Integration statt Leistung?
Es gibt Begriffe, die so schön klingen, dass sie gar nichts Schlechtes bedeuten können. „Integration“ ist einer von ihnen. Andere Menschen integrieren, sie zum Teil der Gemeinschaft zu machen als Gegenentwurf zur Ausgrenzung: So müsste es doch immer sein. Ob es nun um zugewanderte Menschen geht, um Personen mit einer Beeinträchtigung oder um leistungsschwächere Schüler: Wir sind beseelt von der Idee, sie am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen wie alle anderen.
Die Verklärung des Wortes „Integration“ hat damit zu tun, dass derjenige, der es einsetzt, gedanklich stehenbleibt beim Wunsch, den es verkörpert. Der Begriff suggeriert ein Idealbild. Aber wer unbesehen alles in alles integrieren möchte, schwächt das gesamte System.
Alle werden zur „Regel“
Das kann man in der Schweiz in Echtzeit beobachten. Die Kantone sind in Bildungsfragen theoretisch recht eigenständig, aber es gibt einige bundesweite Vorlagen. Zu diesen gehört seit 2011, dass das ganze Land den „integrativen Unterricht“ umzusetzen hat. Die einstigen Sonderschulen, in die besonders leistungsschwache oder verhaltensauffällige Kinder eingeteilt wurden, galten ab sofort als Rezept der Vergangenheit.
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An ihre Stelle trat die „Integration“, die Regelschule für alle. Niemand sollte das Gefühl haben, nicht der „Regelfall“ zu sein, keiner sollte sich als „Sonderfall“ sehen. Alle zusammen in einem Raum mit einer Lehrkraft.
Deshalb gehen heute quer durch die Schweiz Hochbegabte in dieselbe Klasse mit Schülern, die darüber rätseln, wie viele Buchstaben das Alphabet hat. Diese Entscheidung ist 14 Jahre her, und es verging damals gefühlt keine Woche, bis sich einige Leute fragten, ob das wirklich der Weisheit letzter Schluss war. Denn was auf dem Papier edel und mutig klingen mag, stellt seither Lehrpersonen, Schulleitungen, aber auch Schüler und Familien auf die Probe.
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Was die Integration in der Realität bedeutet: Überforderte Schüler, die vom politischen Wunsch beseelt eine Regelschule besuchen, ohne dem Unterricht wirklich folgen zu können und dann das Schulzimmer in eine Tohuwabohu-Zone verwandeln. Kinder, die ihre Impulse nicht im Griff haben und damit den Unterricht aufhalten. Brüllende Kinder, herumrennende Jugendliche, Schüler, die keine Ahnung haben, was gerade das Thema ist und darauf – verständlicherweise – mit Aggression reagieren.
Die Leistungsfähigen gehen unter
Die Folge: Leistungsbereite, leistungsfähige Mitschüler haben in der Lehrperson keinen Ansprechpartner, weil diese vollauf damit beschäftigt ist, eine halbwegs geordnete Schulstunde sicherzustellen – und in aller Regel dabei doch scheitert. Wer nicht auffällt, geht unter. Wer kein Sonderfall ist, für den interessiert sich in der „Regelschule“ niemand. Keiner fordert Leistung, weil es genug Arbeit ist, die anderen nicht völlig untergehen zu lassen.
Die Schuld liegt nicht an den Lehrpersonen, sondern an der unmöglichen Aufgabenstellung. Wie soll man auf die Defizite der einen Gruppe eingehen und sich gleichzeitig um die weiterführende Förderung der anderen Gruppe kümmern? Ein Lehrer kann den Unterricht nicht in zwanzig Niveaustufen aufbereiten. Wollte man einen sicheren Weg in die Misere skizzieren: Hier ist er.
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Es geht dabei nicht um Schuldzuweisungen. Jedes dieser Kinder hat seine Geschichte, und keines von ihnen hat sich bewusst dafür entschieden, zum Störfaktor zu werden. Auch sie haben Förderung verdient. Die Frage ist, wie das Bildungssystem damit umgeht.
Die Schweiz hat sich aus Prinzip für den Versuch der Integration entschieden. Nur stören die Kinder, die zu Leistung fähig wären, dieses Prinzip. Schließlich soll man kein Gefälle feststellen dürfen. Um die Integration zu vollenden, wird deshalb munter das Lernniveau nach unten gesetzt, damit sich niemand benachteiligt fühlt. Wer in der integrativen Schule gut abschneidet, muss sich dann aber auch die Frage stellen, ob das wirklich an den eigenen Fähigkeiten oder an den niedrigen Standards liegt.
Sonderklassen sind „unethisch“
Die Verteidiger der schulischen Integration behaupten das Gegenteil. Jüngst taten das drei Lehrkräfte aus dem Kanton Zürich, die sich für die integrative Schule aussprachen. Dafür redeten sie die Wahrheit schön. Die Schulleistungen von Schweizer Schülern seien „stabil“, und dass eines der reichsten Länder im internationalen Vergleich beim Leseverständnis bedenklich abschneidet, führten sie allein auf die „starke Zuwanderung“ zurück.
Diese ist in der Tat ein Faktor. Nur dass eben auch gerade die Migrationsfrage für eine Unterteilung nach Stärkeklassen sprechen würde. Wie soll jemand, der der Sprache seiner Wahlheimat nicht mächtig ist, auch nur in irgendeinem Schulfach auf ein Standardniveau kommen?
Das bedeutet aber, dass einheimische Schreib- und Mathematiktalente in ihrer Klasse untergehen. Man kann nicht bis zu Goethe vorstoßen, wenn andere nicht mal das Alphabet beherrschen. Und wo kommen die Ingenieure von morgen her, wenn der Fokus darauf liegt, der Hälfte der Klasse das kleine Einmaleins zu vermitteln?
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Der Begriff der einstigen Förderklassen, der suggeriert, dass ein Kind etwas mehr und eine besondere Form des Unterrichts benötigt, ist zum Unding mutiert. Die erwähnten Zürcher Lehrkräfte bezeichnen dieses Modell als „unzeitgemäß, ja unethisch“. Denn schließlich fordere schon die Schweizer Bundesverfassung den „Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben“.
Den Verfassungsauftrag missverstanden
Da hat jemand die Verfassung missverstanden. Einen anderen Menschen zu achten und Rücksicht auf ihn zu nehmen, bedeutet nicht, ihn zwingend einer Umgebung der Überforderung auszusetzen und gleichzeitig andere zu unterfordern. Sondern im Gegenteil, allen diejenige Form der Förderung zukommen zu lassen, der sie gerecht werden können und die sie brauchen. Mit Sicherheit hatten die Gründerväter der Schweiz auch nicht die Absicht, die Leistungsfähigen zu bestrafen. Das ist eine Erfindung der Neuzeit.
Lehrkräfte mit Burnout, hilflose Schulleiter, verzweifelte Eltern: Mit Ausnahme einiger verblendeter Ideologen weiß heute jeder, dass das Konzept der integrativen Schule längst gescheitert ist. Aber die pure Lehre wird gnadenlos durchgesetzt – auf Kosten aller Beteiligter.
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Kommentare
Integration heisst für mich nicht unbedingt in die gleiche Klasse gehen. Vielleicht sollten die verschiedenen Leistungsstufen möglichst in einer Schule stattfinden? Aber wenn man Schüler optimal fördern will, müssen unterschiedliche Leistungsspektren separat unterrichtet werden. Mittlerweile bin ich zum Schluss gekommen, dass staatliche Schulen nur bedingt unsere Kinder fördern können. Es ist zwar schwierig, aber wir durften die Erfahrung machen. Wir haben unseren Sohn ein Jahr im Homeschooling gehabt. Wir hatten eine Hilfe beim Französisch-Unterricht. Der Unterricht war viel effektiver. Wir wohnen in Belgien. Dort ist das möglich.
Früher hatten wir Sekundarschule und Abschlussklasse. Ich habe nach sechs Jahren Real Letztere noch drei Jahre besuchen dürfen.
Es gab auch Sonderschulen und sogar zusatz Stunden für "Hochbegabte".
Es gab, nebst normalen Lehren auch sogenannte "Anlehren", die keine Berufsschule hatte, sondern lediglich berufsspezifische Kurse.
Auch da habe ich letzteres "gewählt".
Und, was soll ich sagen?! Ich bin jetzt 62, bald ist Pension und ich konnte mein ganzes Leben den Beruf ausüben den ich wollte und der mir bis jetzt freude macht. Ich habe zwei clevere Jungs die es zu etwas bringen werden. Mein leben ist also alles in allem recht gut verlaufen mit allen Höhen und Tiefen die wohl dazu gehören. Einige Jugendfreunde und Freundinnen die Sek gemacht haben oder sonst auch "höhere Schulen", sind heute teilweise schlechter dran als ich. Leistungsstress, Überforderung, den eigenen hohen Lebensstandart halten, Karriere usw. hat Ihnen schwer zugesetzt. Einige sind auch regelrecht abgestürzt.
Also, ich hatte eine tolle Schulzeit, in der auf mich und meine Fähigkeiten eingegangen werden konnte und habe bis jetzt praktisch nichts vermisst.
Aber heute, im Artikel auch zu lesen, Burnouts, Überforderung, Leistungsdruck usw.! Einiges ist sicher "Hausgemacht" und selbstverschuldet, aber vieles wird schon in eben diesem "verkorksten Schulsystem" versaut!
Es hiess schon früher: besser ein guter Abschlussklässler als ein schlechter Sekschüler und das ist im Kern bis heute so geblieben. Aber eben, die Verblendeten sehen das wohl anders... auf ihrer Wolke...!