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NS-Gedenken

Das Museale muss dem Lebendigen weichen

Wann hebt Elon Musk eigentlich Richtung Mars ab? Jetzt jedenfalls nicht, denn der amerikanische Tech-Milliardär will sich dringend um irdische Angelegenheiten kümmern; wie immer hat er Großes und Dubioses vor. Auch für Deutschland fühlt er sich plötzlich zuständig, sogar für die Art und Weise, wie man hierzulande mit dem beschwerlichen NS-Erbe umgehen sollte.

Besser ist ja immer, vor der eigenen Haustüre zu kehren, denn in den USA ist noch kaum aufgearbeitet, dass etwa 100.000 indigene Kinder über 150 Jahre lang in staatliche Zwangsinternate geschickt wurden. Man unterzog sie dort einer „Umerziehung“; Schläge und Missbrauch waren an der Tagesordnung, Hunderte Kinder starben. Musk scheint es nicht zu interessieren, wohl weil er ohnehin nicht zurückblicken will. Weder in den Staaten noch sonst wo. So mahnte er bei einer AfD-Wahlkampfveranstaltung per Video auch Deutschland, aufzuhören, sich auf vergangene Schuld zu fokussieren.

Das findet auch Alice Weidel gut. Die AfD-Chefin ist nicht nur selbsternannte Bewunderin von Musk, sondern will den in neurechten Kreisen beschworenen „Schuldkult“ schon seit langem abschaffen. Auch Parteikollege Björn Höcke wettert immer wieder gegen eine angeblich „dämliche Bewältigungspolitik“ und forderte bereits 2017 eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“.

Unsere Erinnerungskultur gilt weltweit als vorbildlich

Keine Einzelstimmen. Schon seit Jahren wird deutlich, dass sich die AfD der Revision einer kritischen Aufarbeitung der NS-Gewaltherrschaft verschrieben hat. Vorstöße hierzu findet man übrigens im Laufe der deutschen Nachkriegsgeschichte häufig. So sagte etwa Franz Josef Strauß im Jahre 1961, damals Verteidigungsminister: „Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen erbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen.“ Was damals dem Bedürfnis der meisten Deutschen entgegenkam; es herrschte, und das bis in die 1980er-Jahre, eine regelrechte „Schlussstrich-Mentalität“.

Bekanntlich ist es anders gekommen. Hierzulande hat sich, allem Verdrängungswillen zum Trotz, eine öffentliche Erinnerungskultur durchgesetzt, die weltweit als vorbildlich gilt. Man zollt uns großen Respekt für unsere stete und unter Schmerzen erkaufte Bereitschaft, uns mit dem düstersten Kapitel unserer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Und das zu Recht. Denn anderswo bringt man diese beachtliche Kollektivleistung gar nicht erst nicht auf.

Man schaue nur nach Spanien, wo die Aufarbeitung des Franco-Regimes nur sehr schleppend in Gang kommt, ebenso wenig in Italien, wo sogar immer noch ein schauderhafter Mussolini-Kult existiert – dessen Geburtsort ist bis heute eine regelrechte Pilgerstätte. In der Türkei versteht man überhaupt nicht, warum man überhaupt aufarbeiten soll; die Gräueltaten der eigenen Geschichte werden geleugnet. Das geht so weit, dass Lehrer an deutschen Schulen immer wieder von türkischstämmigen Eltern bedroht werden, wenn sie den Völkermord an den Armeniern im Unterricht thematisieren.

Eine Errungenschaft, die viel zur internationalen Verständigung beiträgt

In Polen wird nicht alles unter den Teppich gekehrt, aber so richtig ran traut man sich an eine konsequente Aufarbeitung auch nicht. Als der Historiker Jan Tomasz Gross aufdeckte, dass die Polen während des Zeiten Weltkrieges mehr Juden als Deutsche umgebracht haben, erntete er Morddrohungen. Heftig attackiert wurde auch Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, als sie an Polens gewaltsame Kolonialisierung von Gebieten in der Ukraine und Weißrussland erinnerte. Sie plädiert seit Jahren dafür, sich so schonungslos wie die Deutschen mit der eigenen Geschichte zu befassen.

Auch hier zeigt sich, dass man durchaus neidisch nach Deutschland blickt, dass das reflektierte Beispiel, das wir hierzulande geben, nachahmenswert ist. Wer das als „Schuldkult“ bezeichnet, diffamiert eine Errungenschaft, die nicht nur viel zur internationalen Verständigung beiträgt, sondern die vor allem zeigt, zu welcher Größe eine Nation fähig ist, indem sie Verantwortung übernimmt.

Katholische „Todesangst-Christi-Kapelle“ auf dem Gelände des ehemaligen KZ Dachau: Wo die einen von Schuld reden, sprechen die anderen von Verantwortung

In rechtspopulistischen, neurechten und rechtsextremen Kreisen wird aber genau das nicht gewürdigt. Stattdessen heißt es, die Erinnerungskultur würde Deutschland beschämen, beschuldigen – und damit schwächen. Das führe auch zu politischen Fesseln, etwa in der Migrationsfrage. Vor allem aber handle es sich um einen massiven Angriff auf die nationale Identität; auch künftige Generationen würden mit einer angeblichen Kollektivschuld unaufhörlich gedemütigt.

Das wiederum zeigt, es ist immer auch eine Frage des Blicks. Und des Vokabulars. Wo die einen von Schuld reden, sprechen die anderen von Verantwortung.

Es braucht eine Kurskorrektur ohne anklagenden Zeigefinger

Dennoch soll der Einwand, man würde sich übermäßig mit Schuld beladen, nicht völlig negiert werden. In unserer Gesellschaft sind durchaus Tendenzen der Selbstgeißelung aufgrund der nationalsozialistischen Vergangenheit zu beobachten. Umso mehr braucht es eine Kurskorrektur. Die eben nicht darin besteht, einen Schlussstrich zu ziehen, sondern auf jeden anklagenden Zeigefinger zu verzichten und sich umso mehr darauf zu besinnen, wieviel Kraft und Größe hierzulande aufgebracht wurde, um sich der brutalen Vergangenheit zu stellen.

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Nochmal: In dieser Radikalität ist das weltweit nirgendwo anzutreffen. Grund genug also, darauf stolz zu sein. Und weiter dranzubleiben.

Daran zu appellieren, ist umso notwendiger, da das Ende der Auseinandersetzung mit dem NS-Terror kein ausschließlich neurechtes Bestreben ist. Laut einer Infratest-dimap-Erhebung aus dem Jahr 2020 geben etwa 37 Prozent aller Deutschen an, es solle endlich ein Schlussstrich gesetzt werden. Das bestätigt auch eine Umfrage von ZDFinfo, in der außerdem zutage tritt, dass ein Viertel der Befragten erhebliche Wissenslücken in Bezug auf die NS-Vergangenheit hat. Es braucht also dringend eine Auffrischung.

„Das Gedenken geht an der Bevölkerung vorbei“

Zudem ist die Zeit gekommen zu überprüfen, wo die Aufarbeitung noch ihre Schwachstellen hat. Denn die aufkeimende Schlussstrich-Sehnsucht muss nicht bedeuten, dass man sich seiner historischen Verantwortung nicht mehr stellen will, sondern dass die Art und Weise, wie aufgearbeitet wird, nicht richtig verfängt.

Historiker Michael Wolffsohn

„Das Gedenken geht an der Bevölkerung vorbei“, mahnt der Historiker Michael Wolffsohn bereits seit Jahren. Daher müsse es besser an die heutige Zeit und die Zielgruppen angepasst werden. Besonders Jugendliche hätten den Bezug verloren, etwa 50 Prozent wüssten nicht, was Auschwitz gewesen ist.

Aber auch Menschen nichtdeutscher Herkunft könnten kaum etwas mit einer bislang „ausschließlich germanozentrischen“ Erinnerungskultur anfangen. Dabei gehe es sie sehr wohl etwas an. „Führende arabische und islamische Akteure haben mit Hitler-Deutschland freiwillig kooperiert“, erläutert Wolffsohn.

Das heißt, die Täter des Holocaust fanden in zahlreichen deutsch besetzten Ländern und im Nahen Osten Komplizen – Länder, aus denen heute viele Migranten stammen. Es sei also nur konsequent, sie miteinzubeziehen. Auch das gehört zur Integration, sie dürfen nicht außen vor gelassen werden.

Grundsätzlich müsse auch die Sprache überarbeitet werden, derer man sich seit Jahrzehnten bedient. Oft nur noch zur hohlen Floskel verkommen, zur versteinerten Phrase, die ins Leere läuft. „Bei fast allen Rednern zum Thema Holocaust kann ich Ihnen vorhersagen, was sie sagen. Kein Wunder, dass kaum noch jemand hinhört“, sagte Wolffsohn in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Geschichte dürfe aber niemals zum bloßen Ritual verkümmern. Aus seiner Sicht müssen vor allem „emotionale Brücken“ geschlagen werden, um die Menschen zu erreichen. Das Museale müsse dem Lebendigen weichen.

Der Jugend die grundsätzliche Verführbarkeit des Menschen nahebringen

Das ist vor allem auch wichtig, um junge Menschen zu erreichen. Die Aufarbeitung darf nicht im Sinne einer nächsten Geschichtsstunde laufen, sondern das NS-Regime muss auf emotionaler Ebene vermittelt werden. Und zwar nicht nur das Grauen und die Schrecken. Es ist wesentlich zu verstehen, dass die Mehrheit begeistert von Hitler gewesen ist und auch von der Idee, ein auserwähltes Volk zu sein und selbst Teil dieser Vision zu sein.

Der amerikanische Lehrer Ron Jones machte dazu im Jahr 1967 ein Experiment, das unter dem Titel „Die Welle“ bekanntgeworden ist. Er installierte im Schulalltag sozusagen ein „Drittes Reich“ – ohne dass den Schülern das zunächst klar war. Es wurde ganz normal, dass beispielweise jeder jeden verpetzte – wie es hieß, zum Wohle der Gemeinschaft. Das Experiment ist umstritten, und es braucht keine Wiederholung dessen, aber es braucht Hintergrundwissen zu Psychologie und Propaganda.

Zudem ist auch wichtig zu verstehen, dass die NS-Zeit nicht etwas „Fernes“ ist, sondern dass der Mensch immer auch verführbar ist für „große Ideen“ und Manipulation. Hier könnte man mit Jugendlichen Schatten- und Bewusstseinsarbeit machen, und das bereits an Schulen. So ließe sich der Aufarbeitung eine neue Lebendigkeit geben.

Wie steht es mit staatlich legitimierter Hetze und Ausgrenzung heute?

Ohnehin, wie nahe lassen wir das, was gewesen ist, an uns heran? Lebt auch in uns ein möglicher Faschist, der ausbrechen könnte? Vielleicht haben wir mit den Menschen des NS-Regimes mehr zu tun als uns lieb ist? Inwiefern sind wir selbst verführbar für Propaganda und Totalitarismus? Haben doch zuletzt die Pandemie-Jahre gezeigt, wie anfällig eine Gesellschaft ist, in eine Unmenschlichkeit zurückzufallen, die auf staatlich legitimierter Hetze und Ausgrenzung basiert. Das übrigens ist keine Gleichsetzung, sondern die Beschreibung von offensichtlichen Parallelen unter freilich völlig anderen Umständen. Nur weil niemand in Konzentrationslager verfrachtet wurde, ist die Brutalität während der Corona-Ära nicht weniger wahr.

Die stagnierende Aufarbeitungskultur könnte also durch Selbstreflexion eine neue Ausrichtung bekommen. Das Zulassenkönnen der eigenen Abgründe und nicht der Finger, der auf das Gegenüber gerichtet ist; also diese Sache mit dem Balken und dem Splitter.

Und noch etwas fehlt. Das Entscheidende überhaupt. Thematisiert haben Margarete und Alexander Mitscherlich das bereits in ihrem 1967 erschienenen Werk „Die Unfähigkeit zu trauern“. Statt zu fühlen, was die Grauen des Nationalsozialismus bedeuten, hat man sich zunächst in die Verdrängung gerettet und später auf die kognitive Ebene der Erinnerungsarbeit. Doch immer noch sind viel zu viele Tränen ungeweint.

Insofern geht es darum, das Grauen des NS-Regimes emotional so weit an sich heranzulassen, dass eine ganze Gesellschaft darüber tief und ehrlich trauern kann. Eben darum drücken wir uns seit Jahrzehnten, um all die kollektiven Tränen. Wann endlich werden sie geweint? Sicher nicht dort, wo das Gerede vom „Schuldkult“ sie unbedingt verhindern will.

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