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Verfassungsinterpretation und Lebensschutz

Bundesverfassungsgericht und Paragraf 218: Gestern so, heute so?

Natürlich könne man sich nach so vielen Jahren noch einmal neu mit dem Thema beschäftigen“. Mit diesen Worten ließ Friedrich Merz Ende November 2024 aufhorchen – zum Bestürzen aller Lebensschützer in der Union und der konservativen Stammwählerschaft der Christdemokraten. Denn mit diesen Worten stellte der Parteichef in Aussicht, das Thema „Abtreibungslegalisierung“ zwar nicht in dieser, aber doch in einer kommenden Legislaturperiode kontrovers (und damit offen) zu diskutieren. 

Besonders aufhorchen ließ dabei die Begründung des Kanzlerkandidaten: Es gebe erkennbar einen gesellschaftlichen Wandel, der eine Überprüfung der aktuellen Regelung rechtfertige. Aber kann ein (vermeintlicher) Meinungsumschwung in der Bevölkerung die Grundlagen der Rechtsprechung eines Landes ändern?

Inhaltsverzeichnis

Die Abtreibungsdebatte bestimmt erneut das politische Tagesgeschehen in Deutschland und wird wahrscheinlich auch zum Wahlkampfthema für die vorgezogene Bundestagswahl am 23. Februar. Seit November steht eine Bundestagsinitiative zur vollständigen Abtreibungslegalisierung in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen im Raum. Ob dieser Entwurf jedoch in Gesetzesform gegossen wird, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt offen. Besonders brisant ist dabei: Der diskutierte Reformvorschlag hätte am Maßstab der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keinen Bestand.

Aus diesem Grund fordern die Verfechter der Abtreibungslegalisierung bereits vor einer Verabschiedung des Reformgesetzes und der Einleitung eines Normenkontrollverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht eine Rechtsprechungsänderung ein. Die Haltung einer Mehrheit der Bevölkerung zum Schwangerschaftsabbruch habe sich in der Zwischenzeit schließlich gewandelt – mit dieser Begründung hat sich selbst CDU-Chef Friedrich Merz offengehalten, den Vorschlag zumindest in einer zukünftigen Legislaturperiode breit zu diskutieren. Das wirft die grundlegende Frage auf, ob eine derartige Abkehr von der Rechtsprechung des Gerichts möglich oder überhaupt legitim wäre.

Die Rückkehr der Abtreibungsdebatte

Auf Grundlage des Abschlussberichts der „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ sind Stimmen lauter geworden, die eine Reform des Abtreibungsstrafrechts fordern. Hierzu existiert mittlerweile auch ein Gesetzesentwurf (BT-Drs. 20/13775), der womöglich auf den letzten Metern der laufenden Legislaturperiode zur Abstimmung gestellt werden könnte. Eine öffentliche Anhörung soll am 10. Februar stattfinden

In der Bundestagsdebatte kurz vor Jahresende ist von Befürwortern des Reformvorhabens unter Verweis auf eine Umfrage des Instituts „Civey“ immer wieder die Behauptung vorgebracht worden, die gesellschaftlichen Verhältnisse hätten sich gewandelt und erforderten eine gesetzliche Neuregelung. Dabei wird gekonnt ignoriert, dass die beabsichtigte Gesetzesänderung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch widerspricht und verfassungswidrig wäre. 

Gewissermaßen prophylaktisch wird deshalb in Teilen des selbsterklärt „progressiven“ Teils der deutschen Rechtswissenschaft eine Rechtsprechungsänderung des Gerichts eingefordert. Das lenkt den Fokus auf eine brisante und gleichermaßen interessante verfassungstheoretische Grundsatzfrage: Kann das Bundesverfassungsgericht seine Interpretation des Grundgesetzes unter Verweis auf (tatsächlich oder vermeintlich) veränderte soziale Anschauungen ändern?

Hat Demoskopie Verfassungsrang?

Gewiss existieren Meinungsumfragen, die in eine solche Richtung deuten, wenn auch die methodischen Standards des Umfrageinstituts „Civey“ bezweifelt werden dürfen. Andererseits ist die Meinungsforschung bereits zu gegenteiligen Ergebnissen gelangt. Überhaupt vermag die Aussagekraft solcher Umfragen aber auch prinzipiell in Frage gestellt werden, denn die Rechtslage zum Schwangerschaftsabbruch ist komplex und stellenweise auch widersprüchlich. 

 

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Schon Rechtswissenschaftler tun sich damit schwer, sodass ein umfassender Durchblick von juristischen Laien dabei wohl kaum erwartet werden darf. Ob sich die gesellschaftlichen Wertevorstellungen zum Abtreibungsthema wirklich so gravierend geändert haben, sei an dieser Stelle jedoch dahingestellt. In diesem Beitrag soll in einem Gedankenexperiment unterstellt werden, dass ein solcher Wandel tatsächlich und empirisch messbar stattgefunden hat.

Verfassungstheoretische Ausgangsbedingungen

Unter einer Verfassung versteht man die rechtliche Zusammenfassung mehr oder weniger abstrakter, für das Gemeinwesen wesentliche Entscheidungen, die in der Regel in einem formellen Verfassungstext wie dem deutschen Grundgesetz festgehalten werden, es aber nicht sein müssen. Im zweiten Fall spricht man, wie etwa im Vereinigten Königreich, von einer materiellen Verfassung. Besonders wichtig ist für eine schriftliche Verfassung die erschwerte Abänderbarkeit, die sich entweder in Gestalt einer hierzu erforderlichen qualifizierten Mehrheit oder aber weiteren verfahrensrechtlichen Regelungen äußert.

Ein Ultraschallbild mit Tabletten auf einem Strafgesetzbuch: Abtreibung muss mit dem Makel der Rechtswidrigkeit behaftet bleiben

In Deutschland ist für eine Änderung des Grundgesetzes beispielsweise eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat erforderlich, ferner muss – anders als in Österreich – eine ausdrückliche Änderung des Verfassungstexts erfolgen, während in den Vereinigten Staaten zum einen eine solche qualifizierte Mehrheit in Senat und Repräsentantenhaus oder die Einberufung eines Verfassungskonvents mit einer solchen Mehrheit unter den Bundesstaaten zustande kommen muss sowie der angestrebte Verfassungszusatz, ein sogenanntes „Amendment“, zusätzlich von drei Vierteln der Bundesstaaten ratifiziert werden muss. 

Eine Verfassung stellt damit die rechtliche Grundordnung des staatlichen Gemeinwesens dar, die bestimmte Strukturentscheidungen vor dem Zugriff des tagespolitischen Prozesses abschirmt. Ihre Funktion erschöpft sich nicht nur in einem Schutz bestimmter Fundamentalprinzipien, sondern eine Verfassung dient auch der Stabilisierung des bisweilen wechselhaften politischen Tagesgeschäfts, indem es einen rechtspolitischen Referenzrahmen formuliert und diesem Geschäft Grenzen zieht.

Das Bundesverfassungsgericht als Damoklesschwert

Der Prozess der Verfassungsgebung selbst stützt sich üblicherweise auf eine überwältigende Mehrheit der politischen Kräfte und der Bevölkerung. Dies hat jedoch zur Folge, dass die inhaltliche Aussagekraft von Verfassungsnormen oft eher dürftig bleibt. Eine Verfassung verrechtlicht oftmals zwischen Parteien beziehungsweise sozialen Kräften ausgehandelte Kompromisse und ist aus diesem Grund um ein Vielfaches abstrakter formuliert als das teils dicht „bewucherte“ einfache Gesetzesrecht, ihre Vorschriften sind eher unbestimmt und konkretisierungsbedürftig. 

Diese geringe normative Direktionskraft des Verfassungstexts führt dazu, dass die Interpretation von Verfassungsnormen weitgehend einer anderen Logik als die Auslegung einfacher Rechtsnormen unterliegt. Folglich muss die zur Interpretation einer Verfassung berufene Instanz deren Inhalt oftmals konkretisieren und nicht nur ermitteln

Die Verfassungsanwendung ist demnach auch ein schöpferischer Vorgang, mit anderen Worten ein „Akt des wertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen“, wie das Bundesverfassungsgericht es an anderer Stelle selbst ausgedrückt hat. Karlsruhe verfügt vor diesem Hintergrund über eine besonders weitreichende Freiheit bei der Ermittlung des Sinngehalts des Grundgesetzes und über eine ausgesprochen machtvolle Position im Gefüge der Staatsorgane.

 

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In der Praxis hat diese Dominanz des Gerichts dazu geführt, dass praktisch der gesamte Inhalt des Grundgesetzes auf dessen Rechtsprechung zurückgeht und es der Verfassung beispielsweise „neue“ grundrechtliche Gewährleistungen entnommen oder um ungeschriebene Tatbestandsmerkmale erweitert hat. „Das Grundgesetz gilt nunmehr praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt, und die Literatur kommentiert es in diesem Sinne, merkte die staatsrechtswissenschaftliche Koryphäe Rudolf Smend schon im Jahr 1962 an. 

Diese Freiheit des Gerichts ist gleichwohl nicht unbegrenzt, denn es ist stets an die rechtliche Überzeugungskraft seiner Entscheidungen und damit insbesondere an die methodische Qualität sowie Stringenz seiner Begründung als eine Art kontrollierendes „Damoklesschwert“ gebunden.

Wie steht es um § 218 StGB?

Das Bundesverfassungsgericht ist in seinen Grundsatzentscheidungen davon ausgegangen, dass ein indikationsloser Schwangerschaftsabbruch zwar nicht zwingend bestraft werden muss, aber dennoch mit dem Makel der Rechtswidrigkeit behaftet bleiben muss, um eine ethische Abwertung zum Ausdruck zu bringen. Der unlängst in den Bundestag eingebrachte Gesetzesentwurf steht zu dieser Anforderung in einem fundamentalen Widerspruch, indem er nach § 12 Abs. 2 SchKG in dessen Fassung pauschal die Rechtmäßigkeit einer jeden Abtreibung jedenfalls im ersten Trimester fordert. 

 

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Ebenfalls hochproblematisch ist dies unter dem Gesichtspunkt der verfassungsgerichtlich formulierten Verpflichtung des Staates, die Schutzwürdigkeit des ungeborenen Lebens im Bewusstsein der Bevölkerung zu erhalten und zu fördern, wie das Bundesverfassungsgericht vormals eindeutig festgestellt hat. Die Verfassungswidrigkeit steht dem Reformentwurf auf Grundlage der Rechtsprechung „auf die Stirn geschrieben“.

Ist ein Interpretationswandel möglich und legitim?

Daraus ergibt sich eine Folgefrage von prinzipieller Qualität: Ist das Gericht eigentlich an seine eigene Rechtsprechung gebunden? Das ist ein ausgesprochen schwierig zu bewältigendes Problem. Denn anders als nach dem Grundsatz des stare decisis in den Staaten des Common-Law-Rechtskreises wie den USA oder Großbritannien existiert nach kontinentaleuropäischer Tradition keine ausdrückliche Bindung der Judikative an die eigene Rechtsprechung. 

Die Abkehr von solchen Präzedenzfällen ist dabei an strenge Voraussetzungen gebunden. Beobachten ließ sich eine solche Rechtsprechungsänderung, die man als „overruling“ bezeichnet, beispielhaft in der Abkehr des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten von der umstrittenen Entscheidung Roe v. Wade, die der US-Verfassung ein ungeschriebenes „Recht auf Abtreibung“ entnahm, und in der Konsequenz eine Fristenlösung festlegte. 

Die von Richter Samuel Alito verfasste Mehrheitsmeinung der Entscheidung Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization nimmt eine ausführliche Begründung vor, weshalb eine solche Abweichung erfolgen muss. Eine derart intensive, rechtlich institutionalisierte Bindung ist der bundesdeutschen Verfassungsordnung grundsätzlich unbekannt. 

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe

Das Bundesverfassungsgericht arbeitet in seiner Entscheidungspraxis dessen ungeachtet mit sogenannten Maßstäben, also vom konkreten Streitfall unabhängige, abstrakte Feststellungen des Inhalts einzelner Verfassungsnormen oder Prinzipien. Diese verfassungsgerichtlichen Maßstäbe hat es in vorangegangenen Urteilen ausformuliert und greift bei der Begründung nachfolgender Fallentscheidungen auf sie zurück. 

Auf diese Weise hat sich über die Jahre ein selbstreferentielles System aus quasi-normativen Entscheidungen des Gerichts gebildet, das einer Präjudizienstruktur in der Sache nicht unähnlich ist. Die einmal erfolgte Interpretation von Verfassungsnormen in Gestalt dieser Maßstäbe ist hingegen nicht etwa unveränderlich, sondern durchaus Modifikationen oder sogar einer Totalrevision zugänglich.

„Verfassungswandel“ als Ultima Ratio

Ungleich schwieriger zu ermitteln sind die genauen Voraussetzungen einer solchen Rechtsprechungsänderung. Den maßstäblichen Referenzpunkt bildet dabei eine womöglich umfassende Veränderung gesellschaftlicher Ansichten zu einer bestimmten Einzelfrage. Das Bundesverfassungsgericht agiert hierbei jedoch äußerst zurückhaltend und schreckt in der Regel davor zurück, einmal gefasste Maßstäbe wieder zu verändern. 

Eine Lösung findet das Gericht wiederum in der Anwendung dieser abstrakten Feststellungen auf den jeweiligen Fall. Auch besteht die Möglichkeit, bereichsspezifische Untermaßstäbe zu bilden, die die Bindung an die ursprünglichen Feststellungen lockern. Die Ultima Ratio im verfassungsgerichtlichen Repertoire bildet das Konzept des „Verfassungswandels“, die eine Änderung des Verständnisses einer an sich gleichbleibenden Verfassungsnorm bezeichnet.

 

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Mit dieser Figur ist allerdings ausgesprochen zurückhaltend zu agieren. Eine Verfassung institutionalisiert üblicherweise verfahrensrechtlich gebundene Änderungsmodalitäten. Die Abkehr von der bisherigen Lesart einer Verfassungsnorm beziehungsweise deren schlichte Umdeutung ruft vor diesem Hintergrund unweigerlich Konfliktpotenzial mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung hervor. Für die Änderung der Verfassung ist der verfassungsändernde Gesetzgeber zuständig, nicht aber die Verfassungsgerichtsbarkeit. 

Gesichert unlauter ist ein solches Vorgehen nicht, aber dubios und in hohem Maß legitimationsbedürftig. Eine solche Handhabe einer Verfassung ist jedenfalls nicht unproblematisch, denn sie vermag zu einem starken Übergewicht der Verfassungsgerichtsbarkeit im Verhältnis zu den übrigen Staatsorganen und womöglich gar zu einer faktischen Usurpation der verfassungsändernden Gewalt führen.

Was wollten die Verfassungsväter?

In den Vereinigten Staaten hat sich eine besondere Sensibilität für dieses Problem herausgebildet, die sich in der interpretatorischen Praxis des „Originalismus“ äußert. Demnach sei die Verfassung primär im Einklang mit dem Willen des historischen Verfassungsgebers auszulegen, um die rechtsschöpferische Freiheit eines Verfassungsrichters methodisch zu domestizieren. Diese Idee ist indes nur eingeschränkt auf den kontinentaleuropäischen Rechtskreis übertragbar. 

Trotz des Umstandes, dass in den Vereinigten Staaten eine geschriebene Verfassung Ausgangspunkt des Verfassungsrechts ist, sind Arbeitsweise und Verfassungsverständnis doch entscheidend vom Common Law geprägt. Der methodische Fokus auf interpretatorische Kreativität, die Bewältigung soziomoralischer Fragen und die Betonung der innovativen Qualität des Richterrechts sind dabei tief im genetischen Code der anglo-amerikanischen Rechtstradition und seiner Methodik verankert. 

Die Indienstnahme der Dritten Gewalt für die Verrechtlichung rechtspolitischer und soziokultureller Reformanliegen bietet sich auf dieser Grundlage geradezu an. Etwa in Deutschland bildet nicht nur der Verfassungstext, sondern damit verbunden der klassische Methodenkanon juristischer Auslegung nach wie vor den Ausgangspunkt auch der Verfassungsinterpretation, sodass die verfassungsrichterliche Argumentationsfreiheit unter diesem Gesichtspunkt gewissermaßen „eingezäunt“ ist. 

Das bedeutet aber nicht, dass das Bundesverfassungsgericht vor unter Kompetenzaspekten problematischen Schritten isoliert ist.

Mögliche Zukunftsszenarien zu § 218 StGB

Könnte das Gericht seine Rechtsprechung zur Abtreibung also ändern? Selbstverständlich. Ob der jeweils zuständige Senat im Falle einer Verfahrenseinleitung jedoch einen solchen Schritt ausdrücklich wagen würde, steht auf einem anderen Blatt geschrieben. Sieht sich das Bundesverfassungsgericht mit einer geänderten Sachlage konfrontiert, nimmt es seine Anpassung beziehungsweise Änderung seiner Rechtsprechung zum in Rede stehenden Sachbereich zumeist deutlich subtiler vor. 

Vor diesem Hintergrund wahrscheinlicher und auch praxistauglicher wäre die punktuelle Anpassung beziehungsweise Weiterverarbeitung der seinerzeit gefassten Maßstäbe durch die Bildung fall- und grundrechtsspezifischer „Untermaßstäbe“ oder deren Anwendung im Sinne einer verfassungsrechtlichen Billigung der hypothetischen Strafrechtsreform. 

Beispielsweise könnte das Missbilligungsgebot an sich abgewandelt oder im Lichte der Verhältnismäßigkeit anders angewandt werden: Das Gericht könnte etwa die prinzipielle strafrechtliche Missbilligung des Schwangerschaftsabbruchs vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein ebenso effektiver, alternativer Mittel zur Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht für Leib und Leben des Ungeborenen abhängig machen. 

Mit anderen Worten: Weil das ungeborene Leben auch auf andere Weise als durch ein Abtreibungsverbot geschützt werden kann, müsste der Schwangerschaftsabbruch dieser Lesart zufolge nicht zwingend Unrecht bleiben. Als Begründungsfolie könnte hierfür wiederum ebenjene Veränderung der moralischen Beurteilung der Abtreibung in der Gesellschaft und der breitere soziokulturelle Kontext der Entscheidung herangezogen werden.

 

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Zuletzt erscheint eine Anknüpfung an die Maßstäbe der Schutzpflichtendogmatik und deren Integration in die verfassungsrechtliche Kontextualisierung des Schwangerschaftsabbruchs denkbar. Für gewöhnlich gesteht das Gericht den staatlichen Organen bei der Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten einen weiten Entscheidungsspielraum zu. Ein Verfassungsverstoß liegt erst vor, wenn Schutzmaßnahmen überhaupt nicht getroffen worden sind, etwaige getroffene Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich zur Erreichung des gebotenen Schutzziels sind oder sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben. 

Das vom Reformgesetzgeber gewählte Regelungsmodell könnte auf diese Weise geschickt mit Erwägungen der Gewaltenteilung gerechtfertigt werden. In der Sache wäre eine derartige Entscheidung des Gerichts also von Erwägungen eines „Verfassungswandels“ motiviert, ohne diese verfassungs- und demokratietheoretisch konfliktaffine wie rechtsmethodisch umstrittene Großformel explizit zu bemühen.

Grenzen der normativen Steuerungskraft

Eine Verfassung ist gewiss darauf angewiesen, auf bislang unbekannte Phänomene zu reagieren und sie rechtlich aufzubereiten. Sie büßt ihren normativen Geltungsanspruch und auch ihre Akzeptanz unter den Rechtsadressaten ein, wenn sie vollkommen anpassungsunfähig ist. 

Andererseits droht wiederum ein ähnlicher Legitimitätsverlust, wenn die Interpretation von Verfassungsnormen zu flexibel erfolgt und letztere etwa ausschließlich im Lichte soziokultureller Momentaufnahmen auslegt. Die Verfassung als beständige „Arbeitsgrundlage“ des staatlichen Gemeinwesens wird auf diese Weise interpretatorischer Beliebigkeit ausgesetzt und ihre Stabilitätsfunktion strapaziert. 

Ein Unterschied zum einfachen Gesetz, das mit womöglich knappen Mehrheiten stets angepasst werden kann, wäre dann kaum noch erkennbar. Eine Verfassung erhebt den Anspruch einer rechtskulturellen Grundordnung der Gesellschaft, deren Inhalte und Verständnis bis zu einem gewissen Grad zeitlos sein und gegenüber interpretativer Beliebigkeit im Lichte eines gerade bestehenden Zeitgeistes abgeschirmt werden müssen. Wer dies fundamental bestreitet, riskiert es, die Verfassung zu einer bloßen Projektionsfläche für partikulare, aber strukturbedingt durchsetzbare politische Vorstellungen zu degradieren. 

Besonders hohe Vorsicht ist vor allem bei polarisierenden und kontroversen Themen geboten, zu denen sich keine deutlichen Mehrheiten ausmachen lassen. Die Figur des „Verfassungswandels“ lässt sich hier nur schwerlich fruchtbar machen. Das Bundesverfassungsgericht muss eine gesunde Route zwischen der Scylla einer Verfassungserosion durch interpretatorische Beliebigkeit und der Charybdis einer normativitätszersetzenden Totalversteinerung der Verfassung finden. 

Richter sind nicht zeitgeistimmun

Diese Grundsatzprobleme der Verfassungsinterpretation entfalten hingegen nicht nur Gefährdungspotenzial für das Grundgesetz, sondern auch für die Legitimität der Verfassungsgerichtsbarkeit. Zuletzt dürfen die Realitäten der gerichtlichen Entscheidungsfindung nicht ignoriert werden: Auch Richter sind Menschen und stehen nicht außerhalb eines gerade existierenden Zeitgeists, sondern sind in gesellschaftliche Umweltbedingungen eingebunden. 

„Die großen Gezeiten und Strömungen, die den Rest der Menschen verschlingen, wenden sich nicht ab in ihrem Lauf und lassen Richter unberührt“, stellte Benjamin Cardozo, Jurist und späterer Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, bereits vor mehr als einem Jahrhundert fest. Die Autorität des Gerichts lebt von der soziokulturellen Akzeptanz seiner Entscheidungen, sodass die Richter ein Gespür für die gesellschaftliche und politischen Grundstimmung entwickeln und diese im Blick behalten. 

Die Grenzen zwischen Normativität und Faktizität, zwischen Recht und Politik werden hier zwangsläufig verwischt.

 

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