Wahrheit statt Zahlen
Jedes Jahr, wenn die katholische Kirche in Deutschland bekanntgibt, wie viele Menschen wieder aus ihr ausgetreten sind, ist das Wehklagen der Amtsträger groß. In der Tat ist der Mitgliederschwund dramatisch. Im Jahr 2021 gab es mit rund 360.000 Austritten sogar einen neuen Negativrekord. Dabei sind noch nicht einmal all jene mitgezählt, die zwar nominell „katholische“ Eltern haben, die aber selbst mangels Taufe gar nicht mehr katholisch geworden sind.
Das Gros der deutschen Kirchenvertreter reagiert auf diese Meldungen einerseits mit den immer gleichen Floskeln des Bedauerns und andererseits mit dem Aufruf, die Kirche müsse sich endlich reformieren. Was in diesem Zusammenhang unter „Reform“ verstanden wird, lässt sich gut an den Dokumenten des sogenannten Synodalen Wegs sowie den Verlautbarungen des Zentralkomitees der deutschen Katholiken in Deutschland ablesen: Gefordert wird unter anderem die Frauenweihe, das Ende des Zölibats sowie, ganz allgemein, ein harter Bruch mit der tradierten Lehre zur Sexualmoral.
Ja, sogar das Priestertum selbst – eines der sieben Sakramente wohlgemerkt! – wird heute von einigen kircheninternen Stimmen zur Disposition gestellt. Kurzum: Die katholische Kirche soll in eine evangelische Kirche 2.0 umgewandelt werden.
Das Problem ist viel grundlegender
Es dürfte zwei Möglichkeiten geben, warum jemand derlei Maßnahmen angesichts der jährlichen Flut an Kirchenaustritten fordert. Entweder glaubt er selbst nicht an ihre Wirksamkeit, möchte aber vor dem erwarteten Untergang der Institution „Kirche“ zumindest noch den Applaus der toleranten und liberalen Welt genießen – eine schlicht zynische Sichtweise.
Oder aber er hegt ernsthaft die Hoffnung, dass im Zuge einer solchen Anbiederung an die herrschenden gesellschaftlichen Vorstellungen auch die Kirchenaustritte weniger würden – ein geradezu irrsinniger Gedanke angesichts der Tatsache, dass auch die evangelische Kirche, die diese Anpassung an die Welt zu großen Teilen bereits vollzogen hat, Massenaustritte zu beklagen hat.
Das Problem ist jedoch viel grundlegender, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Denn selbst wenn sich der Mitgliederschwund durch Verweltlichungsmaßnahmen stoppen oder gar revidieren ließe, könnte diese doch kein gläubiger Katholik befürworten. Denn Jesus ist, wie er selbst Pilatus gegenüber gesagt hat, gekommen, um für die Wahrheit Zeugnis abzulegen (Joh 18, 37). An einer anderen Stelle bezeichnet Er sich sogar als die Wahrheit selbst (Joh 14, 6).
Den Menschen das sagen, was sie nicht hören wollen!
Im Zentrum der Kirche, die Jesus gegründet hat, kann daher immer nur die Verkündigung der Wahrheit stehen. Letztere aber ändert sich nicht, je nachdem, ob gerade mehr oder weniger Menschen für sie empfänglich sind. Ja, die Wahrheit bliebe selbst dann Wahrheit, wenn gar niemand mehr an sie glaubte.
Daher kann und darf es der katholischen Kirche niemals um bloße Zahlen gehen. Wie viele Menschen bereit sind, Kirchensteuern zu zahlen, ist schlicht irrelevant, wenn man dem hehren Anspruch Christi auf Wahrheit gerecht werden will. Stattdessen kommt es darauf an, die katholischen Glaubensinhalte wieder unter die Leute zu bringen.
Die Kirche muss wieder beherzt Zeugnis geben von Christus, der ja ihr eigentliches Oberhaupt ist, und ihre Lehre ohne falsche Scham in die Welt tragen. Das gilt auch und gerade für diejenigen Positionen, die für die Ohren der Welt fremd, falsch oder sogar extrem klingen können.
Ein lauer Glaube wird kein Herz entzünden
Nur so ist Neuevangelisierung möglich; und nur so kann auch die Umkehr all jener Halbgläubigen gelingen, die zwar noch offiziell katholisch sind, die aber weder regelmäßig in den Gottesdienst noch zur Beichte gehen, ja, die vielleicht sogar die gewandelte Hostie für ein bloßes Symbol statt für den wirklichen Leib des Herrn halten. Es müssen nach Jahrzehnten der Vernachlässigung in diesen Bereichen gewaltige Anstrengungen in der Kinder-, Jugend- und Erwachsenenkatechese unternommen werden.
Es ist schlicht verheerend, dass es in der Regel wohlmeinende, aber eben weder besonders fromme noch theologisch gebildete Hausfrauen sind, die die Kinder auf ihre Erstkommunion vorbereiten. Auch die Pastoralreferentinnen, die alternativ bei solchen Vorbereitungskursen zum Zuge kommen, träumen allzu oft von der Feminisierung und Liberalisierung der Kirche, statt sich um die Weitergabe der Grundlagen des Glaubens zu bemühen.
Ganz allgemein gilt für die Katechese: Bei wem der Glaube höchstens noch lauwarm ist, der ist nicht imstande, bei anderen das Feuer des Heiligen Geistes zu schüren.
Sagen können, warum es vernünftig ist zu glauben
Dringend notwendig ist es außerdem, eine katholische Apologetik im deutschsprachigen Raum zu etablieren, die gleichermaßen sensibel wie intellektuell satisfaktionsfähig ist. Dass das möglich ist, kann man am Beispiel der USA sehen, wo es, insbesondere im Netz, vor großartigen Angeboten zur Verteidigung des Glaubens nur so strotzt. Gute Apologetik kann weitverbreitete Zerrbildner des Katholizismus korrigieren und grassierende Vorurteile gegen ihn bekämpfen. Vor allem aber ist sie unerlässlich, um die seriöseren Einwände von Atheisten, Agnostikern und Anhängern anderer Religionen mit guten Argumenten zurückzuweisen.
Zur Glaubensverteidigung sind im Grunde alle Gläubigen der Wahrheitsreligion aufgerufen. Auch sollten Katholiken in der Lage sein, zu sagen, warum es vernünftig ist, zu glauben. Dafür gibt es jedoch nicht das eine Argument. Vielmehr ist es – wie der christliche Autor, Philosoph und Apologet C. S. Lewis mit Blick auf das Christentum im Allgemeinen erklärt hat – eine besondere Kombination aus philosophischen, moralischen, historischen und spirituellen Gründen, die überdeutlich auf die Wahrheit des Christentums hinzeigen.
Unter dem Strich besteht der angemessene Umgang mit dem Mitgliederschwund der Kirche also nicht darin, diese Zahl um jeden Preis zu erhöhen, sondern vielmehr darin, die Wahrheit des Glaubens selbstbewusst zu verkünden und zu verteidigen.