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Interview mit Christiaan Alting von Geusau

„Aufgabe des Lehrers ist es, jungen Menschen zu helfen, ihre Berufung zu finden“

Christiaan Alting von Geusau kann man fast als einen Universalgelehrten bezeichnen. Der Niederländer studierte Philosophie in den USA, promovierte in Rechtswissenschaften an der Universität Wien über die Menschenwürde und setzte sich mit Pädagogik auseinander. Das führte dazu, dass er vor zehn Jahren das katholische Privatgymnasium Schola Thomas Morus in Trumau bei Wien gründete, dessen Direktor er bis August 2023 war. Gleichzeitig war von Geusau bis dato auch Rektor der ebenfalls in Trumau beheimateten Katholischen Hochschule ITI. Dort lehrt er Rechtsphilosophie sowie christliche Bildung und führte ein zweisemestriges Studium Generale ein.

Corrigenda besuchte von Geusau in der Schola Thomas Morus, als er noch die Position des Rektors innehatte. In dem Interview spricht er über die größten Herausforderungen der Schullandschaft, warum es unbedingt Schulen braucht, die sich zu einer bestimmten Philosophie oder religiösen Zugehörigkeit bekennen und welches Bildungsideal die Schola Thomas Morus verfolgt.

Was wäre die erste Sache, die Sie ändern würden, wenn Sie Bildungsminister wären?

Das Erste, das ich machen würde, wäre dezentralisieren. Das heißt, ich würde die Subsidiarität wieder zurückbringen. Schulen sollten viel mehr Autonomie und Möglichkeiten haben aufgrund ihrer Schwerpunkte, aber auch aufgrund der Begabungen und Interessen ihrer Schüler. Die Schulen sollen selbst bestimmen, was für sie wichtig ist. Es muss natürlich einen gewissen Rahmen geben, aber ich würde die Lehrpläne auch nicht zu spezifisch machen. Man kann gewisse Zielsetzungen formulieren, aber den Schulen viel mehr Freiheit lassen. Eine andere Sache, die sofort passieren müsste, ist die Entrümpelung.

Meinen Sie, es gibt zu viel Bürokratie?

Die Bürokratie ist furchtbar, die Direktoren gehen darin unter. Das Problem ist: Schuldirektoren sollten sich eigentlich großteils mit pädagogischen Fragen beschäftigen und selbst auch im Unterricht sein. Aber die Mengen an Bürokratie sind gewaltig. Zusammengefasst: Weniger Bürokratie und viel mehr Autonomie für die Schulen, alles natürlich in einem gewissen Qualitäts- und Gesetzesrahmen. Damit nicht nur in Privatschulen, sondern auch an öffentlichen Schulen viel mehr Gestaltungsfreiheit existieren kann.

Wenn Sie von „dezentralisieren“ sprechen, meinen Sie, sollten Schulen generell privatisiert werden?

Nicht notwendigerweise, jedes Land hat da sein eigenes System. Ich finde es einen großen Vorteil der österreichischen Schullandschaft, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt. Es ist in Österreich relativ machbar, eine Schule zu gründen. Die Möglichkeit für private Bildungsinitiativen sollte trotzdem ausgebaut werden. In den letzten Jahren wurde das doch zu sehr reglementiert, weil es natürlich immer die berechtigte Sorge des Missbrauchs gibt. Das ist schade, weil – wie wir in anderen Ländern sehen –, wenn man in einem Land einen guten privaten Schulbereich hat, dann werden dadurch oft die öffentlichen Schulen stimuliert und das kann dazu führen, dass in der Umgebung von guten Privatschulen öffentliche Schulen enorm an ihrem Profil arbeiten, weil sie natürlich in eine Art Wettbewerb mit ihnen treten.

„In Europa denken die meisten Eltern nicht genauer über die Schulwahl nach“

Besteht nicht die Gefahr, dass Kinder aus wohlhabenderen Familien in die Privatschulen abwandern?

Die Gefahr ist da, wenn man das nicht richtig angeht. Wir haben zum Beispiel von Anfang an gesagt, Geld sollte nie ein Hindernis sein, um in die Schola Thomas Morus zu kommen. Deswegen haben wir auch ein Stipendienprogramm, das dazu geführt hat, dass in unserer Schule wirklich eine breite Schicht der Gesellschaft beherbergt ist. Das wollten wir bewusst, weil Bildung für alle da sein muss.

Ein interessantes Beispiel in den USA, das jetzt sehr wächst, ist das sogenannte „Voucher-System“. Da bekommen Eltern eine Subvention vom Staat, die sie für eine Schule ihrer Wahl verwenden dürfen. Ein Schulplatz kostet, sagen wir mal, 5.000 Euro im Jahr, und die Eltern können sich eine passende Schule – egal ob öffentlich oder privat – aussuchen. Diese Schule bekommt dann auch das Geld. Dadurch ist eine ganz neue Schicht von Bildungseinrichtungen entstanden in den Vereinigten Staaten, wo der Ausgangspunkt ist, dass die Eltern als die ersten Erzieher der Kinder die Freiheit haben zu entscheiden, welche Schule für ihr Kind die beste ist. Das ist ein erfolgreiches System in den USA, weil dadurch die Schulen gleichbehandelt werden und ein gesunder Wettbewerb entsteht. Man will die beste Schule sein, und dazu muss man sich bemühen, Schüler zu bekommen.

Da existiert nicht die Situation wie in europäischen Ländern, wo die meisten Eltern überhaupt nicht darüber nachdenken, ihr Kind in eine Privatschule zu schicken, weil sie dort Schulgeld zahlen müssten. Das ist schade, denn es kann für ein bestimmtes Kind besser sein, in eine Privatschule zu gehen, weil die zum Beispiel persönlicher und kleiner ist.

Hat Ihre Schule genug Schüler oder gibt es Probleme damit, Schüler zu rekrutieren?

Ich würde nicht sagen, dass wir Probleme mit der Rekrutierung von Schülern haben, aber wir könnten sicher mehr Schüler gebrauchen. Die Gründe dafür sind verschieden. Wenn Privatschulen nicht schon seit vielen Jahrzehnten bestehen, brauchen sie viel mehr Zeit, um zu einer größeren Anzahl an Schülern zu kommen. Viele Eltern in Österreich denken überhaupt nicht genauer über die Schulwahl nach. Sie überlegen vielleicht zwischen Mittelschule und Gymnasium, und ob die Schule in der Nähe ist. Eltern, die spezifische Vorstellungen haben, was eine Schule sein sollte, sind meistens angewiesen auf Privatschulen.

„Es ist besser, kleinere Schulen zu haben, die sich zu einer Bildungsphilosophie bekennen“

Im Schulorganisationsgesetz steht, dass „die österreichische Schule die Aufgabe hat, an der Entwicklung der Anlage der Jugend nach den Werten des Wahren, Guten, Schönen mitzuwirken“. Das klingt sehr pathetisch, denn eigentlich hat man das Gefühl, dass Lehrer damit kämpfen, ihren Schülern Lesen, Schreiben, Rechnen beizubringen. Wie lässt sich dieses Ideal in einem überforderten Bildungssystem ganz konkret umsetzen?

Das Ideal lässt sich kaum umsetzten. Ich finde es schon sehr besonders, dass es diesen Passus noch gibt. Es ist ein schöner Satz und sollte eigentlich Ziel jeder Schule sein. Aber Sie sagen zu Recht, es wird für die meisten Schulen – ich würde sogar sagen, es gilt genauso für die meisten Privatschulen – immer schwieriger, diesem Satz überhaupt nahe zu kommen, weil auch die Unterschiede in der Gesellschaft zu groß sind. Das Soziale ist eine große Herausforderung.

Deswegen plädiere ich dafür, dass es besser ist, mehr kleinere Schulen zu haben, die sich schwerpunktmäßig zu einer gewissen Bildungsphilosophie und auch religiösen Angehörigkeit bekennen. Aus dem jeweiligen Denken können sie sich auf das fokussieren, was sie meinen, dass am besten ist für die Schüler. Das ist besser als lediglich riesige Schulen, wo es sehr schwierig ist, dieses Ideal zu erreichen.

Wie versucht die Schola Thomas Morus, das Ideal des Guten, Wahren, Schönen umzusetzen?

Wir haben ganz bewusst dieses alte, schöne Gebäude für die Schule ausgesucht. Das haben wir, so gut es geht, im historischen Stil renoviert. Sie sehen es zum Beispiel hier (steht auf und geht zum Fenster neben seinem Schreibtisch): Die Fensterbretter hätten wir viel billiger machen können, mit Stahl, aber sie sind ganz bewusst aus Holz. Das Schöne fängt damit an, dass man eine Bildungseinrichtung schafft, die ästhetisch ist. Eine schöne Umgebung schafft Ruhe. Das ist sozusagen der materieller Zugang. Auch das Fach Literatur spielt bei uns in der Schule eine zentrale Rolle, welches neben Deutsch als eigenes Fach besteht. Zwei Stunden in der Woche werden große Werke der Literatur in aller Ruhe durchgelesen, diskutiert und analysiert. Unglaublich, was für einen Einfluss das auf die Schüler hat!

Das Gebäude des katholischen Privatgymnasiums Schola Thomas Morus in Trumau

„Kompetenzen muss man lernen, aber das allein ist zu wenig“

Literatur haben die Schüler ab der ersten Klasse Gymnasium?

Genau, von Tag eins ab der ersten Klasse. Was das Wahre betrifft: Wir sind eine katholische Schule und der katholische Glaube spielt eine wesentliche Rolle im täglichen Schulleben. Es wird jeden Tag in der Früh und zu Mittag um zwölf Uhr der „Engel des Herrn“ gemeinsam gebetet. Einmal in der Woche haben wir eine Schulmesse. Es gibt auch die Möglichkeit, täglich zur Messe zu gehen in unserer Schulkapelle. Wir suchen unsere Lehrer bewusst aus. Uns ist wichtig, dass sie selbst praktizierende Katholiken sind, damit sie das auch vorleben können. Wir versuchen, in der Schule den Glauben zu vermitteln, und wollen den junge Menschen die Möglichkeit geben, in der Schule in ihrem Glauben zu wachsen.

Dann gibt es einen weiteren Ansatz, der bei uns sozusagen Kernsache ist, der auch im schon erwähnten Literaturunterricht eine große Rolle spielt: Die jungen Menschen zu lehren, selbstständig zu denken. Selbstständiges Denken heißt, ich muss nicht automatisch wiederholen, was andere sagen. Ich muss mich nicht einschüchtern lassen, wenn meine Meinung vom Mainstream abweicht. Aber ich muss den großen Fragen nachgehen und es wagen, mir immer selbst ein Bild zu schaffen, Fragen zu stellen, mit anderen darüber zu diskutieren. Das versuchen wir die jungen Menschen zu lehren. Deswegen sind wir hier an der Schule nicht nur fokussiert auf die Kompetenzorientierung, der heutzutage in Europa ein Modebegriff ist.

Kompetenzen muss man lernen, absolut, aber das allein ist viel zu wenig, denn man macht eigentlich nichts anderes als Fähigkeiten wiederholen. Aber im Leben braucht man wesentlich mehr. Man muss in der Lage sein, selbstständig die Wirklichkeit zu erfassen, sich darüber Fragen zu stellen. Warum ist die Wirklichkeit, wie sie ist? Das wird vergessen, weil wir in so einer Meinungsdiktatur leben. Unsere Gesellschaft neigt dazu, die Wirklichkeit mit aller Gewalt an ihre Wünsche und Gefühle anzupassen. Aber das führt in die Irre. Irgendwo kommt dann der großen Crash, weil man irgendwann an einen Punkt kommt, wo man die Wirklichkeit nicht mehr nach seinem Willen beugen kann.

Zur Person Christiaan Alting von Geusau

Christiaan Alting von Geusau studierte Philosophie an der katholischen Franciscan University of Stubenville in den USA. Anschließend studierte der 1971 geborene Niederländer Rechtswissenschaften in den Niederlanden, Heidelberg und Wien. Seine Dissertation verfasste er über die Menschenwürde. Von 1997 bis 2004 war von Geusau Rechtsanwalt in Amsterdam und Brüssel. 2013 gründete von Geusau das katholische Privatgymnasium Schola Thomas Morus in Trumau bei Wien. Dem Gymnasium steht er ehrenamtlich vor als Obmann des Trägervereins. Am ersten August diesen Jahres legte von Geusau sein Amt als Direktor der Schule und auch als Rektor der ebenfalls in Trumau beheimateten Katholischen Hochschule ITI ab. Heute leitet er als Geschäftsführer das International Catholic Legislators Network (ICLN), ein internationales Bildungsinstitut für christliche Politiker, sowie die Beratungsfirma Ambrose Advice e.U.. Christiaan Alting von Geusau ist verheiratet und Vater von fünf Kindern.

Das ist ja eigentlich schon eine Philosophie: Realismus und Orientierung an der Wirklichkeit.

Ich würde es nicht Realismus nennen. Die Grundfrage unser Existenz ist: Was heißt es, Mensch zu sein? Das heißt, dass ich in aller Bescheidenheit versuche, die Wirklichkeit um mich herum zu erfassen und zu verstehen. Ich kann alle biologischen Wirklichkeiten auswendig lernen, da ist nichts dagegen einzuwenden. Aber ich kann auch einen Schritt weitergehen: Ich kann versuchen zu verstehen, warum Gegebenheiten so sind, wie sie sind.

Eine der wichtigsten Sachen der Bildung ist, dass man nicht nur lernt, was ist, sondern auch, warum es ist. Wenn uns das gelingt, haben wir junge Menschen, die in der Lage sind, die Sachen zu erfassen und hoffentlich auch gut mit ihnen umzugehen, weil sie eine gewisse innere Ausrichtung entwickelt haben. Wenn etwas auf sie zukommt, eine schwierige Situation, eine Entscheidung, die sie treffen müssen, sind sie in der Lage, erst einmal in Ruhe Schritte zurückzusetzen, zu beobachten, Fragen zu stellen, darüber mit anderen zu diskutieren und zu reflektieren. Dadurch komme ich immer näher zur Wahrheit des Menschseins. Aber das ist ein lebenslanger Weg.

„Bildung ist, das sichtbar zu machen, was als Keim verborgen liegt“

Das klingt alles wunderbar, aber lässt sich das in unserem Bildungssystem, vor allem in öffentlichen Schulen umsetzen?

Sehr schwierig. Ich würde es nicht so sehr daran aufhängen, ob es im öffentlichen Schulsystem funktioniert oder nicht. Letzten Endes hängt alles von dem einzelnen Lehrer ab. Sind die einzelnen Lehrer bereit, diesen Weg mit ihrem Schüler zu gehen? In einer Klasse mit 35 Schülern ist das natürlich viel schwieriger als in einer Klasse mit 15 Schülern. Deswegen plädiere ich auch für kleinere Klassen und mehr Schulen. Ich zitiere gerne diesen Spruch vom heiligen Thomas Morus: Bildung ist, das sichtbar zu machen, was als Keim verborgen liegt. Herauszunehmen aus dem Menschen, was da ist. Die Aufgabe des Lehrers ist es letztendlich, dem jungen Menschen dabei zu helfen, seine Berufung zu finden.

Ist das nicht ein bisschen zu viel verlangt von Schule? Das Ziel ist ja, dass der Schüler eine gewisse Allgemeinbildung erlangt. Wo ist bei über zehn Unterrichtsfächern noch die Zeit, einzelne Begabungen zu fördern?

Wir sind sicher überfrachtet mit allen möglichen Fächern. Ich muss hier zurückdenken an das alte klassische Bildungssystem, wo es darum gegangen ist, einige Kernfächer zu erlernen, die man dann in die Tiefe weiterentwickelt. Das waren die artes liberales, das Trivium (bestehend aus Grammatik, Logik und Rhetorik), wo man lernt, mit Sprache umzugehen. Man lernt zu reden, zu denken, zu lesen.

Das heutige System macht es den jungen Menschen schwer, weil es so überfrachtet ist, weil es nur auf Kompetenzen hin orientiert ist und es zu wenige Möglichkeiten gibt, dass junge Menschen diesen Weg des selbstständigen Denkens profund angehen. Ich nenne ein Beispiel: Es gibt in Österreich bei dem Maturafach Deutsch oder überhaupt in der Vorbereitung auf die Deutsch-Matura dieses Limitieren auf eine gewisse Anzahl von Wörtern. Das ist ein Problem, weil damit zerstört man die Kreativität eines jungen Menschen. Oder: Bei der mündlichen Matura kreuzen die Prüfer eine Liste an, welche Fähigkeiten der Maturant hat. Das ist zu wenig. Es ist viel interessanter, dass ein junger Mensch fähig wird, einen geordneten Diskurs zu führen und mit jemanden in eine Debatte zu treten.

Es gibt noch etwas anderes, was ich erst in den letzten Jahren wirklich entdeckt habe: Eigentlich müssen wir unser Bildungssystem ganz neu überdenken, was junge Menschen vor allem zwischen 14 und 18 Jahren anbelangt. Ich habe selbst Kinder in diesem Alter, die sechs bis acht Stunden pro Tag am Schreibtisch in der Klasse sitzen. Dafür sind sie aber gar nicht gemacht. Sie müssen viel mehr hinaus in die Natur, müssen mit den Händen arbeiten und sich mit der Wirklichkeit der greifbare Schöpfung auseinandersetzen. Was tun die Schüler der Schola Thomas Morus in der Pause? Das Erste, was sie tun, wenn sie die Möglichkeit haben, ist hinauszugehen auf unserer großes grünes Schulgelände.

„Junge Menschen müssen zuerst lernen, was es überhaupt heißt, Mensch zu sein“

Heute liegt die Betonung auf Kompetenzen und standardisierten Verfahren. Davor gab es das Bildungsideal des Schulreformers Wilhelm von Humboldt. Dieses legt Wert auf Charakterbildung und Persönlichkeitsentfaltung. Wann kam es zu diesem Wandel?

Ich denke, vieles hat mit der industriellen Revolution zu tun und überhaupt mit der Industrialisierung der Gesellschaft. Was mich am meisten wundert: Warum muss eine Wirtschaftsorganisation wie die OECD PISA-Studien abgeben? Das sagt schon einiges aus. Ich habe den Eindruck, dass unser Bildungssystem viel zu viel darauf ausgerichtet ist, gute Konsumenten und Produzenten zu schaffen. Leute, die gut konsumieren und die in den Produktionsprozess aufgenommen werden können. Dafür existiert Schule aber nicht.

Schule ist dazu da, um junge Menschen auf das Leben vorzubereiten. Durch bestimmte Fächer, Persönlichkeitsentwicklung und Charakterbildung sollen sie befähigt werden, um in dieser Welt ihren Platz und ihre Berufung zu finden. Die globale Gesellschaft entwickelt sich leider immer mehr in die Richtung: alles ist Wirtschaft. Klar brauchen wir die Wirtschaft. Aber die jungen Menschen müssen zuerst lernen, was es überhaupt heißt, Mensch zu sein. Deswegen spricht auch nichts dagegen, wenn Schüler mal außerhalb der Schule tätig sind, im sozialen Bereich oder durch ein Praktikum.

Wissen Sie, was für mich die wichtigste Erfahrung meines Bildungswegs war? Als ich das erste Jahr als Student an einer Universität in den USA war. An dieser Universität war es verpflichtend, dass man im ersten Jahr einen halben Tag pro Woche Sozialarbeit macht. Ich habe ein ganzes Jahr jeden Freitagnachmittag als Sozialarbeiter in einem Gefängnis gearbeitet. Das hat mein Leben verändert, weil es mir eine Perspektive auf die Wirklichkeit gegeben und mir zum Beispiel gezeigt hat, dass auch all diese Gefangenen Menschen sind, die im Kern etwas Gutes hatten, aber dann entgleist sind. Das hat mein ganzes Weltbild geändert.

Schülerinnen lernen in der Schola Thomas Morus

Was, würden Sie sagen, ist heute die größte Herausforderung der Bildung?

Die größte Herausforderung ist neben dem problematischen Fokus auf Kompetenzorientierung und der enormen Bürokratisierung, dass sich Schüler Konzentrieren lernen, dass sie den Fokus auf das Wichtigste lenken. Das wird immer schwieriger. Der Digitalisierungsschwung ist nicht notwendigerweise von sehr großem Vorteil. Natürlich gehört Informatik zur Grundbildung, und ab diesem Schuljahr gibt es das neue Fach „Digitale Grundbildung“ an der Schola Thomas Morus.

Das ist alles in Ordnung, aber man muss sehr aufpassen, denn die Digitalisierung hat auch dazu geführt – viele Studien und Psychologen haben das belegt –, dass das Konzentrationsvermögen der Schüler immer weniger wird, insbesondere durch die Smartphones. Mittlerweile verbannen immer mehr Schulen das Smartphone von der Schule. Als unsere Schule vor zehn Jahren gegründet wurde, waren wir die Ersten, die das eingeführt haben. Damit geht aber gleichzeitig einher, den Schülern den Nutzen des Smartphones beizubringen, es aber auf der anderen Seite nicht zu einem Ablenkungsmanöver zu machen.

Wenn Digitalisierung unbegleitet passiert, ist das eine Katastrophe. Denn – was viele nicht realisieren –, ist, dass es bei jungen Menschen bis zum 21. Lebensjahr dauert, bis sich ihr Gehirn so entwickelt hat, dass es fähig ist, Selbstkontrolle auszuüben bei Sachen, die süchtig machen. Ein junges Gehirn ist nachweisbar nicht in der Lage, die Art der Selbstbeherrschung auszuüben, die es braucht, um mit Smartphones richtig umzugehen.

„In der katholischen Bildungstradition steht der Mensch im Zentrum, nicht seine Kompetenzen“

In ihren Artikeln und Vorträgen zitieren Sie häufig aus dem Buch „Education at the Crossroads“ des französischen Philosophen und Katholiken Jacques Maritain. Könnten Sie kurz seine Kerngedanken erläutern?

Davon habe ich eigentlich schon vieles geäußert. Maritain kommt aus der Richtung, die den Lehrer als jemanden begreift, der die Schüler befähigt zu entdecken, was die Wirklichkeit ist. Der sie befähigt, nachzudenken, zu verstehen. Maritain sieht die Lehrer als diejenigen, die dadurch, wie sie vorgehen, wie sie inspirieren, wie sie die Schüler herauslocken aus ihrem Zelt, sie in die Lage bringen, selbst zu begreifen, was sie vor sich haben und darauf ihr Leben aufzubauen.

Bildet die Lehre von Jaques Maritain den philosophischen Unterbau der Schola Thomas Morus?

Nein, eigentlich nicht. Das ist viel diverser. Er ist aber sicher eine wichtige Inspiration. Eine andere ist der heilige Thomas Morus selber, der auch einiges geschrieben hat über die Bildung. Eine andere Inspiration ist die katholische Tradition der Bildung, die Jahrhunderte alt ist, und dann natürlich die antike Tradition der artes liberales.

Was sind Eckpunkte der katholischen Tradition?

In der katholischen Bildungstradition steht der Mensch im Zentrum, nicht seine Kompetenzen oder Noten. Die katholischen Bildungstradition speist sich aus dem Prinzip der Nächstenliebe. Die Würde des einzelnen Menschen, des einzelnen Schülers ist dort zentral, sowie die Fähigkeit des Menschen, in Freiheit eine Gottesbeziehung aufzubauen. Diese Gottesbeziehung baut man nicht nur durch ein Glaubensleben in der Schule auf. Aber das Schöne ist, die Gottesbeziehung baut man auch dadurch auf, dass man sich mit der Schöpfung auseinandersetzt, dass man diese Schöpfung verstehen will, weil es letzten Endes Gottes Schöpfung ist. Das ist der Kern der katholische Bildungstradition.

Haben Sie Schüler, die nicht katholisch sind?

Ja, wir haben ein paar Kinder ohne Religionsbekenntnis. Einige sind nicht katholisch, aber evangelisch oder orthodox. Die Eltern dieser Kinder haben sich ganz bewusst für diese katholische Schule entschieden.

Und es stört die Eltern ohne Religionsbekenntnis nicht, dass der Glaube so eine zentrale Rolle spielt?

Gar nicht. Die Schule ist die bewusste Wahl der Eltern. Natürlich kann es dazu führen, dass wenn Eltern und Schüler ein offenes Herz haben, sie sich für den katholischen Glauben zu interessieren beginnen. Das zwingen wir gar nicht auf, aber wenn man den Glauben von sich aus lebt, ist das ansteckend.

„Wenn man nicht gelernt hat, sinnerfassend zu lesen, kann man kein mündige Bürger einer Demokratie sein“

Demokratie setzt mündige Bürger voraus. Nun haben deutsche Schüler bei der neue PISA-Studie so schlecht abgeschnitten wie noch nie zuvor. Welche Auswirkungen hat ein schlecht funktionierendes Bildungssystem auf die Demokratie?

Gigantische Auswirkungen! Wenn junge Menschen nicht lernen, einen Diskurs zu führen, selbstständig zu denken, analytisch lesen zu können, dann sind sie gar nicht in der Lage – wenn es um gesellschaftliche Themen geht –, sich eine fundierte Meinung zu bilden. Sie sind nicht in der Lage, sich überlegen zu können: Wie kann ich richtig entscheiden? Dann sind Menschen auch viel anfälliger für Ideologien und gesellschaftlichen Druck.

Wenn junge Menschen nicht gut lesen können, sind sie nicht in der Lage Schlussfolgerungen aus dem Gelesenen zu ziehen. Das zeigt sich zum Beispiel, wie die Leute mit Nachrichten und sozialen Medien umgehen. Ich habe noch gelernt – vor allem Zuhause –, dass ich mich nie nur auf eine Quelle beziehe, wenn ich Nachrichten lese. Wenn ich Nachrichten lese, schaue ich immer, was die eher linken Medien sagen und was die eher mittigen oder rechten Medien sagen. Ich lese beides, denn man muss lernen, sich eine eigene fundierte Meinung zu bilden. Aber wenn man in der Schule nicht gelernt hat richtig zu lesen, zu erfassen, dann kann man kein mündige Bürger einer Demokratie sein.

Dann ist man auch viel anfälliger für Populismus und fällt leichter auf Wahlwerbung herein.

Ja, man ist für alle Seiten viel anfälliger. In den letzten paar Jahren ist mir negativ aufgefallen, wie wenig informiert die Leute sind und dass sie meistens keine Mühe auf sich nehmen, selbst zu recherchieren und nachzufragen – sei es bei Themen wie Klimawandel oder Corona. Das ist ein Mangel und nicht gut für eine Demokratie, weil dann wird letzten Endes die Kraft gewinnen, die am lautesten schreit.

 

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