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Wahl in Polen: Die Frauen hatten genug

Eine gesellschaftliche Entladung

Aus einem Deutschlandfunk-Kommentar zu Wochenbeginn im Nachgang der Parlamentswahl in Polen: ein „zeitgemäßes Abtreibungsrecht“ brauche Polen jetzt. Das ist in der Sprache der Liberalen also der gängige Begriff geworden, um noch ungeborene Menschen im Mutterleib beseitigen zu können, weil die sexuelle Libertinage mit Lebensabschnittspartnern, On-Off-Beziehungen und der allseitigen Flexibilität und Mobilität das eben verlangt. Zwei Seiten einer Medaille des rasanten sozioökonomischen Wandels in unserem östlichen Nachbarland.

Polen wird absehbar eine neue Regierung bekommen. Der Sieg der oppositionellen pro-EU- und wirtschaftsliberal orientierten Parteien in Polen über die acht Jahre regierende sozial- und nationalkonservative Koalition der Vereinigten Rechten ist so deutlich ausgefallen, dass man sich fragt: Woran hat’s gelegen? Das Land leidet weder unter einer Wirtschaftskrise noch unter hoher Arbeitslosigkeit, ein System aus Unterstützungsleistungen greift Familien spürbar unter die Arme. Zwischen Neiße und Bug, Ostsee und Waldkarpaten ist es sichtbar vorangegangen, das Land wirkt modern und frisch, unternehmerfreundlich und leistungsorientiert.

Ist die Wechselstimmung ähnlich wie im Herbst 1998 in Deutschland durch den bloßen Überdruss an einem schon zu lange thronenden Übervater zu erklären? Wollten die meisten bloß Jarosław Kaczyński, den „Prezes“ (Vorsitzenden), wie man ihn in Polen oft bloß nennt, und seine Obsessionen (der krankhafte Deutschenhass!) loswerden, die vielen peinlich sind?

Hauptthemen des polnischen Wahlkampfes waren die Stellung zur Europäischen Union, der ungehinderte Zugang zu EU-Geldern, die Justizreform und die Sorge um die Rechtsstaatlichkeit, ukrainisches Getreide und die Ausländer- und Migrationspolitik, flankiert von Spots, die sich speziell an Frauen richteten. Aber erklärt das die große Mobilisierung? Nebenbei: Anders als beim großen westlichen Nachbarn Deutschland spielte das Thema Klimawandel kaum eine Rolle.

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Die Wähler aber waren so stark politisiert, dass sie in Scharen in die Wahllokale strömten. Polen hat mit 74,4 Prozent oder fast 21,6 Millionen Bürgern die höchste Wahlbeteiligung seit dem Übergang zur Marktwirtschaft 1989 gesehen, in der Hauptstadt Warschau erreichte sie sogar knapp 85 Prozent. Gegenüber der Parlamentswahl von 2019 waren das landesweit satte 12,6 Prozentpunkte mehr. Nicht einmal die ersten teilweise freien Wahlen im Juni 1989 zogen so viele Polen an die Urnen! Zum Vergleich: Bei der Wahl 2005 machten nur gut 40 Prozent der Wahlberechtigten von ihrem Bürgerrecht Gebrauch, die Zusammensetzung des Parlaments zu bestimmen.

Interessant ist nun ein Blick auf das Wahlverhalten der Geschlechter: Die Kaczyński-Partei PiS, trotz Verlusten von mehr als acht Prozentpunkten der nominelle Wahlgewinner (35,4 Prozent), hat laut den Nachwahlbefragungen (exit polls) einen leicht höheren Zuspruch von Männern erfahren. Zudem ist der Prozentsatz von Frauen, die die PiS gewählt haben, gegenüber der letzten Parlamentswahl 2019 um 6,6 Prozentpunkte abgestürzt. Die zweitstärkste Kraft hingegen, die von Donald Tusk geführte liberal-grüne Bürgerkoalition (KO), gewann einen deutlich höheren Anteil (+ 2,8 Prozentpunkte) weiblicher Wähler.

Noch deutlicher in der Gunst weiblicher Wähler liegt die postkommunistische polnische Linke (Lewica) – feministisch, antiklerikal, pro-LGBTQ, öko: Sie wurde zu 10,1 Prozent von Frauen gewählt, aber nur zu 6,9 Prozent von Männern.

Die „Konföderation“ polarisierte bei den Geschlechtern

Und: Bei dieser Wahl entfielen 53,7 Prozent der Stimmen auf drei Parteien und Wahlbündnisse, die das geltende Abtreibungsverbot wieder aufheben wollen. Das sind neben der Bürgerkoalition und der Linken (minus 3,95 Prozent) auch das Zweierbündnis „Der Dritte Weg“ (plus 5,9 Prozent) um den schwarz-grünen Publizisten Szymon Hołownia und den Ex-Arbeitsminister und Bauernparteichef Władysław Kosiniak-Kamysz.

Die einzige Partei, die Schwangerschaftsabbrüche noch stärker erschweren will, die rechtsradikale „Konföderation“, polarisiert bei den Geschlechtern wie keine andere: Sie wird fast dreimal so häufig von Männern als von Frauen gewählt. Sie schnitt weit unter den Erwartungen ab und fehlt der PiS nun als möglicher Mehrheitsbeschaffer. Ihr Stern begann zu sinken, als einen Monat vor der Wahl durchsickerte, dass sie wohl mit Kaczyńskis PiS koalieren würde.

Liegt in dieser Gemengelage ein Interpretationsansatz für den Wahlausgang? In den vergangenen Jahren wurden in vielen europäischen Ländern Abtreibungen legalisiert, weil ein nur positivistisches Rechtsverständnis auf dem Vormarsch ist. Polens sozialkonservative Koalition hatte im Gegensatz zum Trend Schwangerschaftsabbrüche beinahe vollständig verboten. Nach einem Urteil des als regierungsnah geltenden Verfassungsgerichts sind Abbrüche nur noch möglich, wenn Leben oder Gesundheit von Schwangeren bedroht sind oder die Schwangerschaft in Folge einer Vergewaltigung eintrat. Ein wenig bekanntes Schlupfloch ist allerdings die medikamentöse Abtreibung, die Schwangere selbstständig bei sich zu Hause vornehmen. Sie wird vom Strafgesetzbuch nicht erfasst.

Rasante Säkularisierung auch in Polen

Das als total wahrgenommene Abtreibungsverbot mobilisierte in den zurückliegenden acht Jahren wie kein anderes Thema die meisten Demonstranten und Demonstrantinnen. Im Herbst 2020 erlebte Polen feministische Massenproteste in zeitweise 400 Städten und Ortschaften gleichzeitig („Frauenstreik“), die in ihrer Schärfe, Rücksichtslosigkeit und Vulgarität ein grelles Licht auch auf den Wertewandel warfen – das gern geglaubte Image des konservativen, katholischen, irgendwie noch anständigen Polens bildet höchstens einen Teil der Wirklichkeit ab.

Protest gegen die Verschärfung der Abtreibungsgesetzgebung in Danzig im Oktober 2020: „Ich wünschte, ich könnte meine Regierung abtreiben“ steht auf dem Plakat

Umfragen von Sommer 2022 förderten zutage, dass sich zwei Drittel für die Freigabe der vorgeburtlichen Kindstötung bis zur 12. Schwangerschaftswoche aussprachen. Und eine statistische Auswertung der Angaben im polnischen Wahlomat Latarnik wyborczy zeigte, dass den Bürgern die Abtreibungsgesetzgebung gleich nach Wirtschaftsfragen am zweitwichtigsten war. Der Wahlomat, der ganze 5,6 Millionen Mal genutzt wurde, ermöglichte neben Ja/Nein-Angaben auch eine Gewichtung von Aussagen. Nicht anders lagen die Ergebnisse der Nachwahlbefragungen bei Frauen: Gefragt nach den Themen, die ausschlaggebend für die jeweilige Wahlentscheidung waren, kamen „Frauenrechte“ und „Abtreibung“ auf den 2. Platz.

Ein anderes Momentum kommt noch hinzu. Die Säkularisierung hat auch vor Polen nicht Halt gemacht. Mögen die Kirchen auch voll sein – so voll wie früher sind sie nicht mehr. Immer weniger Polen bekennen sich zum katholischen Glauben, besonders junge Menschen unter vierzig bleiben den Kirchengemeinden fern.

Nach der jüngsten Volkszählung von 2021 bekennen sich bloß noch gut über 70 Prozent der Polen zum Katholizismus (71,3 Prozent). Das ist ein krasser Rückgang von mehr als 6,6 Millionen Bürgern oder 16,3 Prozentpunkten innerhalb von zehn Jahren. Auch die Zahl der Bürger, die die Frage nach ihrer Religion unbeantwortet ließen, verdreifachte sich von sieben auf 20,5 Prozent.

Eine lange angestaute Stimmung entlud sich

Die Ergebnisse der Volkszählung decken sich mit Ergebnissen soziologischer Studien über die Religiosität der Polen. Die Corona-Maßnahmen beschleunigten, was untergründig schon im Gange war. Studien zeigten, dass der Prozentsatz sowohl der Gläubigen als auch der praktizierenden Katholiken in den vergangenen fünf bis sechs Jahren um etwa zehn Prozentpunkte zurückgegangen ist. Bei jungen Menschen ist ein so starker Rückgang in etwa doppelt so kurzer Zeit eingetreten. Kamen zu Beginn der neunziger Jahre noch die Hälfte der Getauften der Sonntagspflicht nach, sind es nach einer Untersuchung des Statistikinstituts der Katholischen Kirche von 2021 nur noch gut 28 Prozent.

Wo die Kirchenbindung abnimmt, da wird auch das Evangelium nicht mehr gehört, da dringen auch Lehre und Verkündigung nicht mehr durch, da können Menschen in Sittlichkeit und christlicher Ethik nicht geprägt werden.

Seit der – auch schon enorm polarisierten – Präsidentschaftswahl im Sommer 2020 waren die jetzigen Parlamentswahlen die ersten Urnengänge nach mehr als drei Jahren. Der Wandel in den gesellschaftlichen Anschauungen und die angestauten Emotionen, das Gefühl vieler Frauen, in ihren (vermeintlichen) Rechten beschnitten und nicht einmal gehört zu werden, können sich am vergangenen Sonntag massenhaft entladen haben – paradoxerweise, denn die Abtreibungsgesetzgebung stand nicht im Fokus des Wahlkampfes, und die regierende PiS war bemüht, das Thema überhaupt kleinzuhalten.

Ein selbstbewusstes Bürgertum wollte sich selbst repräsentiert sehen

Man kann die These aufstellen: Durch Wirtschaftsreformen, Fleiß und ein begünstigendes Investitionsklima ist in Polen mittlerweile ein Bürgertum entstanden, das sich etwas leisten kann. Nicht zuletzt durch die Etablierung einer mehr sozialen Marktwirtschaft und sozialstaatliche Reformen in der PiS-Ära genießen ehedem prekär situierte Familien und alleinerziehende Mütter einen gewissen Schutz und finanzielle Mittel. Das Volk hat sich etwas aufgebaut. Das Bürgertum wollte sein gewonnenes Selbstbewusstsein in politische Macht ummünzen – und Frauen sich nicht von einem kinderlosen, alten „Prezes“ vorschreiben lassen, wie sie mit ihrer Schwangerschaft umgehen sollen.

Die Hoffnung der Konservativen ruht jetzt zunächst auf dem PiS-nahen Staatspräsidenten Andrzej Duda: Der kann Gesetze des Parlaments durch sein Veto blockieren. Aber nur noch zwei Jahre lang. Dann werden auch im Präsidentenpalast die Karten neu gemischt.

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Kommentare

Kommentar
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Klaus Dieter Hucke
Vor 11 Monate 1 Woche

Was viele Wähler von PIS vertrieben hat, ist die krasse Vetternwirtschaft im Staat und staatsnahen Unternehmen. Nicht zu vergessen die ins Absurde übersteigerte Propaganda des Staatsfernsehens.

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Michał Pełka
Vor 1 Jahr

Ich würde nur ergänzen, dass nicht jeder in der neuen Koalitionsregierung unbedingt die Abtreibungsgesetzgebung ändern möchte. PSL - Bauernpartei (Teil des Dritten Wegs) hat angekündigt, dass sie im Koalitionsvertrag nichts über Abtreibung hören will. Wichtiger ist jedoch vielleicht die Interpretation der derzeitigen Gesetzgebung. Es besteht die Bedrohung, dass die geltenden Gesetze so interpretiert werden könnten, dass sie die sogenannte psychische Gesundheit umfassen und als Begründung für eine Abtreibung herhalten können.

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Klaus Dieter Hucke
Vor 11 Monate 1 Woche

Was viele Wähler von PIS vertrieben hat, ist die krasse Vetternwirtschaft im Staat und staatsnahen Unternehmen. Nicht zu vergessen die ins Absurde übersteigerte Propaganda des Staatsfernsehens.

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Michał Pełka
Vor 1 Jahr

Ich würde nur ergänzen, dass nicht jeder in der neuen Koalitionsregierung unbedingt die Abtreibungsgesetzgebung ändern möchte. PSL - Bauernpartei (Teil des Dritten Wegs) hat angekündigt, dass sie im Koalitionsvertrag nichts über Abtreibung hören will. Wichtiger ist jedoch vielleicht die Interpretation der derzeitigen Gesetzgebung. Es besteht die Bedrohung, dass die geltenden Gesetze so interpretiert werden könnten, dass sie die sogenannte psychische Gesundheit umfassen und als Begründung für eine Abtreibung herhalten können.