Auswege aus der Überdosis Moralin
Scharfsinnige Analysen verjähren nicht. Das ist gut so – und zugleich bedauerlich, denn es zeigt an: Politische Probleme kehren wieder oder verschärfen sich sogar. Bezeichnenderweise im Orwell-Jahr 1984 hielt der Zürcher Philosoph Hermann Lübbe in Salzburg einen Vortrag über „Politischen Moralismus“, der zuletzt 2019 als Essay wieder aufgelegt wurde, über den „Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft“.
1984 schürten führende Moralapostel, so etwa prominente Vertreter der evangelischen Kirche, darunter Dorothee Sölle und Martin Niemöller, oder streitbare linke Künstler und Schriftsteller, Helden der Friedensbewegung der 1980er Jahre wie Heinrich Böll, Joseph Beuys und Günter Grass, im Verbund mit Politikern wie Oskar Lafontaine die Angst vor der Stationierung der Pershing-II-Raketen in Deutschland nach dem NATO-Doppelbeschluss. Sie argumentierten moralisierend, moralinsauer, und sie traten auf als die unantastbar Guten, als untadelige Ritter des Mainstreams und brachten Hunderttausende Bürger zu Demonstrationen auf die Straße.
Kollektive Empörung als moralischer Ausweis
Thorsten Bohnacker, Friedensforscher an der Universität Marburg, stellte fest, dass die Friedensbewegung ihre Forderungen stets an den Westen gerichtet habe. Auf dem linken Auge also waren die deutschen Pazifisten blind.
Wer sich heute auf der Höhe der Zeit wähnt und mit „gendersensiblem“ Gesinnungspathos statt kritischer Reflexion die Umstände der Gegenwart beurteilt, bekennt sich emphatisch zu „Brandmauern gegen rechts“. Im Namen der einzig wahren säkularen Moral erscheint der kollektive Empörungsrausch als Ausweis der vermeintlich absolut richtigen Gesinnung, die jede ernsthafte Diskussion entbehrlich zu machen scheint. Wie könnte etwa ein Befürworter der „Energiewende“ unmoralisch sein?
Die Massentötung von Zugvögeln durch Windkraftanlagen etwa wird gelegentlich von unverantwortlich handelnden politischen Verantwortungsträgern bedauert, bloße Kollateralschäden, denn wenn alles für ultimative, aber mitnichten evidenzbasierte Maßnahmen zum Klimaschutz eingesetzt werden soll – heute gelten unsere Umweltvorschriften in Deutschland, morgen vielleicht in der ganzen Welt –, so muss der klassische Natur- und Artenschutz hintanstehen. Der herrschende Gesinnungsmainstream weist jede Skepsis rigoros und reflexionslos ab.
Klimamoral rechtfertigt Verstoß gegen Recht und Ordnung?
Ein – zugespitzt formuliert – menschlicher Klimaschädling, der das Credo zur sogenannten Energiewende verweigert, ist per se unmoralisch, vermutlich „rechts“ und somit jenseits der Brandmauer zu Hause. Die Wertschätzung gegenüber der Meinungsfreiheit endet dann dort, wo der Radius der Mainstreammeinung endet.
Das moralisch vernichtende, moralinsaure Urteil ist schnell gefällt, der Philosoph Hermann Lübbe analysierte bereits 2001: „Der Moralismus schätzt kurze Prozesse mit harten Urteilen und knapper Begründung.“
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1984 – also vor 40 Jahren – legte der in Aurich 1926 geborene und heute im hohen Alter in der Schweiz lebende Philosoph dar, dass die Neigung zunehme, auf konkrete Gegenwartsprobleme „moralisierend zu reagieren“ und eine Ideologisierung des Bewusstseins zu forcieren. Der gläubige Rechthaber meint, guten Gewissens mit einer Überdosis Moralin intus, rücksichtslos Straßen blockieren zu dürfen, ja zu müssen, weil diese Aktion mit der guten Sache identifiziert wird. Die hohe Klimamoral rechtfertigt den Verstoß gegen Recht und Ordnung.
„Pathos der Menschheitsrettungsmoral“ hilft nicht, Probleme zu lösen
Der Prinzipienreiter weicht politisch umstrittenen Sachfragen aus, indem er auf eine moralische Ebene wechselt und die bestehenden Probleme den Böswilligen zuweist, die also unmoralische Ziele verfolgten. Der Klimakleber aus der Generation Protest nimmt für sich in Anspruch, die Allgemeinheit und zugleich künftige Generationen selbstbewusst zu vertreten und kreativ zu verteidigen. Daraus wird der Anspruch abgeleitet, etwa für die „Letzte Generation“, Straßen zu blockieren und damit auch Zufahrtswege für Rettungswagen zu versperren, zum Beispiel am 24. April 2023 in Berlin. Doch der Klimakleber kann nicht anders, er muss protestieren – ohne Rücksicht auf Verluste, im Namen der Moral, der Menschheit und der künftigen „Letzten Generationen“.
Bereits 1984 legte Hermann Lübbe dar: „Moral oder, als Gegenteil, Unmoral, nämlich die böse Absicht, die wissentlich und willentlich auf Kosten anderer, ja auch Menschheitskosten, ihren Vorteil sucht, ist ein überaus schwacher Erklärungsgrund für die Misslichkeiten unserer zivilisatorischen Lage.“
Lübbe warb damals für Realitätssinn, indem er die „Zivilisationslasten“ – wie etwa das Ozonloch oder den sauren Regen – als „handlungstheoretische Charakteristik von Nebenfolgen“ bestimmte, entstanden durch den oft ungezügelten, oft ökonomisch auf Gewinnmaximierung zurückgehenden Umgang mit den Lebensgrundlagen. Das „Pathos der Menschheitsrettungsmoral“, die religiöse, mitunter fanatische Züge aufweist, ist dabei alles andere als hilfreich.
Kirchen stimmen in die Litanei der Moralisten mit ein
In diese Litanei der Menschheitsrettung stimmen auch die christlichen Kirchen mit ein, so etwa das Bistum Hildesheim, das gewissermaßen das religiöse Kerngeschäft vernachlässigt und nicht die Neuevangelisierung, also die Verkündigung des christlichen Glaubens in einem säkularen Zeitalter, als Ziel ausgibt, sondern das energetische Sanieren von Gebäuden.
Die Diözese wirbt für das Projekt „Schöpfungsgerecht 2035“: „Uns für die Schöpfung einzusetzen ist ureigenste Verantwortung und Aufgabe als Kirche. Unser großes Umwelt- und Klimaziel ist daher, bis 2035 im Bistum schöpfungsgerecht zu sein: Das heißt, das Bistum ist CO2-neutral, die Gebäude sind gedämmt, Strom und Wärme sind erneuerbar. Wir fahren mit dem Rad oder elektrisch, in den Pfarrgärten grünt und blüht es, und wir fühlen uns wieder mit der Natur verbunden. Wir packen es an – gemeinsam.“ Die Aktivisten wissen sich, gemäß diesen salbungsvollen Worten, der sogenannten „Erd-Charta“ verpflichtet.
Wer die Frage nach Gott stellt, muss anderswo suchen, so scheint es. Die Schöpfungsmoralisten haben keine Zeit dafür, ihr Ziel ist ein Klimaziel – und konzentriert sich, mit Lübbe gesprochen, auf schlicht „ideologische Maßgaben“. Wer diesen moralinsauren Absichten widerspricht, wird Empörung dafür ernten, „dass er sich gestattet, eine solche Meinung zu haben und zu äußern“.
Plädoyer für nüchternen Realismus
Die „moralische Integrität" wird umgehend bezweifelt, sobald ein Christ in der Welt von heute dafür einsteht, weder dem Genderstern zu huldigen noch sich zu dem Götzen des menschengemachten Klimawandels zu bekennen, sondern keinem anderen Stern zu folgen als dem Stern von Bethlehem.
Hermann Lübbe, der große Kritiker des politischen Moralismus, machte 1984 und in der Neuauflage seines Buches 2019 „das appellative Bemühen, die Verbesserung gesellschaftlicher Zustände über die Verbesserung moralischer Binnenlagen, durch pädagogische und sonstige Stimulierung guter Gesinnung zu erwarten“, als ideologische Haltung kenntlich, bei der Andersdenkende stigmatisiert werden.
Virulente politische Probleme – etwa in der Migrationspolitik – können demgemäß auch nicht durch eine staatlich verordnete, moralisch als alternativlos ausgegebene und medial umjubelte „Willkommenskultur“ wie im Herbst 2015 gelöst werden, sondern – mit Lübbe gesprochen – erfordern „eine Verbesserung rechtlicher und ordnungspolitischer Institutionen in der Absicht, uns zu bewegen, auch aus Eigeninteresse zu tun, was das Gemeinwohl erfordert“. Hermann Lübbes Plädoyer für nüchternen Realismus aus dem Jahr 1984 ist noch immer aktuell und ein wichtiges Korrektiv gegen den herrschenden politischen Moralismus.
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Korrektur: Von der Moral hat sich nur die falsche protestantisch-freimaurerische Konzilskirche losgelöst. Das ist nicht die "Kirche". Deswegen ist die Moral derart entstellt und pervertiert.
Korrektur: Von der Moral hat sich nur die falsche protestantisch-freimaurerische Konzilskirche losgelöst. Das ist nicht die "Kirche". Deswegen ist die Moral derart entstellt und pervertiert.