Das Christkind lebt in der Schweiz
Ein verschlafenes Dorf in der Schweiz, idyllisch eingebettet in Hügel und Wiesen. Ein Ort, der den verheißungsvollen Namen Wienacht trägt. Es klingt wie der Beginn eines Märchens, und für viele Kinder ist es genau das – ein Ort, an dem ihre Briefe ans Christkind auf wundersame Weise ankommen und sogar beantwortet werden.
Die Tradition begann vor rund 30 Jahren. Irgendwann erreichte ein Brief das Postbüro von Wienacht im Kanton Appenzell Ausserrhoden. Die Adresse? Einfach „Christkind, Himmel“. Wer bei der Post auf die Idee kam, den Brief nach Wienacht zu bringen, ist unklar. Aber mangels direktem Draht zum Himmel und damit ohne Zustellmöglichkeit nahm der damalige Poststellenleiter, Willi Würzer mit Namen, die Sache kurzerhand in die eigene Hand.
In der heutigen Hektik wäre seine Reaktion vielleicht anders ausgefallen. Aber anstatt den Brief zu ignorieren oder als unzustellbar zurückzuschicken, nahm sich Würzer die Zeit, eine Antwort zu verfassen. Ob es damals eine spontane Laune war oder das Bedürfnis, einem Kind die Freude zu schenken, spielt keine Rolle. Es war der Startschuss für etwas Größeres.
Briefe aus aller Welt
Heute, viele Jahre später, ist daraus eine Institution geworden. Dass irgendwo im Osten der Schweiz das Christkind Post beantwortet, hat sich längst herumgesprochen. Mit Robert Zellweger, einem ehemaligen Unternehmer, hat mittlerweile ein Nachfolger von Würzer dessen Aufgabe übernommen. Und diese wurde in der Zwischenzeit nicht kleiner.
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Denn die Briefe kommen heute nicht mehr nur aus der Schweiz, sondern aus aller Welt. In der Vorweihnachtszeit türmen sich im kleinen Postamt von Wienacht die Umschläge, viele davon liebevoll verziert mit Glitzer, Sternen und Kinderzeichnungen. Und tatsächlich: Jedes einzelne dieser Schreiben wird beantwortet. Es sind keine vorgefertigten Standardantworten, sondern persönliche Briefe, die auf die Wünsche und Träume der Kinder eingehen.
Man mag denken, dass dieser Brauch nostalgisch oder sogar ein wenig altmodisch ist. Doch genau das macht ihn so wertvoll. In einer Gesellschaft, die zunehmend digitalisiert und entpersonalisiert ist, ist die Vorstellung, einen handgeschriebenen Brief an das Christkind zu verfassen und eine ebenso persönliche Antwort zu erhalten, fast revolutionär. Kinder sind heute früh mit einer Welt konfrontiert, in der vieles rational und messbar sein muss. Doch in den Briefen an das Christkind geht es um etwas anderes: um Fantasie, um Hoffnung und um den Glauben daran, dass Wünsche erhört werden.
Magie per Post
Für die Eltern, die diese Briefe oft gemeinsam mit ihren Kindern schreiben, ist es eine Gelegenheit, innezuhalten. Sie erleben den Zauber aus einer anderen Perspektive – nicht mehr als Kind, sondern als Teil des Wunders. Und in Wienacht ist es mehr als nur eine ehrenamtliche Tätigkeit. Es geht darum, ein Stückchen Magie in die Welt zu tragen.
Besonders berührend sind dabei die Briefe von Kindern, die sich nicht nur Spielsachen wünschen, sondern auch Frieden für ihre Familien oder Gesundheit für einen kranken Verwandten. Solche Botschaften erinnern uns daran, wie rein und ehrlich Kinderträume sein können – und wie sehr wir uns davon inspirieren lassen könnten.
Doch die Bedeutung dieses Brauchs reicht über die kindliche Freude hinaus. In einer Zeit, in der Stress und Einsamkeit zu den großen Herausforderungen gehören, ist diese Tradition auch für Erwachsene ein Trost. Die Briefe an das Christkind sind ein Ausdruck von Sehnsucht, der nicht nur den Kindern, sondern auch den Helfern Mut macht. Sie zeigen, dass in der anonymen Welt von E-Mails und Algorithmen die menschliche Wärme nicht verloren gehen muss.
Ein Funken Hoffnung
Natürlich ist die Poststelle in Wienacht nur ein kleiner Punkt auf der Landkarte. Doch gerade solche Geschichten machen die Schweiz aus. Sie verbinden die Besinnlichkeit der Tradition mit der Hoffnung, dass es inmitten aller Probleme dieser Welt noch Raum für Träume gibt. Und vielleicht, nur vielleicht, könnte dieser kleine Brauch ein Vorbild sein: Nicht, weil man ihn kopieren sollte, sondern weil er uns daran erinnert, wie viel Bedeutung in den kleinen Gesten steckt.
Es wäre falsch zu behaupten, dass Briefe an das Christkind die Welt retten können. Aber sie können etwas anderes: Sie können Herzen öffnen, den Alltag für einen Moment ausblenden und einen Funken Hoffnung entfachen – nicht nur in Wienacht, sondern überall, wo Menschen bereit sind, ein wenig an Wunder zu glauben. Und manchmal, gerade in dieser oft so zynischen Welt, ist das doch schon genug.
Übrigens: In Wienacht werden die brieflich formulierten Wünsche nach Spielzeug oder anderen weltlichen Dingen nicht erfüllt. Hier geht niemand auf Shoppingtour und verschickt Pakete. Alles, was zurückkommt, ist ein herzlicher, individueller Gruß. Aber es ist anzunehmen, dass ein persönlicher Brief vom „Christkind“ bei den meist kleinen Empfängern weit mehr auslöst als ein Geschenk mehr unterm Weihnachtsbaum. Was für ein Geschenk in diesen Zeiten. Hoffentlich erhalten viele Kinder dieser Tage Post aus Wienacht.
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