Direkt zum Inhalt
40 Jahre Märtyrertod von Jerzy Popiełuszko

Geheimnis des Glaubens: Im Tod ist das Leben

Geheimnis des Glaubens: Im Tod ist das Leben. Es hat etwas auf sich mit diesem oxymoronischen Kehrvers aus der römisch-katholischen Liturgie. Tot – und doch lebendiger als je zuvor. Als Seelsorger im Warschauer Stadtteil Żoliborz wurde der polnische „Solidarność“-Priester Jerzy Popiełuszko bis zur Erschöpfung von Hilfe- und Ratsuchenden bedrängt, genauso wie er selbst ohne Rücksicht auf sich hinausging zu den Notleidenden während der bleiernen Jahre des Kriegsrechts im kommunistischen Volkspolen. 1984 strömten Zehntausende zusammen, um seinen Predigten zuzuhören.

Vierzig Jahre nach seiner Ermordung durch den SB, den polnischen Ableger des KGB, zieht an diesem Samstag ein großer Gedenkzug mit Tausenden Teilnehmern zu Ehren Popiełuszkos durch die Warschauer Innenstadt zur Kirche nach Żoliborz. An dem anschließenden Gottesdienst nimmt auch Polens Staatspräsident Andrzej Duda teil, nachdem er einen Kranz am Grab Popiełuszkos abgelegt und unmittelbar vor Messbeginn zu den Besuchern gesprochen hat. Die Polnischen Streitkräfte stellen eine Ehrenwache.

Polens Staatspräsident Andrzej Duda am Grab Jerzy Popiełuszkos während der Feierlichkeiten zum 40. Todestag des 2010 seliggesprochenen Priesters. Warschau, 19. Oktober 2024

Das Grab ist von Betern belagert. Vor zehn, vor 25, vor dreißig Jahren war es nicht anders. Immer stehen frische Blumensträuße in mehr als zwei Dutzend Vasen an der Umfriedung. Am sanften Grabhügel auf dem Kirchhof von St. Stanislaus Kostka unweit des Wilson-Platzes herrscht an jedem Tag ein ständiges Kommen, Verweilen und Gehen. Die gewöhnlich dort stehenden zwei Kniebänke sind heute weggeräumt, um mehr Platz zu schaffen.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel ergänzt und von der Redaktion empfohlen wird. 

Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Könnten wir Menschen mit Augen des Geistes sehen, wir würden über dem Grab wohl Engelscharen wahrnehmen, ohne Unterlass Bitten gen Himmel tragend. An die eine Million Menschen sollen am 3. November 1984 Jerzy Popiełuszko das letzte Geleit gegeben haben, 23 Millionen Menschen aus aller Welt inzwischen sein Grab besucht haben, darunter Regierungschefs, Staatspräsidenten, Kardinäle und Päpste.

Die Haustür der Familie Popiełuszko: „Durch diese Tür werden Millionen gehen!“

Die Zahlen nennt Adam Nowosad, der durch das Jerzy-Popiełuszko-Museum in der Unterkirche führt, ein Museum, in dem Türen eine Schlüsselrolle spielen und das Türen des Herzens öffnen kann. Nowosad lernte mit kaum dreißig den späteren Märtyrer des Glaubens kennen, wurde sein Mitarbeiter in der Pfarrei und sagte später im Seligsprechungsprozess aus. Das unfassbar dicke Buch mit den Akten liegt zum Bestaunen in einer Vitrine.

Einer Gruppe Schulkindern versucht er gerade, jene Zeit vor vierzig Jahren nahezubringen, als ihre Eltern und Großeltern in Armut und Unfreiheit lebten, man nichts sagen durfte, das Land eine russische Kolonie hinter dem Eisernen Vorhang war mit sowjetisch geklitterter Geschichte und das Fernsehen ein Synonym für Lüge und Propaganda. Als ein Sohn des polnischen Volkes Papst in Rom wurde und einzig die Kirche ein Hort der Wahrhaftigkeit war, aus deren Geist dann die Freiheitsbewegung „Solidarność“ (deutsch: „Solidarität“) entstand.

 

> Abonnieren Sie den Corrigenda-Newsletter und erhalten Sie einmal wöchentlich die relevantesten Recherchen und Meinungsbeiträge.

 

„Stellt euch vor, es gab kein Internet, keine Smartphones, kein Facebook, und nicht jede Familie hatte Telefon. Und doch verbreitete sich die Nachricht von den ungewöhnlichen Messen hier in der Kirche schnell in der ganzen Stadt … Wisst ihr, wie? Von Mund zu Mund! Man erzählte es den Menschen, denen man vertraute.“

Jerzy Popiełuszko an der Tür des Pfarrhauses von St. Stanislaus Kostka in Warschau

Im Museumseingang grüßt Jerzy Popiełuszko von einem Großfoto, aufgenommen zu einer Zeit, als schon Tausende an den Lippen des begnadeten Predigers hingen: Unter der mit Kreide aufgetragenen Dreikönigssegnung „K + M + B + 1983“ steht „Pfarrer Jerzy“, wie er in Polen nur genannt wird, an der Tür des Pfarrhauses, einen dicken Schal um den Hals, etwas erschöpft lächelnd.

Man tritt in das Lebensbild des künftigen Heiligen durch eine dunkelgelb gestrichene, hölzerne Haustür. Es ist die originale Tür zum Bauernhaus der Familie Popiełuszko, gelegen in einem Dörfchen gut 50 Kilometer nördlich von Białystok. Der Mann, der von der Mutter Marianna Popiełuszko die Tür als Ausstellungsstück erbat, habe auf ihre verwunderte Frage, was man denn damit anstellen wolle, geantwortet: Durch diese Tür werden Millionen gehen!

Am Ausgang des Museums mahnt Herr Nowosad die Kinder: „Tragt euren Namen in das Buch ein! Und gebt acht, was hier auf der Tür steht, vergesst es nicht: „Überwinde das Böse mit Gutem“. Auf dem hellen Tor steht das Motto des Geistlichen in vielen Sprachen: „Zło dobrem zwyciężaj“, „Overcome evil with god“, „Vinci il male con il bene“. Aus dem Keller, aus den Katakomben, ja, wie aus der Untergrundkirche tritt der Besucher hinaus ins helle Licht des Tages, gestärkt durch das Lebenszeugnis und aufgerufen, demselben Herrn Jesus zu dienen, dem Pfarrer Jerzy nachgefolgt ist bis zum Äußersten.

Der Tatort am Weichseldamm bei Włocławek nachgebildet in einem abgedunkelten Raum der Unterkirche, ein Foto des geschundenen Leichnams Popiełuszkos; Licht strahlt vom Kreuz

Das ist schwer, das Böse mit Gutem zu überwinden, machen wir uns nichts vor, lügen wir uns nicht in die Tasche. Adam Nowosad hat den Kindern auch den dunkelsten Raum gezeigt: Hier ist der Tatort bei Włocławek nachgebildet: der Weichseldamm mit Geländer, das tiefe Wasser, in das die Schergen des roten Regimes den Priester in der Nacht vom 19. auf den 20. Oktober 1984 geworfen haben. Eine dramatisch rot ausgeleuchtete Vitrine zeigt Hemd, Hose und Schuhe, die Popiełuszko während des Sterbens trug, und die Seile und Steine, die an seine Beine gebunden waren.

 

› Folgen Sie uns schon auf Instagram oder LinkedIn?

 

Das Wasser ist sehr dunkel, schwarz wie die Sünde. Licht geht allein von einem Kreuz aus, das die Ausstellungsmacher kongenial auf das Wasser projiziert haben. Nowosad macht die Kinder darauf aufmerksam, auf das Kreuz. Und auf noch etwas: „Was hört ihr? Einen Herzschlag, nicht wahr? Das Leben!“ Durch den dunklen Raum tönt unaufdringlich das Pumpern eines Herzens. Geheimnis des Glaubens: Im Tod ist das Leben.

Die Arbeiter studierten nicht Marx und Engels, sondern verlangten nach der Botschaft Christi

Im Gedächtnis des Volkes ist Jerzy Popiełuszko vor allem lebendig geblieben durch seine Predigten, die er in großer Kraft und Deutlichkeit an seiner Wirkungsstätte hielt. Als er im Mai 1980 seinen Dienst in St. Stanislaus Kostka antrat, ein freies Zimmer im Pfarrhaus bezog, hatte Propst Teofil Bogucki einen zunächst durchwachsenen Eindruck. In seinem Tagebuch hielt der Propst fest:

„Er kam in die Pfarrei, einfach, schüchtern, als ob er Angst hätte. Im Geiste fragte ich mich, welchen Nutzen ich von ihm wohl haben würde. Er predigte nicht gern und vermied es zu singen. Aber etwas strahlte von ihm aus. Etwas zog mich zu ihm hin, wir hatten etwas gemeinsam. Er war anders als alle anderen, obgleich direkt und so ganz eigen.“

Bogucki musste nur wenige Wochen abwarten, bis der Neue aus sich herauskam und zeigte, wer er war.

Mit den Arbeitern der nahegelegenen Warschauer Stahlhütten trat er im politisch heißen August 1980 in immer engere Verbindungen und Freundschaften. Während der Streiks, die vor allem durch Preiserhöhungen auf Fleisch ausgelöst wurden, feierte er eine heilige Messe auf dem Werksgelände und hörte die Beichte – für die roten Machthaber ein ungeheures Ärgernis: Dass die Arbeiter, die vorgeblich herrschende Schicht des Arbeiter-und-Bauern-Staates, statt Marx und Engels zu studieren nach der Frohen Botschaft Christi verlangten!

„… dann entstand das Bedürfnis, bei diesen Menschen zu bleiben“

„Rückhaltlos setzte er sich für die Arbeiter ein“, erinnerte sich später Bogucki. „Ihre Sache war seine Westerplatte“ – ein hingebungsvoller Kampf bis zum Letzten. „Diesen Tag und diese heilige Messe vergesse ich bis zu meinem Lebensende nicht“, bekannte Popiełuszko später in einem Interview – das Zitat findet sich in einem 439 Seiten starken Buch über sein Leben, das dieses Jahr im Verlag des Instituts für Nationales Gedenken (IPN) erschien, einer Art polnischer Stasiunterlagenbehörde.

Im September 1983 und 1984 unternahm Popiełuszko mit Arbeitern Pilgerfahrten zur Schwarzen Madonna nach Tschenstochau, dem polnischen Nationalheiligtum. Wie in der Kirche in Warschau-Żoliborz, wo Bogucki und Popiełuszko bald wie Vater und Sohn zusammenarbeiteten, wird er unter den Augen der Muttergottes mit ihnen die Hymne der „Solidarność“ gesungen haben, die ganz frisch war, weil nach Verhängung des Kriegsrechts gedichtet:

„So viele Male hast nach Freiheit dich gesehnt,
So viele Male unterdrückte sie der Henker,
Doch immer tat es ein Fremder,
Und heute tötet der Bruder den Bruder!

O Mutter mein!
Du Königin des polnischen Volkes,
Du Freiheit in Zeiten der Knechtschaft
Und Hoffnung, wenn in den Herzen sie fehlt!“

Nach Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 und Verbot der „Solidarność“ organisierte Popiełuszko zahlreiche Wohltätigkeitsaktionen und organisierte das Verteilen von Spenden, die im westlichen Ausland, besonders der Bundesrepublik, für die notleidenden Polen gesammelt wurden.

„Ich habe Menschen gesehen, ich habe Menschen die Beichte abgenommen, die bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit erschöpft auf dem Pflaster knieten, und ich glaube, diese Menschen haben da verstanden, dass sie stark sind, dass sie stark sind in der Einheit mit Gott und der Kirche. Und dann entstand das Bedürfnis, bei diesen Menschen zu bleiben“

erklärte Popiełuszko 1983 in einem Interview gegenüber der BBC die Motive für sein Handeln. Unübersehbar geht aus diesen wenigen Worten die ungeheure Wertschätzung zu dem je einzelnen Menschen hervor, Zugewandtheit, Mitgefühl, Mitleiden.

Blick in die Sonderausstellung „Wahrheit und Freiheit. Pfr. Jerzy Popiełuszko“ im Museum des Erzbistums Warschau

So war Popiełuszko. Er wurde geliebt wie vor ihm nur Kardinal Stefan Wyszyński und der Papst-Pole Johannes Paul II. Er unterstützte Menschen, die politisch verfolgt wurden und denen Unrecht geschah. Gibt es im deutschen Katholizismus jemanden Vergleichbares? In Predigt und Eintreten für andere vielleicht Pater Rupert Mayer SJ in München, vielleicht Dompropst Bernhard Lichtenberg in Berlin. Dass das Trio im Himmel aber darüber zankt, wer unter ihnen der Größte sei: Wahrscheinlichkeit gleich null.

Als Beobachter und Beistand ging Popiełuszko zu Gerichtsprozessen gegen diejenigen, die wegen verschiedener Widerstandshandlungen gegen das Kriegsrecht von den Kommunisten eingesperrt waren. Das Museum in den Katakomben seiner Kirche zeigt viele, viele solcher Beispiele. Eine Notiz aus Pfarrers Jerzys Tagebuch von Ende 1982:

„Gestern kam ein Mann, der seit 34 Jahren nicht mehr zur Beichte war, weil er dank der Messe für das Vaterland und meiner Anwesenheit bei Gericht den Weg zurück zur Kirche gefunden hat. Wie viel vermagst Du, Gott, zu tun durch ein so unwürdiges Geschöpf wie mich. Ich danke Dir, Herr, dass Du Dich meiner bedienst.“

Gemeinsam mit Studenten brachte Popiełuszko materielle Hilfe in jene Familien, wo der Ernährer fehlte – weil getötet oder eingesperrt. Freigebig unterstützte er kinderreiche Familien und alleinerziehende Mütter. Besonders schön sind jedoch die Zeugnisse über die Kinder, die noch weder vom natürlichen Sonnenlicht noch vom Licht der Taufe beschienen wurden. Das kam so: Im Frühjahr 1979 betraute die Warschauer Kurie den jungen Priester mit der Aufgabe des Diözesanseelsorgers für Krankenschwestern, nachdem er sein Talent im Umgang mit Menschen unter Beweis gestellt hatte: mit Vorträgen für Medizinstudenten an der bekannten „Studentenkirche“ St. Anna im Warschauer Stadtzentrum.

„Schutz des Lebens nicht nur Angelegenheit gläubiger Menschen“

Er gab Kurse über Ethik in der Medizin, hielt Exerzitien, feierte Gottesdienste für Ärzte, Krankenschwestern und angehende Mediziner, fuhr mit den Studenten in die Berge zum Wandern oder Skifahren. Erstaunlich, wie viel damals schon fotografiert wurde, denn auf Bildern ist alles das festgehalten. Überlieferte Worte aus dieser Zeit: „Beten muss man, dass jedes Kind, das empfangen wurde, ein Kind sein darf, das mit Freuden erwartet wird.“

Mit seiner Soutane bekleidet litt Jerzy Popiełuszko den Märtyrertod. Die Reliquie ist in St. Stanislaus Kostka ausgestellt, Popiełuszkos früherer Mitarbeiter Adam Nowosad zeigt sie

An anderer Stelle: 

„Da der Schutz des Lebens nicht nur eine Angelegenheit gläubiger Menschen ist, versuchen wir, das medizinische Personal für seine Verantwortung für jedes empfangene Leben zu sensibilisieren. (...) Die Aufgabe der Kirche besteht nicht nur darin, theoretisch die Heiligkeit des Lebens zu verkünden, sondern auch darin, dieses Recht in der Praxis zu verteidigen. Es besteht ein dringender Bedarf an konkreten Initiativen, um alleinstehenden Müttern und schwangeren Mädchen zu helfen, die zögern, das Kind zur Welt zu bringen.“

Seine Predigten führten Zehntausende zur Kirche

Hauptgrund für das Aktivwerden des kommunistischen Repressionsapparates gegen ihn waren Popiełuszkos „Messen für das Vaterland und diejenigen, die für es leiden“ – eine sehr polnische Mischung von katholischer Glaubenspraxis und ungebrochener Heimatliebe. „Zwei Stunden Freiheit“ betitelt die aktuelle Extra-Ausgabe der katholischen Zeitschrift Gość Niedzielny ihren Artikel über diese Gottesdienste mit besonderer Intention. Sie begannen einen Monat nach Verhängung des Kriegsrechts und nahmen ihren Anfang in einer ganz konkreten Not: den Verhafteten, Geschlagenen, Erniedrigten, Hungernden die Freiheit zu erflehen und sich solidarisch an ihre Seite zu stellen. Von da ab wurden die Messen für das Vaterland an jedem letzten Sonntag im Monat gefeiert: um 19 Uhr, „Kreuze sind mitzubringen“, steht auf einer Ankündigung aus jener Zeit.

Ein Plakat zeigt Pater Maximilian Kolbe als „Patron des gequälten Polens“ – Popiełuszko verschlang schon als Kind den von Kolbe gegründeten Ritter der Immaculata –, ein anderes trägt den Psalmvers „Der Herr wird seinem Volke Kraft geben“. Fotos und Filmaufnahmen zeigen die Kirche St. Stanislaus Kostka übervoll mit Menschen, die wahlweise die rechte Hand zum siegreichen „V“ emporstrecken oder das mitgebrachte Kreuz. Klerus und Volk schauen gemeinsam zum Tabernakel, singen: „Vor deine Altäre tragen wir das Flehen: / Ein freies Vaterland mögest du uns, Herr, zurückgeben!“

An den Predigten, erinnert sich einer der Messbesucher, habe Popiełuszko sehr lange und sorgfältig gearbeitet. Er unternahm Studien, machte sich Notizen, fertigte Kladden an. Dann las er Freunden, vor allem den Arbeitern, vor und fragte, ob sie alles verstanden hätten. „Wenn der Arbeiter es versteht, versteht der Professor es auch. Leichtigkeit und Klarheit hat er durch harte Arbeit erlangt.“ Der Ambo, von dem Popiełuszko sprach, ist noch heute derselbe wie vor vierzig Jahren. Pfarrer Jerzy predigte mit fast monotoner Stimme, ganz fest, ohne auch nur eine Spur von Hysterie oder Aufpeitschung.

Quelle von Mut und Hoffnung

Die Kunde von seinen Predigten verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Sie waren Quelle von Mut und Hoffnung, überwanden den Eisernen Vorhang, wurden über Radio Freies Europa in den Ostblock zurückgestrahlt. Bald nahmen Tausende Menschen an den Messen in Żoliborz teil, nicht nur aus der Hauptstadt, sondern Weitgereiste. 

Kardinal Stefan Wyszyński hatte es 1960 gegenüber Lehrern so ausgedrückt:

„Es braucht nicht so viele Menschen, um die Wahrheit zu verkünden. Es kann eine kleine Gruppe aus Menschen der Wahrheit sein, und sie werden sie ausstrahlen. Die Menschen werden sie von selbst finden und von weit her kommen, um die Worte der Wahrheit zu hören.“

Hunderte von Kilometern nahmen Menschen auf sich, um ein tröstendes und wahrhaftiges Wort zu hören, um untereinander Gemeinschaft und Solidarität zu spüren! Arbeiter kamen, Studenten, Schauspieler, Schriftsteller, der Kirche Fernstehende. Fotos zeigen die Volkshelden Lech Wałęsa und Anna Walentynowicz unter den Teilnehmern. Menschen berichteten später: Dort in der Kirche, mit Pfarrer Jerzy, waren wir frei. 

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel ergänzt und von der Redaktion empfohlen wird. 

Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Was ist so besonders an diesen Ansprachen in schwerer Zeit? Zitate daraus mögen einen kleinen Eindruck vermitteln. Popiełuszkos Katechesen, denn das waren sie, sind heute im freien Polen so aktuell wie damals unter der Knute Moskaus. Sie sind wie hineingesprochen in unsere materialistische Gegenwart. Sie sind zeitlos, denn einzelne mögen sich ändern, die Menschheit als solche nicht:

„Die Wurzel aller Krisen ist der Mangel an Wahrheit.“

„Der Christ muss gegenwärtig haben, dass man sich fürchten sollte einzig vor dem Verrat an Christus für ein paar Silberlinge eines faulen Friedens.“

„Das Leben muss mit Würde gelebt werden, denn es gibt nur dieses eine. Es ist heute notwendig, viel über die Würde des Menschen zu sprechen“.

„Frei zu sein bedeutet, nach seinem Gewissen zu leben“.

„Die Wahrheit ist wie die Gerechtigkeit mit der Liebe verbunden, und Liebe kostet – wahre Liebe ist opferbereit, also muss auch die Wahrheit etwas kosten. Seit Jahrhunderten wird die Wahrheit unaufhörlich bekämpft. Die Wahrheit hingegen ist unsterblich, nur die Lüge stirbt eines schnellen Todes.“

„Ein Mensch, der hart arbeitet ohne Gott, ohne Gebet, ohne Ideale, wird wie ein Vogel sein, der mit einem der Flügel auf den Boden schlägt.“

„Es ist nicht leicht heute, wo doch in den letzten Jahrzehnten die Saat der Lüge und des Atheismus in die Heimaterde gesät wurde.“

„Es ist nicht einfach heute, wenn einem Katholiken nicht nur verboten ist, die Ansichten eines Gegners zu bestreiten oder anderweitig zu polemisieren, sondern wenn es ihm nicht erlaubt ist, allgemein menschliche Überzeugungen zu verteidigen.“

Die Zeit ist nicht stehengeblieben. Polen hat ein Wirtschaftswunder erlebt. Polen ist heute ein Land, in dem die Cafés und Kaufhäuser voll, die Kirchen leerer geworden sind. Ein Land, in dem an Prozessionen mit dem Allerheiligsten die Passanten achtlos vorbeigehen, Eis schleckend, Döner fressend, manche filmend, fotografierend. Manche sagen, die polnische Kirche erlebe eine Jahrhundertkrise.

Auch im katholischen Polen tobt der Kulturkampf gegen die Rechte Gottes. Der Wunsch, das ungeborene Kind jederzeit sexueller Libertinage opfern zu können, drängt danach, Gesetz zu werden. Dieser Tage wird in das Parlament in Warschau ein Projekt eingebracht, das eingetragene Partnerschaften für Homosexuelle ermöglichen soll. Ab nächstem Jahr soll der Religionsunterricht in den Schulen auf eine Stunde zusammengestrichen werden.

„Damals Panzer, heute die liberale Lebensart“

Bei seinem Vortrag über Jerzy Popiełuszko im Museum der Erzdiözese Warschau zog der Priester und Dichter Jan Sochoń unzweideutig Verbindungen vom Damals ins Jetzt. „Heute wiederholt sich die Situation etwas. Heute wird der Glaube nicht von Panzern bedrängt, sondern durch die liberale Lebensart. Wieder soll die Kirche nicht in Erscheinung treten, nur ja nicht das gesellschaftliche Leben prägen, sondern sie soll sich in der Sakristei einschließen.“

Sochoń hatte Popiełuszko noch selbst gekannt, sie stammen aus derselben Gegend, ihre Großmütter waren miteinander befreundet. Den Weg zur Heiligkeit beschrieb Sochoń als den Fortgang der ständigen Lebensentscheidungen eines Menschen, als „viele kleine Wahlentscheidungen“.

Priester und Dichter Jan Sochoń bei seinem Vortrag über Jerzy Popiełuszko im Museum der Erzdiözese Warschau

Schon Popiełuszkos Mutter Marianna traf eine Entscheidung, berichtet Sochoń: Gleich zu Beginn des Krieges 1939, als die Russen in Ostpolen einfielen, drangen sowjetische Soldaten in ihr Haus, schauten sich um und befahlen, die Heiligenbilder von der Wand zu nehmen. „Die Mutter widerstand und sagte: Auf gar keinen Fall.“ Und die Soldaten ließen es dabei bewenden. Das hätte auch ganz anders ausgehen können.

Sochoń berichtet noch etwas. Pfarrer Jerzy habe in jener Todesnacht nicht um sein Leben gebettelt. Die Quelle für diese überaus entscheidende Information? Der Mörder selbst. Mehrere Male, so Sochoń gegenüber Corrigenda, habe er lange mit Grzegorz Piotrowski gesprochen, dem als Haupttäter verurteilten Agenten der Abteilung IV im Innenministerium. Hätte der Märtyrerpriester um sein Leben gebeten, „dann hätte das sofort den Seligsprechungsprozess abgebrochen“. 

„Die Früchte seines Leidens dauern bis heute an“, endet der Geistliche ganz zuversichtlich. „Durch die Fürsprache von Pfarrer Jerzy kann eine christliche Lebensart erhalten bleiben.“ Nie sollten wir vergessen: Die allergrößten Schätze, die man sich nur ausdenken könne, seien „nur Asche gegenüber dem, was Jesus uns schenken will“.

Die Tradition der für Polen aufgeopferten heiligen Messen wird in Żoliborz bis heute fortgesetzt.

Die Außenwand der Seitenkapelle, in der als kostbare Reliquie die Soutane Jerzy Popiełuszkos, in der er den Tod litt, aufbewahrt wird – diese Wand gegenüber dem Grab trägt die Worte Papst Johannes Pauls II. aus der Generalaudienz vom 5. November 1984, zwei Tage nach der Beerdigung Pfarrer Jerzys: „… auf dass aus diesem Tod Gutes erwachse, wie aus dem Kreuz die Auferstehung.“

Geheimnis des Glaubens: Im Tod ist das Leben.

 

› Kennen Sie schon unseren Corrigenda-Telegram- und WhatsApp-Kanal?

3
Kommentare

Kommentar
2
Manu
Vor 1 Monat

Danke für dieses Porträt. Meine Eltern meinten, sie können sich noch gut an die Zeit erinnern, sie beteten für Priester Jerzy Popiełuszko.

1
Laetitia M.
Vor 1 Monat

Wunderbarer und erschütternder Beitrag von Christian Rudolf. Danke!

1
Dr. Hansjürgen Bals
Vor 1 Monat

Ein ergreifender Bericht über einen großartigen Priester, der uns gerade heute wieder viel zu sagen hat - gut, dass Rudolf auch die Brücke zur Gegenwart in Polen und in Deutschland schlägt. Popiełuszko lehrt uns, wo und wie Widerstand zu leisten ist.

1
Laetitia M.
Vor 1 Monat

Wunderbarer und erschütternder Beitrag von Christian Rudolf. Danke!

1
Dr. Hansjürgen Bals
Vor 1 Monat

Ein ergreifender Bericht über einen großartigen Priester, der uns gerade heute wieder viel zu sagen hat - gut, dass Rudolf auch die Brücke zur Gegenwart in Polen und in Deutschland schlägt. Popiełuszko lehrt uns, wo und wie Widerstand zu leisten ist.

2
Manu
Vor 1 Monat

Danke für dieses Porträt. Meine Eltern meinten, sie können sich noch gut an die Zeit erinnern, sie beteten für Priester Jerzy Popiełuszko.