Heimliche Gewalt hinter bunten Kita-Mauern
Man wünschte, man hätte sich verhört. Das Zeitalter der schwarzen Pädagogik ist längst passé, die Rohrstöcke sind verbannt, also muss die Behauptung, dass Gewalt in Kindertagesstätten praktiziert wird, so ein Verschwörungs-Dings sein. Was bitte soll sich denn so Schlimmes abspielen hinter bunten Kita-Mauern und mit Schmetterlingen bemalten Kita-Fenstern? Klar gibt es auch mal Krach, aber wo gibt es den nicht. Aber im Großen und Ganzen, zwischen Kastanienbasteln, Bilderbuch-Vorlesen und Insekten-Erforschen läuft es doch gut. Tut es doch, oder?
In ihrem Buch „Seelenprügel“ zeigt Anke Elisabeth Ballmann auf, dass dem nicht so ist. Die Pädagogin und Psychologin thematisiert darin eines der wohl größten Tabus. Denn niemand will sich vorstellen, dass heutzutage Kinder in öffentlichen Einrichtungen, in die Eltern sie vertrauensvoll geben, Schmerzen und Qualen erleiden müssen.
Nun soll damit nicht gesagt sein, dass das der Normalfall wäre, denn die meisten Fachkräfte geben ihr Bestes, einen Ort zu schaffen, an dem Kinder sich wohl und beschützt fühlen können. Und zugleich darf nicht geschwiegen werden über die unbequeme Realität, dass es Kindertagesstätten gibt, in denen Gewalt geschieht. Gemeint sind damit nicht etwa Schläge oder andere schlagzeilenträchtige Übergriffe, die tatsächlich die Ausnahme stellen, sondern vor allem die vielen Formen psychischer Gewalt.
„Unsichtbar wie Luft – zerstörerisch wie ein Orkan“
Sie zu identifizieren ist nicht immer einfach, denn sie geschieht im Betreuungsalltag oft en passant und wie selbstverständlich. Unbedachte Demütigungen, latente Drohungen, subtiler Liebesentzug. Nichts davon hinterlässt blaue Flecken oder Blut – und fällt auch deshalb schnell unter den Radar. Doch die Folgen sind verheerend. „Unsichtbar wie Luft – zerstörerisch wie ein Orkan“, heißt es in „Seelenprügel“.
Auch die viel offensichtlichere Gewalt gehört in manchen Einrichtungen leider zum Alltag, wie Ballmann in jahrelanger Recherche in über 500 Kinderkrippen und Kindergärten herausgefunden hat: Kinder, die angeschrien werden. Kinder, die lächerlich gemacht werden. Kinder, denen das Essen zwangsweise in den Mund geschoben wird. Kinder, die zum Schlafen gezwungen werden. Kinder, die erniedrigt werden, weil sie in die Hose gemacht haben. Kinder, die vor die Tür geschickt werden, weil sie angeblich „stören“.
Es wäre fatal, hier zu verharmlosen. Ein „Ist doch nicht so schlimm“ darf keine Antwort sein. Auch deshalb nicht, weil niemand für einen anderen wissen kann, was ihn gerade verletzt und schmerzt. Jeder hat das Anrecht auf seine Gefühle. Und Kinder haben zudem das Anrecht, vor Aggressionen durch Erwachsene beschützt zu werden. Wer als Fachkraft mit Kindern arbeitet, sollte erst recht in der Lage sein, sich nicht zu Grobheiten gegenüber den ihm Anvertrauten hinreißen zu lassen.
Recherchen belegen drastischen Anstieg von Gewalt in Kitas
Professionalität impliziert Selbstreflexion und das bedeutet auch, sollte ein Kind in einem Erwachsenen ungute Gefühle auslösen, dann forsche er bei sich selbst, warum das so ist – und lade sie nicht in einer Unbedachtheit auf dem Kind ab. Mitunter kann es sein, dass man, wenn man nicht reflektiert genug ist, beispielsweise destruktive Erziehungsmuster weitergibt, die man durch seine Eltern selbst erfahren hat. Das Selbstverständnis von Fachkräften in Kindertagesstätten sollte sein, diesbezüglich eine Achtsamkeit entwickelt zu haben.
Auch eine Recherche des Bayerischen Rundfunks im Dezember 2022 zeigte einen drastischen Anstieg von Gewaltfällen in Kitas. Ebenso bestätigt wurde das durch den Investigativjournalisten Günter Wallraff. Mit seinem Team begab er sich auf Undercover-Recherche und dokumentierte für RTL Misshandlungen, die sich in Kindertagesstätten ereigneten. Die Sendung wurde Ende September 2023 ausgestrahlt und machte deutlich, dass es sich um keine Einzelfälle handelt.
Unter anderem wurde berichtet, wie eine Erzieherin die Kinder fest am Arm zerrte, wenn sie nicht folgen wollten und alle, die beim Schlafen nicht ruhig liegen konnten, fest auf die Matte drückte, teilweise mit dem Knie gegen den Bauch des Kindes. In anderen Situationen wurden Klammergriffe angewendet, um das Kind einzuschüchtern und in eine Ohnmachtsposition zu bringen.
Das sind nur einige der erschütternden Szenen. Sie wurden vorher nicht publik, was auch daran liegt, dass, so ergaben die Wallraff-Recherchen ebenfalls, in der Mehrzahl der Bundesländer keine Statistiken erhoben werden, um besondere Vorkommnisse und Missstände in Kitas zu dokumentieren. Erschwerend kommt hinzu, dass die betroffenen Kinder, vor allem, wenn es sich um solche handelt, die noch im Krippenalter sind, schwerlich als Zeugen herangezogen werden können. Bekannt ist auch, dass auch manche Eltern lieber wegschauen als zu riskieren, den – oft schwer erkämpften – Kindergartenplatz zu verlieren.
Grund ist auch Personalmangel
Dass die alarmierenden Zustände auch durch den eklatanten Personalmangel nicht nur hervorgerufen, sondern auch noch verstärkt werden, dürfte auf der Hand liegen. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung von Oktober 2022 fehlen im Jahr 2023 bundesweit bis zu 383.600 Kitaplätze und damit knapp 100.000 weitere Stellen, die mit Fachkräften besetzt werden müssten. Sollen alle Plätze kindgerechte Personalschlüssel aufweisen, müssten außerdem 308.800 Fachkräfte zusätzlich beschäftigt werden. Der allgemeine Fachkräftemangel führt bereits vielerorts zu verkürzten Öffnungszeiten. Viele Kitamitarbeiter müssen ohnehin Mehrarbeit leisten und sind kräftemäßig am Ende – hohe Krankenstände sind die Folge.
In einer Studie des Deutschen Kitaleitungskongresses (DKLK) gaben mehr als sieben von zehn Kitaleitungen an, der Personalmangel wirke sich negativ auf den im Sozialgesetzbuch festgeschriebenen Kernauftrag von Kindertagesstätten aus, nämlich die Entwicklung des Kindes zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu fördern. Die Umfrage ergab auch, dass hochgerechnet etwa 10.000 Kitas den Betrieb im Durchschnitt an mehr als jedem zweiten Tag nur unter Gefährdung der Sicherheit der zu betreuenden Kinder aufrechterhalten.
Familie wieder höheren Stellenwert einräumen
Natürlich ist Gewalt gegen Kinder weder durch Personalmangel noch durch mangelnde Qualifikation der Betreuungspersonen – die mitunter eine Folge des Personalmangels ist – zu rechtfertigen. Und zugleich wird deutlich, dass Politik und Träger hier dringend nach Wegen suchen müssen, um sich dieses Problemfelds anzunehmen. Hier braucht es im Grunde eine umfassende Reform und nicht „nur“ weiteres Personal.
Ballmann hat völlig Recht, indem sie Eignungsprüfungen, Persönlichkeitstests und stetige Aus- und Weiterbildungsangebote für das Erziehungspersonal in den Kindertagesstätten fordert. Zudem werfen die Missstände auch die notwendige Frage auf, ob ein Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung ab einem Jahr überhaupt weiterhin gelten soll. Wäre es doch wichtiger, der Familie wieder einen höheren Stellenwert einzuräumen, anstatt Kinder schon so früh in Fremdbetreuung abzugeben. Ein Umdenken täte not. Auch weil eine stabile Eltern-Kind-Bindung unerlässlich ist für die gesunde Entwicklung des Kindes.
Ballmann will ihr Buch übrigens nicht als Anklage verstanden wissen, sondern als eine Bewusstseinsmachung für die existierenden Missstände. Gleichzeitig ist „Seelenprügel“ ein Manifest für gewaltfreie Erziehung. Kein Kind soll in eine Kita gehen müssen, in der die Atmosphäre von Angst, Drohungen und Einschüchterungsversuchen beherrscht ist. Sondern es soll dort zuverlässig das schönste Geräusch der Welt zu hören sein, und das entstehe, so Ballmann, wenn „regelmäßig, ausgiebig, ausgelassen und laut gelacht“ werde.
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