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Charakter und Politik

Alles ist im Fluss. Ach wirklich?

Panta rhei, lehrt der griechische Philosoph Heraklit. Das bedeutet: Alles fließt. Ja, heute scheint alles im Fluss zu sein. Wer das klassische, christlich-abendländische Verständnis von Ehe und Familie als verbindlich anerkennt und einfach schön findet, gilt als hoffnungslos konservativ, vielleicht als ewiggestrig oder gleich – wie alles, was quer zur kunterbunten Diversität steht – einfach nur als „rechts“. Die postmoderne Gesellschaft feiert die Veränderbarkeit und besonders das Selbstbestimmungsrecht des Menschen, die kosmetischen Schönheitsoperationen und das Update beim Geschlechtseintrag. Damit folgt sie einem streng säkularen Credo.

Von Umkehr, von den Wandlungsprozessen im Glauben, nämlich der Abwendung von der Sünde, will bis weit hinein in den Raum der Kirchen kaum noch jemand etwas wissen. Manche Christenmenschen meiden buchstäblich schon den Begriff Sünde wie der Teufel das Weihwasser.

Oder sie suchen nach geschmeidigen, zeitgemäßen Neubestimmungen, wie zum Beispiel der bekannte Journalist Heribert Prantl, der sich in einer Broschüre der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) folgendermaßen dazu äußert: „Sünde ist, was die Liebe und das Leben kaputt macht. Sünde ist das Unheilsregime einer Welt voller Gewalt, die zum Mitmachen zwingt, Angst und Verzweiflung stiftet. Sünde ist das, was vom guten, sinnvollen Leben entfremdet.“ 

Gedanken wie diese könnten nahelegen, dass ein Ehepaar wechselseitig erkennt, in der trüben Zweisamkeit zu vereinsamen, und dann als beglückenden Ausweg den beseligenden, befreienden Ehebruch und natürlich die Scheidung wählt, zumindest wenn „Sünde“, damit die trostlos anmutende Ehe, als Entfremdung vom „guten, sinnvollen Leben“ begriffen wird. Sind die Begriffe, auch im Christentum, erst einmal vollständig verwirrt, so kennt die Vermehrung der existenzialistischen Konfusion keine Grenzen mehr. 

Gestaltet sich der Mensch tatsächlich selbst?

Jean-Paul Sartre, der französische Vordenker dieser linken Theorie, schrieb 1945, unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in „Ist der Existenzialismus ein Humanismus?“: 

„Wenn der Mensch, so wie ihn der Existenzialist begreift, nicht definierbar ist, so darum, weil er anfangs überhaupt nichts ist. Er wird erst in der weiteren Folge sein, und er wird so sein, wie er sich geschaffen haben wird. Also gibt es keine menschliche Natur, da es keinen Gott gibt, um sie zu entwerfen. Der Mensch ist lediglich so, wie er sich konzipiert – ja nicht allein so, sondern wie er sich will und wie er sich nach der Existenz konzipiert, wie er sich will nach diesem Sich-schwingen auf die Existenz hin; der Mensch ist nichts anderes als wozu er sich macht.“

Der Mensch entwirft und gestaltet sich selbst, er macht etwas aus sich und er macht alles neu, sogar das eigene Geschlecht. Tatsächlich? Das Bundesjustizministerium bewirbt – versehen mit dem sympathischen Emblem „Wir feiern 75 Jahre Grundgesetz“ – das Selbstbestimmungsgesetz der Ampelkoalition, das vollständig zum 1. November 2024 in Kraft treten soll. Ausgerechnet am katholischen Hochfest Allerheiligen, einen Tag nach dem Reformationstag und dem Halloween-Trubel. 

In dem Gesetz soll Kindern ab fünf Jahren und pubertierenden Jugendlichen die Änderung des Geschlechtseintrags gestattet werden. Für Minderjährige bis 14 Jahren können die „Sorgeberechtigten“ die Änderungserklärung abgeben. Minderjährige ab 14 Jahre sollen die Änderungserklärung selbst abgeben können. Wollen die Eltern die Zustimmung nicht erteilen, soll sie durch das Familiengericht ersetzt werden können. 

Alles scheint im Fluss zu sein, nicht nur das biologische Geschlecht

Wenn die „Sorgeberechtigten“, früher „Eltern“ genannt, begründet Bedenken äußern, kann eine staatliche Institution diesen bedenklichen Weg in die neue Existenzweise öffnen. Dies entspricht gänzlich Sartres transzendenzloser Überzeugung, dass der Mensch Schöpfer seiner selbst ist, ein unbeschriebenes Blatt, in allem so frei, dass er jegliche Vorgaben überwinden und sich zu dem gestalten kann, wozu er sich machen möchte. Ist das ein Akt der Freiheit? 

Kinder und Jugendliche, im Verbund mit Erwachsenen, die bewusst oder unbemerkt der herrschenden Genderlehre folgen und nicht gegen die geschlechtsübergreifende Vernebelung der Sinne immun sind, wären einer von den Folgen her kaum abschätzbaren Kindeswohlgefährdung ausgesetzt. 

 

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In diesem Sinne widersprach die stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion Dorothee Bär dem Vorhaben der regierenden „Fortschrittskoalition“: 

„Wenn ein 14-Jähriger nur per Selbstauskunft versichern soll, dass er zu seinem Geschlechtswechsel von wem auch immer beraten wurde, ist das lächerlich. Wenn ein 5-jähriges Kind einverstanden sein soll, wenn seine Eltern seinen Geschlechtswechsel beantragen, ist das absurd. Eine nachweislose Alibiberatung ist kein Schutz für Jugendliche! Das Gesetz ist gerade für diese vulnerable Gruppe gefährlich. Viele Jugendliche fühlen sich in der Pubertät in ihrem Körper unsicher, söhnen sich dann aber in den allermeisten Fällen mit ihrem Geburtsgeschlecht aus.“

Auch die AfD-Vorsitzende Alice Weidel äußerte verhement Kritik an diesem skandalösen Gesetz: 

„Mahnende Stimmen beispielsweise dahingehend ignorierend, dass ein solches Gesetz krimineller Identitätsverschleierung Vorschub leiste, erhebt sich die Bundesregierung zum wiederholten Male nicht nur über wissenschaftliche Fakten, sondern stellt sich erneut gegen das Grundgesetz. ‘Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die ihnen zuvörderst obliegende Pflicht’, so lautet es in Artikel 6 [des Grundgesetzes], den das Selbstbestimmungsgesetz ad absurdum führt. Denn widersprechen Eltern dem Wunsch ihres Kindes nach einem Geschlechtswechsel, können zukünftig Familiengerichte gegenteilig entscheiden und einen Wechsel des Geschlechtes anordnen. Schlimmer noch ist die Tatsache, dass sich die Bundesregierung einen Präzedenzfall schafft, der es zukünftig an den unterschiedlichsten Stellen möglich machen wird, staatliche Institutionen zu Erziehungsberechtigten zu erklären, wenn es den ideologischen Zwecken der Ampel dient.“

Alles scheint im Fluss zu sein, nicht nur das biologische Geschlecht, die Identität des Menschen, sondern auch das Grundgesetz. Alice Weidels Verdacht scheint nicht unbegründet zu sein. Der Mensch, so lehrt Sartre, sei nichts anderes, als wozu er sich selbst mache. Doch dies konnte sich nicht einmal der wirkmächtige Wortführer des Existenzialismus vorstellen: Dass der Mensch als Kind oder Jugendlicher Opfer einer Identitätspolitik wird, in der das „Anything goes“ umfassend herrscht. 

Der Bundestag hisste 2022 erstmals die Regenbogenfahne

Der Mensch verfügt über einen unwandelbaren Charakter

Mit dem gesunden Menschenverstand, aber auch mit dem Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant kann Sartres Diktum – das nicht mehr als eine forsch und schneidig vorgetragene These ist, die absolute Gültigkeit beansprucht, aber nicht besitzt – bestritten werden. Der Mensch ist zweifellos nicht nur, was er aus sich macht, sondern er verfügt auch über einen unwandelbaren Charakter. Kant unterscheidet Naturanlage, Temperament und Charakter, die „moralische Anlage“, die eine „Eigenschaft des Willens“ sei, sich an praktische Prinzipien zu binden. Prinzipien, die der Mensch mit seiner Vernunft als „unabänderlich“ versteht und als innere Orientierung des Lebenswandels verstanden wird. 

Die Person, die über einen guten Charakter verfügt, handelt nach Maximen und nimmt die Würde der Menschheit als Maßgabe für die Regel ihrer Taten. Die Einsicht in das Sittengesetz ist Richtschnur des Denkens und Handelns laut Kant: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Die Orientierung an dieser Aussage wird stets aufs Neue eingeübt und bewährt sich auch heute gegen vernunft- und naturrechtswidrige Gesetze. Oder nicht? 

Für die Mütter und Väter des Grundgesetzes wäre es wohl unvorstellbar gewesen, dass ein Mensch mit einem guten Charakter wollen könnte, dass die staatliche Entmündigung der Eltern und die unwissentlich verinnerlichten, ideologisch geformten Selbstgestaltungsphantasien von Kindern und Jugendlichen durch ein allgemein gültiges Gesetz legal und legitim sein sollten – in einem Land, in dem die Würde des Menschen, also von der Empfängnis bis zum natürlichen Lebensende, als unantastbar bestimmt ist. 

Gesellschaftlicher Sprengstoff

Der Deutsche Bundestag hat das Selbstbestimmungsgesetz am 12. April 2024 mit einer Mehrheit von 372 Ja-Stimmen bei 251 Nein-Stimmen und 11 Enthaltungen beschlossen. Geschlossen dagegen, bis auf eine Enthaltung, votierten allein die CDU/CSU-Fraktion, die AfD-Fraktion und das  „Bündnis Sahra Wagenknecht“. Pointiert äußerte sich Sahra Wagenknecht in der Debatte dazu: „Es ist wie immer bei der Ampel: Ideologie triumphiert über Realität. Das Geschlecht wird von einer biologischen Tatsache zu einer Frage der Gemütsverfassung.“ 

Die CDU-Abgeordnete Mareike Lotte Wulf formulierte am selben Tag im Parlament präzise und treffend: 

„Ihr Gesetz, das Sie als gesellschaftlichen Fortschritt gepriesen haben, lässt weiterhin viele Menschen mit Fragezeichen und Kopfschütteln zurück. Ihr Gesetz versteht Geschlecht als etwas jenseits der biologischen Fundierung, und dies nimmt ein Großteil der Menschen im Land einfach anders wahr. Wir halten diese Art von Politik für falsch, mehr noch: Wir halten sie für gesellschaftlichen Sprengstoff.“ 

Kants Imperativ, dass die Maxime des Willens – also die Art, was wir wie entscheiden – so sein sollte, dass sie jederzeit Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung werden könnte, hat von ihrer Aktualität nichts verloren. Die Stimme der Vernunft ist verknüpft mit einem guten Charakter. Eine solche Haltung lässt sich einüben und praktizieren. Vernünftig zu handeln formt, gestaltet und prägt die Lebensführung.

Ein Mensch ist sein ganzes Erdenleben hindurch, von der Empfängnis bis ins pianissimo des hohen Alters, ganz in seinem eigenen, auch fragilen und absolut schützenswerten, biologischen Körper beheimatet. Er wächst heran, reift und lernt, dass es in sich vernünftig ist, gut mit sich selbst und seinen Mitmenschen umzugehen. 

Auch auf seine innere Stimme lernt er zu hören und auf das Naturrecht, die „Ökologie des Menschen“ – wie Papst Benedikt XVI. im Deutschen Bundestag 2011 gesagt hat. So dient jeder Einzelne, auch der Abgeordnete, gewissenhaft dem Gemeinwohl und macht sich auf seine ganz eigene Weise um sein Land verdient.

 

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Kommentare

Kommentar
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Andreas Graf
Vor 2 Monate 1 Woche

"Nein, der Mensch verfügt über einen fragilen und absolut schützenswerten Körper und einen unwandelbaren Charakter. Politiker sollten das berücksichtigen."

Schön, wenn Kommentatoren eine solche Erwartungshaltung an Politiker als erfüllbar ansehen. Die Realität sollte einen längst eines Besseren belehrt haben. Das setzte eine Charakterhaltung voraus.

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Andreas Graf
Vor 2 Monate 1 Woche

"Nein, der Mensch verfügt über einen fragilen und absolut schützenswerten Körper und einen unwandelbaren Charakter. Politiker sollten das berücksichtigen."

Schön, wenn Kommentatoren eine solche Erwartungshaltung an Politiker als erfüllbar ansehen. Die Realität sollte einen längst eines Besseren belehrt haben. Das setzte eine Charakterhaltung voraus.