Direkt zum Inhalt
Kolumne „Mild bis rauchig“

Königskinder

Das Nebeneinander wirkt ein wenig wie das Gegenüber der berühmten Königskinder. Sie sind in Sichtweite, aber sie kommen nicht wirklich zusammen. Obwohl sie es seit langer Zeit versuchen: die beiden christlichen Bekenntnisse des Protestantismus und des Katholizismus.

Nirgendwo wird das deutlicher als in der zeitlichen Abfolge des Reformationsfestes der evangelischen Kirche am 31. Oktober und des katholischen Allerheiligentages am 1. November. Beide sind soeben wieder vorbeigezogen, und beide bündeln wie in einem Brennglas die wesentlichen Unterschiede der beiden Bekenntnisse. Denn die Protestanten lehnen in der Tradition Martin Luthers und der anderen Reformatoren die Heiligenverehrung strikt ab. Die Vorstellung, dass es Menschen gibt, die sozusagen im Vorzimmer des lieben Gottes als fürsprechende Vermittler sitzen, um die Bitten der Menschen zu Gott weiterzutragen, empfinden sie als geradezu frevelhaft.

Demgegenüber pflegen die Katholiken einen ungezwungenen Umgang mit denjenigen Brüdern und Schwester, von denen sie glauben, dass sie bereits in der Herrlichkeit des Himmels leben. Und sie kommunizieren sogar mit ihnen, und zwar so, wie man es auch mit irdischen Brüdern und Schwestern tut. Man denkt nicht nur an sie. Man bezieht sie ganz praktisch in das Leben ein. Man spricht mit ihnen und trägt ihnen Anliegen vor mit der Bitte, diese Anliegen am Throne Gottes zur Sprache zu bringen.

„Bitte für uns!“ – und Protestanten gruseln sich

Am deutlichsten tritt dies in der Allerheiligenlitanei vor Augen, in der man – geordnet nach bestimmten Gruppen von Heiligen – die einzelnen Namen vorträgt und ruft: „Bitte für uns!“ Die Menge an Fürsprechern ist groß und bunt: Patriarchen und Propheten, Apostel, Evangelisten, Päpste und Bischöfe, Diakone, Priester, Lehrer der Kirche, Märtyrer, Jungfrauen und Mönche, Väter und Mütter, Bettler und Jugendliche. Spätbekehrte und Frühvollendete, spezielle Heilige aus der Region und die Namens- und Schutzpatrone von Pfarreien werden angerufen.

Und wie beim Anruf mit dem Telefon sind Katholiken sehr sicher, dass die Heiligen erreichbar sind. Eine – wenn man so will – gigantische WhatsApp-Gruppe, die als Status der einzelnen heiligen Mitglieder der Gruppe zu erkennen gibt: „verfügbar“ und „online“.

Anders die Protestanten. Sie überkommt genau bei dieser Vorstellung das Gruseln, weil sie diese Instanz des Heiligenhimmels nicht als Vermittlungsinstanz, sondern als gefährliche Zwischeninstanz auf dem Weg zu Gott empfinden, die den Einzelnen versuchen könnte, den Weg zum Himmel eher vom „Vitamin B“ der Heiligenfürsprache als von der eigenen Lebenshaltung abhängig zu machen. Denn die Reformatoren haben gelehrt, dass es auf das reine Wort Gottes ankommt, das jeder einzelne für sich „solo“ zu verwerten hat und dabei keine Werke oder womöglich andere sekundäre Instanzen in Stellung bringen darf.

Der Allerheiligentag ist wie eine katholische Antwort auf den Reformationstag

Martin Luther findet für diese (vermeintliche) Befreiung der Christenmenschen von einer vermittelnden kirchlichen Gnadenmembran und von der Nutzbarmachung der guten Werke von Heiligen und deren Fürsprache in einer Schrift klare Worte: „Denn Gott will nicht anders geehrt werden, als dass ihm die Wahrheit und alles Gute zugeschrieben werde, wie er wahrlich ist. Das aber tun keine guten Werke, sondern allein der Glaube des Herzens. Darum ist er allein die Gerechtigkeit des Menschen und die Erfüllung aller Gebote.“ (Von der Freiheit eines Christenmenschen. Zum Dreizehnten). Es soll mit anderen Worten nichts zwischen dem Menschen und dem reinen Wort Gottes stehen und von ihm ablenken.

Katholiken hingegen kennen nicht nur den Heiligenhimmel, sondern holen ihn auf die Erde herab, indem sie den Glauben an einen Himmel mit Engeln und Heiligen in ihrer Liturgie auf eine kultische Weise zelebrieren. Sie glauben: die Engel und Heiligen sind unsichtbar dabei, wenn man die Liturgie vollzieht. Das, was die liturgische Versammlung in dieser Welt in kultischen Formen begeht und feiert, ist sozusagen die sichtbare Seite dessen, was sich gleichzeitig in der transzendenten Realität des Himmels vollzieht – eine irdische, sichtbare „Teilnahme an der himmlischen Liturgie“, wie es das Zweite Vatikanische Konzil sagt.

Der Allerheiligentag am 1. November ist damit – nicht zuletzt schon durch seine zeitliche Nähe zum Reformationsfest am 31. Oktober – so etwas wie die katholische unverkrampft selbstbewusste Antwort auf die evangelische Entrümpelung der Theologie – und in deren Folge auch der Kirchengebäude und der Gottesdienstabläufe durch Martin Luther und seine reformatorischen Kollegen.

Die Vollendeten sind nach wie vor auch für die anderen da

Der evangelische Arzt und Kabarettist Eckart von Hirschhausen hat es einmal in einem Interview zum Reformationsfest im evangelischen Magazin Chrismon über seine Kirche auf den Punkt gebracht: „Überhaupt“, so sagt er, „haben wir weniger Rituale. Andererseits bin ich als […] Arzt überzeugt: der Mensch braucht auch den Zauber und das Mysterium. Da haben wir Protestanten das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und auf vieles verzichtet, was von direkter Wortverkündigung ablenkt.“

Lebendige Verbindung zwischen Lebenden und Toten: Szene an Allerheiligen 2024 an der Allee der Verdienten auf dem Powązki-Friedhof in der polnischen Hauptstadt Warschau

„Ja, für Kinder ist katholisch einfacher als evangelisch. Weihrauch ist die Nebelmaschine der Frühmoderne. […] Die Inszenierung eines Gottesdienstes hat ganz viel mit der eines Rockkonzertes gemeinsam. Mit den Kirchenfenstern hat man schon vor der Erfindung der Scheinwerfer angefangen, eine Dramaturgie mit gefärbtem Licht zu entwickeln. […] Kein Wunder, dass die meisten Kabarettisten früher Ministranten waren!“ (Chrismon spezial, 31.10.2015)

Diese protestantische Stellungnahme lässt aus unverdächtiger Quelle erkennen, worum es am katholischen Allerheiligentag geht. Nämlich um die wenig komplizierte und sehr naheliegende menschliche Vorstellung aus der katholischen Glaubenswelt, dass die Menschen, die vor uns gelebt haben und die gute Christen waren, weil sie den Versuchungen, an Gott vorbeizuleben, widerstanden haben, nach ihrem Tod sozusagen einen Raum weiter gezogen sind, dorthin, wo das Leben in Fülle ist. Und dass sie deswegen – entsprechend dem, was sie schon auf Erden als Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe gelebt haben – auch im Himmel für uns da sind.

Sie sitzen eben nicht stumm auf den Wolken und sind in einsame Frömmigkeit und Anbetung versunken. Sie sind nach wie vor auch für die anderen da. So wie sie auf Erden Vorbilder und Helfer waren, sind sie es auch im Himmel. Und weil der Himmel nicht weit weg ist, sondern jetzt schon da, darf man ihm und seinen Bewohnern auch jetzt schon den Hof in sichtbaren Formen und Farben machen.

Dieses Fest macht bewusst, dass es ein Ziel gibt

Darum ist das Fest Allerheiligen das katholische Fest par excellence. Es denkt nicht nur an bedeutende Christen der Vergangenheit. Es feiert mit ihnen die Heiligkeit Gottes und die Chance, durch gute Werke Anteil an Ihm in der Ewigkeit zu finden. Allerheiligen ist deswegen nicht die Gedenkfeier an die große Schar der christlichen Verdienstordensträger. Allerheiligen ist die gigantische gemeinsame Feier beider Kirchen – der irdischen und der himmlischen – in der Liturgie auf Erden.

Diese Feier macht bewusst, dass es ein Ziel gibt. Und dass der Weg durch das Labyrinth des Lebens sich lohnt, weil alle Anstrengungen, den richtigen Pfad zu finden und alle Hindernisse in Hingabe tapfer zu überwinden, schlussendlich in die Freiheit der Kinder Gottes, in den Himmel, führen. Die Heiligen, die in der Liturgie real und nicht bloß in den Köpfen der Feiernden anwesend sind, wollen nicht ablenken von Gott, sie wollen als Jenseitige den Hiesigen helfen, Gott zu finden und auf dem Weg zu Ihm nicht müde zu werden.

Sie rufen uns von der anderen Seite aus zu: Bleibt treu! Macht es wie wir: haltet die Gebote! Stärkt Euch mit den Sakramenten! Schätzt das Irdische nicht höher als das Himmlische! Habt keine Angst vor dem Tod, denn er ist der Geburtstag für das Leben im Himmel! Und sie stellen gegen die Reformatoren klar: Gute Werke lohnen sich, denn sie sind die menschliche Voraussetzung für die Vollendung, die Gott dem Menschen durch Seine Gnade schenkt.

„Die Geiselhaft war für mich wie eine Wiedergeburt“

Kein geringerer als der muslimische Schriftsteller Navid Kermani hat dies in seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche anlässlich seiner Entgegennahme des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels auf den Punkt gebracht. Darin verwies er auf das Lebenszeugnis eines zeitgenössischen Märtyrers, des syrischen Priesters Jacques Mourad, der im Juli 2013 von radikalen Moslems verschleppt wurde. Dabei wurde er zwar nicht getötet, aber dennoch grenzt das von ihm Durchlittene knapp an das blutige Martyrium. Kermani stellte dabei heraus, wo der Grund der Tapferkeit dieses Priesters lag: in gelebtem Glauben, in verinnerlichter Hoffnung und in unbeirrbarer Liebe, mit anderen Worten in dem, was man Heiligkeit nennt.

 


> Abonnieren Sie den Corrigenda-Newsletter und erhalten Sie einmal wöchentlich die relevantesten Recherchen und Meinungsbeiträge.

 

Als Pater Jacques aus der Geiselhaft freigelassen wurde, berichtete er, wie es ihm in der Hölle des IS erging. Und vermeldete, dass sein Glaube und seine Hoffnung – und letztlich die Kraft seiner aus dem Glauben fließenden Liebe – ihn hat in seinem Martyrium treu sein lassen: „Auch als man mich mit gefesselten Händen und verbundenen Augen verschleppt hat, habe ich zu meiner eigenen Überraschung gedacht: ich befinde mich auf dem Weg in die Freiheit. Die Geiselhaft war für mich wie eine Wiedergeburt.“

Diese Lebenshaltung ist das, was man Heiligkeit nennt – eine Christusförmigkeit, die glaubt, hofft und liebt, so dass das Irdische leicht und nicht zum Gegengewicht gegen das Himmlische wird. Pater Jacques verbürgt in seinem Zeugnis das, was die Heiligen an ihrem Fest am 1. November eines jeden Jahres sagen: Wer treu ist, ist nicht verloren, weder hier noch in der Ewigkeit, wer mit und in Christus ruht, erwartet in der Stunde seines Todes nicht das Ende, sondern den Beginn eines neuen Lebens, eines Lebens, das die Gemeinschaft der Christen nicht zerstört, sondern vollendet.

Wenn sich die Protestanten trauen würden, die Heiligen mit „Bittet für uns“ anzurufen

In dieser Hinsicht lenkt der Gedanke, dass die Heiligen nach wie vor lebendige und greifbare Glieder der Kirche sind, nicht ab von Jesus Christus. Er führt auch keineswegs strukturell in die Bigotterie, wie die Reformatoren in einem historischen Tunnelblick zu erfahren glaubten, sondern in die liebende Verehrung aller, die in den Himmel vorangegangen sind und mit ihnen zur Anbetung Jesu Christi, den sie wie eine Monstranz in ihrem Leben und Sterben sichtbar gemacht habe.

Und wenn es nach dem Gesagten den Wunsch gibt, dass die beiden konfessionellen Königskinder endlich wieder zusammenkommen, da, wo sich in der Reformation des 16. Jahrhunderts ihre Vorfahren auseinandergelebt haben, dann wäre es meine Empfehlung, dass sich in allen möglichen ökumenischen Bemühungen auch die Protestanten trauen würden, die Erlösten des Himmels einmal probeweise mit „Bittet für uns!“ anzurufen.

Einen Versuch wäre es wert, wie ich finde, das Ganze einfach auch mal in die Hände derer zu legen, die schon im Himmel sind. Damit sie ihre Verdienste, ihre Heiligkeit und ihre Fürsprache nutzen, damit wieder zusammenwächst, was zusammengehört.

 

› Kennen Sie schon unseren Corrigenda-Telegram- und WhatsApp-Kanal?

50
8

7
Kommentare

Kommentare