„Tár“ hält der Gesellschaft den Spiegel vor
Mit dem amerikanisch-deutschen Film „Tár“ kommt ein „großes Kino“ auf die Leinwand. Das einzigartige Drama von Todd Field ist für sechs Oscars nominiert und eine Sternstunde für Cate Blanchett, Gustav Mahler und die Dresdner Philharmonie. Wie ich finde, zu Recht.
Als ich kurz vor Weihnachten des vergangenen Jahres im renovierten Konzertsaal des Dresdner Kulturpalastes saß und Mahlers 3. Symphonie genoss, ahnte ich nicht, dass dort ein paar Monate zuvor die Dreharbeiten für eine Hollywood-Produktion stattgefunden hatten. Erst vor kurzem erfuhr ich davon und entschied mich, allein schon deshalb den Film anzusehen.
Und er enttäuschte nicht. Bereuen kann ich nur, dass ich den Kinobesuch allein in den Mittagsstunden absolvierte. Denn der Film ist eine Erzählung über die Debatten unserer Zeit und hat das Potential, sie nachher bei einem Glas Wein mit Freunden auszudiskutieren. Er stellt die relevanten Fragen und gibt nur wenige Antworten. So muss die Kunst sein.
Der Versuchung der Macht verfallen
Lydia Tár (von Cate Blanchett dargestellt), die Hauptprotagonistin und fiktive Chefdirigentin der Berliner Philharmoniker, hat alles erreicht, wovon ein Musiker träumen kann: Sie steht in den Fußstapfen Karajans und Furtwänglers, hat eine Autobiographie herausgegeben und viele Preise gewonnen. Sie muss sich nirgendwo mehr vorstellen.
Nun steht sie vor einem weiteren Meilenstein: bald wird sie mit ihrem Orchester Mahlers Symphonien aufgenommen und aufgeführt haben. Nach erfolgreichen Darbietungen fehlt nur noch die 5. und wichtigste Symphonie. Die Dirigentin kann nicht nur im beruflichen, sondern auch im privaten Leben jedem – wie mit einem Taktstock – seine Rolle zuteilen.
Dabei verfällt sie der Versuchung der Macht und verliert sich in dem von ihr jahrelang gesponnenen Netz von Herrschsucht, Manipulation und sexuellen Affären. Die lesbische Dirigentin unterhält Liebesbeziehungen zu Musikerinnen, verspricht ihnen Karrieren und lässt sie wieder fallen. Nach und nach zerfällt Lydias Machtimperium wie ein Kartenhaus. Lydia Tár ist jedoch, wie alle echten Bösewichte, eine komplexe Persönlichkeit, die bisweilen charmant, beeindruckend und überzeugend erscheint.
Hauptmotiv menschliche Korrumpierbarkeit
Während das Hauptmotiv des Films die menschliche Korrumpierbarkeit durch Macht ist, wird an mehreren Stellen mit der linken Identitätspolitik und „Cancel Culture“ abgerechnet. Tár, die sich gern als „Maestro“ anstatt „Maestra“ ansprechen lässt, ist ein Feind woker Empörungskultur. In einer Szene begegnet die Dirigentin bei einer Gastveranstaltung einem Studenten, der sich als „pansexueller BIPoC“ bezeichnet und es ablehnt, Werke „weißer misogyner Cis-Männer“ zu spielen.
Sie nimmt sein absurdes Argument auseinander und erklärt, dass ein Künstler sein Ego zurückzunehmen und sich dem Komponisten unterzuordnen habe. Später wird daraus ein Puzzleteil ihres Untergangs, als ein Online-Mob einen absichtlich verfälschenden Zusammenschnitt dieser Lehrveranstaltung nutzt, um sie zu canceln. Tár ist hier Opfer und Täter gleichzeitig.
Denn die Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs scheinen nicht erfunden worden zu sein. Die Tatsache, dass die „MeToo“-Vorwürfe hier nicht den alten hässlichen Mann treffen, sondern eine attraktive lesbische Frau mit einem dunkelhäutigen Adoptivkind, die einen elektrischen Porsche fährt, dürfte für die heutigen Verhältnisse zumindest unorthodox und mutig erscheinen.
Von keiner Seite vereinnahmbar
Welche Interpretation auch immer man für Fields neuestes Werk wählt, es handelt sich hier um eine profunde Gesellschaftskritik. Solche Gestalten wie Tár tauchen heute nicht nur im kulturellen Betrieb auf, sondern sitzen in den Vorständen, Parlamenten, leiten Lehrstühle und Talkshows. Sie sind machthungrig, verlogen und schmerzfrei. Auch eine woke Fassade kann die seelischen Abgründe nicht verdecken, irgendwann kommen diese ans Licht.
Seit zwei Tagen grübele ich nun über „Tár“ und komme zu dem Schluss, dass der Film von keiner Seite vereinnahmt werden kann. Weder wurde hier ein konservatives Monster noch eine genuin anti-woke Erzählung erschaffen. Und das ist gut so. Denn so wird eine Grundsatzdiskussion ermöglicht und ein zu schnelles Urteil vermieden.
Der Mensch bleibt sich selbst überlassen und muss mit seinen Dämonen fertig werden. Davor ist niemand verschont – weder Frauen noch Männer, weder Konservative noch Woke.