Warum verbieten und nicht kapern?
Jetzt ist die Diskussion um ein Verbot der beliebten Video-App TikTok auch in Deutschland angekommen. Nachdem die US-Regierung Regierungsbeamten per Gesetz die Installation des sozialen Netzwerks auf ihren Diensthandys wegen Sicherheitsbedenken verboten hatte – was bei stichhaltigem Verdacht legitim ist –, meldet auch die EU Bedenken an.
Die Vorwürfe: mangelnder Datenschutz und gefährliche, gar lebensbedrohliche Inhalte. EU-Kommissar Thierry Breton drohte TikTok Sanktionen an, sollte die zum chinesischen Konzern Bytedance gehörende Plattform die EU-Richtlinien nicht einhalten.
Das geht einigen nicht weit genug. Die Social-Media-Expertin der Welt, Franziska Zimmerer, fordert ein Verbot, „am besten auf EU-Ebene“. Ihre Hauptargumente: TikTok mache süchtig, sei eine Zeitfressmaschine und könne zu Propagandazwecken missbraucht werden.
„Und das lässt sich weiterdrehen: Sollte es zu einer Invasion Taiwans durch China kommen, ist es nicht naiv zu glauben, TikTok könnte Inhalte bevorzugen, die die chinesische Seite abbilden und gleichzeitig Gegenteiliges sperren oder in der Reichweite reduzieren“, malt Zimmerer die mögliche düstere Zukunft aus.
In einem solchen Kriegsfall, in den aufgrund der Sicherheitszusagen der USA an Taiwan auch der Westen mit hineingezogen würde, wäre der Fall klar. Dann dürften auch westliche Demokratien es nicht zulassen, aus einem naiven und falsch verstandenen Liberalismus-Begriff heraus, chinesischer Kriegspropaganda freien Lauf zu lassen.
Propaganda? Gibt’s auch auf YouTube, Twitter und Co.
Doch das ist im Moment nur ein Szenario unter vielen. Und alle anderen Argumente treffen auch auf andere Medien zu. Ob Videospiele oder die von Zimmerer nicht genannten Plattformen Facebook, Instagram und YouTube, die das Konzept von TikTok kopiert haben und in Form von „Reels“ und „Shorts“ ebenfalls kurze Videos ausspielen, die nimmersatte Zeiträuber sein können.
Sie widersprechen auch dem Argument, wonach die westliche Version von TikTok im Vergleich zur chinesischen angeblich bevorzugt „Trash“ hervorheben würde. Denn die Qualität unterscheidet sich nicht wirklich von den gängigen Clips auf Instagram und Co.
Und Propaganda? Wie inzwischen hinlänglich bekannt sein sollte, nutzen auch hiesige Regierungen Medien aller Art auf diese Weise. In der Schweiz sorgt – kaum beachtet in Deutschland – ein solcher Fall seit Tagen für Empörung: Ein Sprecher des auch für die Corona-Politik mitverantwortlichen Innenministers gab vertrauliche Vorabinformationen an ein großes Medienhaus weiter, das dann im Gegenzug das publizierte, was dem Minister nützte. Die Bevölkerung wurde auf diese Weise auf den Corona-Kurs der Bundesregierung eingeschworen. Das Medienhaus verbieten? Nach Zimmerers Logik: ja.
Die deutsche Bundesregierung wiederum traf sich während der Corona-Pandemie mit Vertretern von Meta und Alphabet, den Mutterkonzernen von Facebook und Instagram sowie YouTube. Thema des Treffens laut Bild-Zeitung: „Die Corona-Pandemie und die in diesem Kontext zu beobachtende Verbreitung von Fehl-, Falsch- und Desinformationen.“ Ziel sei es demnach gewesen, „wie der damit verbundenen Herausforderung grundsätzlich begegnet werden kann“.
Ein Verbot würde Missbrauch weiterer harter Staatseingriffe Tür und Tor öffnen
Das Ergebnis der Unterredung ist nicht bekannt. Doch das strikte geistige Hygieneregime auf den genannten Plattformen erlebten viele hautnah mit: Unzählige Videos und Accounts wurden gelöscht oder gesperrt, auch die seriöser Medienmarken, weil sie vermeintliche Falschinformationen verbreiteten – die sich später nicht selten als wahr herausstellten. Instagram und YouTube verbieten, weil sie scharf in die Meinungsbildung eingegriffen haben? In Zimmerers Logik: ja.
Oder Twitter: Auch der beliebte Kurznachrichtendienst hat, wie inzwischen bestätigt, bestimmte Meinungen unterdrückt. Häufig handelte es sich dabei um dezidiert konservative oder rechte Inhalte. Hier war es keine Regierung, die entschied, welche Einträge weniger Reichweite erhalten sollen, sondern ein paar linksliberale Tech-Manager.
Ein Verbot TikToks würde dem Missbrauch für weitere derart harte Staatseingriffe Tür und Tor öffnen. Denn wo sollen die Grenzen gezogen werden, wenn wie eben beschrieben auch westliche Plattformen für Regierungspropaganda genutzt werden?
Chinesische Protestierer sind kreativer als die Zensoren
Selbst in TikToks Herkunftsland China ist zu beobachten, wie Propaganda und Zensur an ihre Grenzen geraten. Der überwältigende Teil der westlichen China-Experten hat derartige Proteste für unmöglich gehalten, wie wir sie Ende des vergangenen Jahres gesehen haben. In verschiedenen Landesteilen versammelten sich gleichzeitig jeweils Hunderte Chinesen und machten ihren Unmut über die immer noch betonharten Corona-Maßnahmen laut.
Möglich wurde dies auch dank sozialer Netzwerke. Aber sind diese in China nicht streng zensiert? Ja, aber die Demonstranten waren kreativer. Die Zensoren kamen mit dem Löschen zunächst nicht hinterher. Im großen chinesischen sozialen Netzwerk WeChat verbreiteten solidarische Nutzer einen längeren Beitrag, der zur Umgehung der Zensur ausschließlich aus denselben zwei Schriftzeichen bestand: denen für „unterstützen“. Andere posteten nur leere, weiße Bilder – die Protestierer hielten weiße Blätter hoch – oder veröffentlichten Texte im Bildformat, die mit Linien überzogen waren, so dass die Inhalte für die Zensursoftware schwerer erkennbar waren.
Eine andere Möglichkeit bestand für die Maßnahmenkritiker freilich darin, auf ausländische Netzwerke auszuweichen. Bei denen setzte die Regierung in Peking zum Gegenschlag an und kaperte die entsprechenden Hashtags. Wer unter dem Begriff #Shenzhen suchte, fand unzählige Fotos leicht bekleideter junger Frauen von Accounts, die erst vor kurzem erstellt worden waren. Inhalte zu den Protesten waren kaum noch auffindbar.
Die Methode des „Hashjacking“ stammt weder von der chinesischen Zensur, noch ist es ihr exklusives Recht. Das Phänomen ist vor allem auch aus politischen Auseinandersetzungen auf Twitter bekannt. Linke setzen einen Hashtag, um beispielsweise eine neue Kampagne zu bewerben, Rechte veröffentlichen dann unter demselben Hashtag ihre Inhalte, die denen der Urheber des Hashtags widersprechen, und vice versa.
Den Algorithmus für sich nutzen
Warum nicht auch Hashtags der Propagandisten und Zensoren kapern? Warum nicht immer einen Schritt kreativer als die Zensursoftware sein? Warum nicht die Algorithmen für sich nutzen? Wenn TikTok in westlichen Ländern „Trash“ bevorzugt, warum nicht Videos mit trashiger Oberfläche erstellen, die aber auf wirkmächtige, weil witzig-subtile Weise ernsthafte Inhalte vermitteln? TikTok nicht verbieten. TikTok kapern!
Klar, solche Debatten sind vermutlich eher theoretischer Natur. Durchschnittliche Kinder und Jugendliche interessieren sich weniger dafür, wie sie schulische Inhalte auf kreative Art über TikTok verbreiten können, als vielmehr für die neuesten Challenges, Sport-, Musik- oder Influencer-Inhalte.
Also die App doch verbieten, weil die Kids sonst zu viel Zeit am Handy verschwenden? Das kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Denn Videospiele, YouTube, Fernseher – sie alle sind gierige Zeitfresser, wenn man sich gehenlässt. Wie so oft, sollte der Staat auch hier gemäß dem Subsidiaritätsprinzip agieren. Und wer ist am nächsten dran an den Kindern und Jugendlichen? Natürlich die Eltern.
Sie entscheiden, welche Apps ihre Sprösslinge auf den Smartphones installieren. Sie erziehen ihre Kinder zu Jugendlichen, deren wichtigster Lebensinhalt nicht eine Handy-App ist. Sie vermitteln ihnen im Idealfall Werte und Ziele, die die Heranwachsenden anstreben. Der Staat kann lenken, in welche Richtung diese Werte zielen – heute tut er es nicht, und wenn, dann sind es die falschen –, er darf aber nicht in die Erziehung eingreifen. Und Eltern wissen auch: Verbotene Früchte schmecken für Kinder besonders süß.
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