Rest gegeben hatte, war der Rat der Beratungsstelle eines kirchlichen Wohlfahrtsverbandes (wir sagen hier nicht welcher Konfession): Nachdem sie nach Feststellen ihrer Schwangerschaft bereits außerhalb der gesetzlichen Frist lag und deswegen grundsätzlich keine Chance zu einer straffreien Abtreibung bestand, hatte man ihr dort geraten, in die benachbarten Niederlande zu fahren, weil dort die Fristenregelung großzügiger war. Wie menschenfreundlich!
Sofern jetzt die Bedenkenträger bezüglich des offensiven Lebensschutzes dieser Zeilen überhaupt bis hierher gelesen haben, nachdem sie sich von ihrer Schnappatmung erholt haben, sei eines an dieser Stelle dokumentiert: Ja, mir geht es auch – und gerade – um die bedrängten Frauen. Mir muss niemand Vorträge über die Härte von Schwangerschaftskonflikten halten, denn die sind immer wieder Teil meines seelsorglichen Alltags. Und natürlich brechen wir keine Stäbe über Frauen und enteignen sie auch nicht ihrer Freiheitsrechte.
Aber das Kind unter ihrem Herzen hat dieselben. Allein, es kann sie noch nicht artikulieren, wie das Würmchen im Glascontainer, wenn es noch nicht geboren ist. Wenn jetzt bald wieder die ganze Welt an Weihnachten sentimental wird ob des süßen Babys von Bethlehem und sich die Kirchen darangeben, den im Stall geborenen Gottessohn zu verkünden, der wieder auch den politisch und kulturell Engagierten Anlass zu umflorten Sonntagsreden verschaffen wird, dann bitte, liebe XY-ungelöst-Zuschauer und Christmettenbesucher, bedenkt, was die Konsequenz Eures „Stille-Nacht“-Singens sein muss.
Ihr könnt nicht an der Krippe den „holden Knaben im lockigen Haar“ verehren und gleichzeitig die Augen vor den Millionen Knaben (und Mädchen) verschließen, deren Haar niemals hat lockig werden dürfen, weil eine hedonistische und zügellose Gesellschaft sie vor der Geburt bereits verhindert hat.
Gott rettet auch im Abfallcontainer
Aber leider – das ist die Erfahrung – geht vielen die Massentötung weniger unter die Haut als das individuelle Schicksal. Das wimmernde Kind, das seine verzweifelte Mutter auf Altglas dem Sterben anheimgegeben hatte, weckt eben eher einen Lebensschutzinstinkt als der Hinweis darauf, dass statistisch in Deutschland täglich knapp dreihundert Kinder im Mutterleib ermordet werden – mehr als zehn Schulklassen.
Diejenigen, die sich für sie starkmachen und hier und da erfolgreich Abtreibungen verhindern helfen, werden nicht ins XY-Studio eingeladen, sondern heute mitunter als rechtsextrem diffamiert und mundtot gemacht, damit sie nicht weiter stören bei der Verwirrung der Begriffe und der Umkehrung der Normen. Wir werden sehen, wie lange es noch erlaubt sein wird, Weihnachten jenseits der Elfen- und Wichtelromantik als Kernfest des Christentums öffentlich zu feiern, das Geburtsfest des Gründers der offenbar ganz und gar rechtsextremen Religion der Einschränkung von Freiheitsrechten.
Aber das kennt dieser Gründer selbst ja zur Genüge aus Seiner Zeit, als König Herodes sich nicht scheute, wehrlose Kinder zu ermorden, um das Kind zu finden, das ihm seine Herrschaftsansprüche bestritt. Die Rechnung ging nicht auf. Das Kind hat überlebt. Denn Seine Herrschaft war mächtiger. Das feiern wir in einer guten Woche an Weihnachten. Und das darf uns in unserer zerfallenden Gesellschaft trösten. Dass Gott auch im Abfallcontainer rettet, wo ein Kind, das im Glas liegt, um sein Leben schreit. Sofern es Menschen gibt, die Ihm dabei ihre Herzen und Hände leihen.
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Und genau die, die die Kindestötung bis kurz vor der Geburt fordern, gehen gegen die Tötung von Hühnerküken auf die Straße und schreien“Mord“.
Welch menschenverachtendes Volk.
"... sondern heute mitunter als rechtsextrem diffamiert und mundtot gemacht, ..."
Und, warum springen Sie offensichtlich über dieses Stöckchen, wenn es Ihnen hingehalten wird?
Ein guter und richtiger Beitrag, aber leider mit einem ziemlich weinerlichen Beigeschmack, der uns Katholiken wirklich nicht ansteht.
Und was die angebliche "Unwählbarkeit" von Parteien anbelangt: das gilt für ausnahmslos *jede* Partei, die gerade im BT sitzt.
MEGA Artikel, vielen Dank dafür. Und natürlich auch generell für Ihre wertvolle Arbeit. 🥰
Habe den Link zum Artikel gleich in meinen WhatsApp-Status gestellt. Vielen lieben Dank für Ihre Arbeit! :-)
Habe den Link zum Artikel gleich in meinen WhatsApp-Status gestellt. Vielen lieben Dank für Ihre Arbeit! :-)
MEGA Artikel, vielen Dank dafür. Und natürlich auch generell für Ihre wertvolle Arbeit. 🥰
Und genau die, die die Kindestötung bis kurz vor der Geburt fordern, gehen gegen die Tötung von Hühnerküken auf die Straße und schreien“Mord“.
Welch menschenverachtendes Volk.
"... sondern heute mitunter als rechtsextrem diffamiert und mundtot gemacht, ..."
Und, warum springen Sie offensichtlich über dieses Stöckchen, wenn es Ihnen hingehalten wird?
Ein guter und richtiger Beitrag, aber leider mit einem ziemlich weinerlichen Beigeschmack, der uns Katholiken wirklich nicht ansteht.
Und was die angebliche "Unwählbarkeit" von Parteien anbelangt: das gilt für ausnahmslos *jede* Partei, die gerade im BT sitzt.