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Wenn ein kleiner Husten dramatisiert wird

Darf mein Kind überhaupt noch krank sein?

Die Unbefangenheit ist weg. Gewiss, es gab auch vorher schon Menschen, die in Bezug auf Infektionskrankheiten übertrieben alarmiert waren. Seit der Covid-19-Pandemie aber lebt in weiten Teilen der Bevölkerung eine regelrechte Hysterisierung fort, die zur Folge hat, dass jeder Mini-Schnupfen als beinahe-tödliche Erkrankung eingeordnet wird. Anders gesagt: Das natürliche Verhältnis zu Grippe & Co. ist völlig abhandengekommen. Und erneut sind es die Kinder, die besonders darunter leiden. Weil das Bedrohungsszenario unangemessen hochgeschraubt wurde, wachsen nun viele Mädchen und Buben damit auf, dass sie im Grunde nicht mehr krank sein dürfen. Als wäre Kranksein ein Makel, eine Schande, ein persönliches Versagen.

Die Folge: Immer mehr Eltern thematisieren aktuelle Krankheitssymptome ihres Kindes nicht in der Gegenwart anderer. Ohrenschmerzen oder Bauchkrämpfe werden heruntergespielt oder gar ignoriert. Das gilt umso mehr gegenüber dem Kita-Personal. Bei berufstätigen Eltern kommt freilich noch hinzu, dass sie sich meist keinen Arbeitsausfall leisten können oder wollen und daher so tun, als wäre ihr malades Kind topfit. Falls eine skeptische Anmerkung der Erzieherin kommt, heißt es ausweichend: „Ach, er ist nur ein bisschen müde“ oder „Sie ist heute schlecht gelaunt“.

„Du bist schuld, wenn sich andere anstecken“

Dass ein Kind im Krankheitsfall Ruhe braucht und jemanden, der sich liebevoll um es kümmert, dürfte jedem klar sein. Doch das fällt weg, wenn es so tun muss, als wäre es gesund und den Tag begehen muss wie alle anderen Tage. Für die Genesung ist das überdies alles andere als förderlich; der Zustand könnte sich sogar verschlechtern. Zudem macht das Kind die Erfahrung, dass man sich für seine Bedürfnisse nicht nur nicht interessiert, sondern dass es diese selbst verleugnen muss. 

Auf diesen bedenklichen Umstand wird leider kaum eingegangen, wenn es heißt, man solle kranke Kinder nicht in Kindertagesstätte und Schule bringen. Vorrangig ist immer das Argument, niemanden anderen anzustecken. Das aber impliziert wiederum, dem Kind die Verantwortung aufzubürden für den Gesundheitszustand anderer – und dann ein Schuldgefühl zu evozieren, wenn andere infiziert werden.

Auch das zeigt, dass es zu einer unnatürlichen Verschiebung gekommen ist, die sich vor allem in der Corona-Zeit etabliert und manifestiert hat. Insbesondere mit dem Tragen des Mund-Nasen-Schutzes wurde ein Symbol aufgebaut, mit dem signalisiert werden sollte: Ich bin der, der dafür sorgen muss, dass du nicht krank wirst. Dabei fiel unter den Tisch, dass jeder Mensch diesbezüglich auf seine eigene Verantwortung setzen kann, da er mit einem Immunsystem ausgestattet ist, das dazu da ist, Krankheiten abzuwehren. Ist es geschwächt, gelingt dies nicht. So hat es die Natur eingerichtet.

Weder bagatellisieren noch überdramatisieren

Nun ist es freilich so, dass Kinder insbesondere im Vorschulalter ihr Immunsystem noch trainieren müssen. Und das tun sie unter anderem, indem sie krank werden und gegen die Erreger Antikörper aufbauen. Wenn sie in die Tagesstruktur einer Kita eingebunden sind und daher viel Kontakt mit Gleichaltrigen haben, bringen sie regelmäßig Infekte mit nach Hause – üblich sind in diesem Alter im Durchschnitt bis zu jährlich zwölf Infekte. Alles im Rahmen, alles völlig normal. 

Kein Grund also, sich darüber zu besorgen. Vielmehr täte es not, zu einem angemessenen Verhältnis zu Krankheiten zurückzufinden. Sie also weder zu bagatellisieren noch überzudramatisieren. Letzteres tun übrigens, auch das ist immer häufiger zu hören, gerne auch andere Eltern, die jeden Husten innerhalb der Kindergartengruppe zu einem schweren Verdachtsfall erheben.

Die Symptome des Kindes sind in jedem Fall ernst zu nehmen – auch einfach deshalb, weil es selbstverständlich sein sollte, sein Kind ernst zu nehmen. Es ist zwar nachvollziehbar, dass es Eltern in die Bredouille bringen kann, wenn sie beim kranken Kind bleiben müssen anstatt zur Arbeit zu fahren, doch das Kindeswohl steht immer an erster Stelle. Eine Berufstätigkeit ist kein Freibrief dafür, das Kind fiebrig in der Betreuungseinrichtung abzugeben. Unterstützung gibt es übrigens per Gesetz, auch wenn Eltern sich mitunter scheuen, ihre Ansprüche geltend zu machen. Bei Krankheit des Kindes können sich Eltern vom Arbeitgeber freistellen lassen. Verheirateten Elternteilen stehen pro Kind bis zu zehn Arbeitstage zu, Alleinerziehenden bis zu zwanzig Arbeitstage.

Kranksein muss erlaubt sein

Eltern können ohnehin nicht schalten und walten wie sie wollen. Das Infektionsschutzgesetz regelt, wie bei bestimmten Krankheiten zu verfahren ist. Mit einer laufenden Nase dürfte kaum ein Kind in der Kita abgewiesen werden – völlig infektfrei geht es in der Praxis ohnehin kaum zu. Keinen Verhandlungsspielraum gibt es hingegen bei den typischen Kinderkrankheiten. Wie es gesundheitlich um das Kind bestellt ist, sollten Eltern nicht nur transparent machen, sie sind dazu sogar verpflichtet.

Nochmal: Krankheit ist nichts, wofür man sich schämen muss. Es muss erlaubt sein, fiebrig darniederzuliegen. Beziehungsweise ist dies keine Frage des Dürfens oder Nicht-Dürfens. Lebewesen sind nun mal verletzlich, und also erkrankt der Mensch dann und wann. Es tut not, Kindern das zu vermitteln und ihnen dadurch die eventuelle Last zu nehmen, sie hätten etwas falsch gemacht. Wichtig ist auch, ihnen die Zeit zuzugestehen, die sie für ihren individuellen Genesungsweg brauchen. Der Prozess bis zur Gesundung hat ohnehin einen nicht zu unterschätzenden Wert. Was da innerlich vor sich geht, gerade auch auf seelisch-emotionaler Ebene, wird trotzdem kaum thematisiert. Wahrscheinlich, weil es unpopulär ist, die positiven Aspekte zu betrachten, die mit dem Kranksein in Verbindung stehen.

Novalis: Krankheit sei Voraussetzung für Individualisierung

Bereits Goethe beschrieb in seiner Autobiografie „Dichtung und Wahrheit“ die Kinderkrankheiten, die er durchmachen musste, als notwendige Reifeschritte, die seinen „Hang zum Nachdenken“ vermehrt hätten. Der Dichter Novalis war überzeugt, dass Krankheit im Kindesalter die Voraussetzung sei für Individualisierung. So ordnete es auch Rudolf Steiner ein, der Begründer der Anthroposophie. Überhaupt versucht die Anthroposophie ihren Blick dahingehend auszurichten, allem, was sich dem Menschen im Laufe des Lebens in den Weg stellt, etwas abzuringen, was ihm zuträglich ist. So würden etwa durchgemachte Krankheiten Körper und Seele stärken. 

Man muss davon nicht überzeugt sein, zugleich erlaubt sich dadurch eine Sichtweise, die dazu beiträgt, Krankheit nicht nur als Bedrohung und ein No-Go einzuordnen. Darin bestärkt auch die medizinische Tatsache, dass Infektionskrankheiten, die mehrheitlich im Kindesalter durchgemacht werden und derart ansteckend sind, dass sie von Kind zu Kind übertragen werden, in der Regel eine lebenslange Immunität hinterlassen.

 

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