Ein Königreich für ein Buch
Wir haben mit Bastian Balthasar Bux, dem pummeligen, traurigen und einsamen Außenseiter mitgefühlt. Mit ihm sind wir mit jeder Seite weiter, tiefer in „Die unendliche Geschichte“ eingetaucht. Dieses märchenhafte und romantische Werk führte uns nach Phantásien, einer Parallelwelt, die unserer doch ein wenig ähnelte. An Bastians Seite verschmolzen wir zugleich mit Atréju, dem jungen mutigen Helden. Abenteuerlich flogen wir mit ihnen auf dem Rücken des weißen Glücksdrachens Fuchur, um dieses Land und seine Kindliche Kaiserin zu retten, die durch das „Nichts“ in Gefahr waren.
Zusammen mit unseren Helden weinten wir um Artrax, hofften die Vernichtung zu stoppen, überwanden unsere inneren Ängste und kämpften gegen die schlingenden Sümpfe und malmenden Steinbeißer-Riesen, die immer größere Teile einfach verschwinden ließen, ohne dass etwas zurückblieb. Wir wurden zu Freunden, die uns später halfen, den Weg zurück in unsere Realität zu finden – mit dem Wissen, dass Büchern eine zauberhafte Magie innewohnt, die uns Glück verspüren lässt. Bücher sind die beständigsten und leisesten Freunde. Sie sind die weisesten Ratgeber, geduldigsten Lehrer und sichere Heimat der Gedanken und Gefühle.
Jugendliche kennen Klassiker nicht mehr
„Wir“ sind viele inzwischen längst erwachsene Leser, die Michael Endes über 400 Seiten starken Bildungsroman in den 80er- und 90er-Jahren verschlungen haben. „Die unendliche Geschichte“, von der wir uns wünschten, sie möge auch nach der letzten Seite noch weitergehen, gehört zu den Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur genauso wie Ronja Räubertochter oder Huckleberry Finns Abenteuer. Auch Klassiker dieses Genres. Nur eben Literatur, die heute kaum noch ein Teenager kennt, die zunehmend verschwindet und uns wie Dinosaurier aus einer längst vergangenen Zeit fühlen lässt.
Tatsächlich hat sich das Leseverhalten bei Teenagern in den vergangenen zehn bis 15 Jahren deutlich verändert. Doch haben die Erzählungen von Astrid Lindgren und Michael Ende ausgedient? Insbesondere für die Digital Natives, die von Geburt an mit den digitalen Medien aufgewachsen sind?
Kein Schiller mehr
„Ich fürchte, ja“, sagt Sabine Müller gegenüber Corrigenda. Sie ist Leiterin der 1891 gegründeten Domschule in Osnabrück, die heute als Oberschule, eine Schulform, die Haupt- und Realschule zusammenfasst, fungiert. Während sie vor rund zehn Jahren in der neunten Jahrgangsstufe noch Schillers „Kabale und Liebe“ im Deutschunterricht mit ihren Schülern gelesen habe, behandeln sie nun „Tschick“, einen Jugendroman von Wolfgang Herrndorf. Die Aufklärung, der Aufbau eines klassischen Dramas und eine Ausdrucksweise, die Konzentration fordert, weicht zunehmend einfacheren Sätzen und weniger komplexen inhaltlichen Strukturen.
Für Kinder, die extreme Leseschwierigkeiten haben, gibt es gezielte Zusammenfassungen, so Müller. „Wir müssen die Auswahl der Lektüre an den Erfahrungshorizont der Kinder anpassen“, weiß die erfahrene Realschullehrerin. Diese Entwicklung deckt sich mit einer Sonderauswertung der PISA-Studie.
Die PISA-Studien der OECD werden seit dem Jahr 2000 in dreijährlichem Turnus in den meisten Mitglied- und Partnerstaaten durchgeführt. Sie bewerten alltags- und berufsrelevante Kenntnisse und Fähigkeiten Fünfzehnjähriger. Ende 2019 wurde die PISA-Studie von 2018 veröffentlicht, in der – nach 2000 und 2009 - zum dritten Mal der Schwerpunkt auf der Lesekompetenz lag. Lesekompetenz meint die Fähigkeit Texte zu verstehen, zu behalten, zusammenzufassen oder auch deren Glaubwürdigkeit zu bewerten.
Jugendliche, die Bücher analog lesen, schneiden besser ab
Die Studie zeigt, dass die Lesefreude der Schüler in den vergangenen Jahren deutlich abgenommen hat. Demnach kann nicht einmal die Hälfte der 15-Jährigen in Deutschland in Texten Fakten von Meinungen unterscheiden – auch wenn ihre Lesekompetenz leicht über dem Durchschnitt liegt. Jugendliche, die Bücher analog lesen, schnitten im PISA-Test zur Lesekompetenz erkennbar besser ab als digital Lesende. Erkennbar ist auch eine soziale Schere: Während Jugendliche aus einem privilegierten Elternhaus so gut abschnitten wie in keinem anderen Land, lagen Jugendliche aus benachteiligten Haushalten nur im oberen Mittelfeld.
„Die Lernrückstände müssen uns alarmieren“, mahnte erst jüngst Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger in einem Interview mit der Rheinischen Post an. „Rund 20 Prozent der Viertklässler erreichen nicht die Mindeststandards im Lesen, Rechnen und Schreiben“, so die Bundesministerin weiter. Eine ernüchternde Bilanz angesichts der Tatsache, dass ein sicheres Lese-, Schreib- und Sprachvermögen die Basis für ein gutes Textverständnis bilden. Sie sind der Schlüssel zum Erfolg für eine fundierte schulische und berufliche Ausbildung – und damit auch der Zukunftsfähigkeit von Wirtschaft und Entwicklung unserer Gesellschaft. Die Förderung von Bildungschancen für alle Kinder ist auch deshalb umso mehr eine gesellschaftliche Aufgabe.
Es gibt zwar neben politischen Bemühungen zahlreiche Stiftungen, Initiativen und Ehrenämter zur Leseförderung, Apps und Tipps für Eltern, Lehrkräfte und Bildungseinrichtungen, einen bundesweiten „Vorlesetag“, den „Weltbuchtag“ oder den „Tag des Kinder- und Jugendbuches“, um die Lesebegeisterung zu wecken, doch bleiben deren Erfolge mäßig.
Sprache wird reduziert durch Instagram und TikTok
Schulleiterin Sabine Müller beobachtet, dass sich viele Kinder durch die Informationsflut aus den sozialen Medien nicht mehr richtig konzentrieren können. Viele hätten verlernt, sich in ein Buch „richtig reinzuschrauben“. Auch im Wortschatz mache sich das bemerkbar. Ähnlich wie bei Instagram-Storys oder gar TikTok kommt die Vielfalt der Sprache nur sehr reduziert zum Einsatz.
Als Beispiel nennt sie das Verb „gehen“. Allein hierzu fallen ihr spontan direkt verwandte Begriffe ein wie laufen, tänzeln, schleichen, flanieren, schlendern und viele weitere mehr. „Aber viele können das gar nicht mehr herleiten, weil ihnen die vielen Nuancen in ihrem täglichen Sprachgebrauch nicht geläufig sind. Sinnaufnehmendes Lesen muss man lernen, sonst fällt es schwer, später auch komplexere Texte und Aufgaben zu verstehen. Das kann die Schule allein nicht mehr aufholen, wenn Kinder von zu Hause keine Leseaffinität bekommen“, sagt die Pädagogin. Und genau darin sieht sie einen Knackpunkt: Lesen beginnt in der Familie.
Das Vorlesen geht verloren
In einer Bildungsstudie kommt die Stiftung Lesen im Herbst 2022 zu dem Ergebnis, dass in fast 40 Prozent der Familien mit Kindern zwischen einem und acht Jahren aktuell wenig oder gar nicht vorgelesen wird. Besonders betroffen sind laut der Befragung Schulkinder. Die Hälfte der Eltern von Achtjährigen gibt an, ihrem Kind nie vorzulesen. Damit hat sich der Anteil im Vergleich zu 2019 verdoppelt. Bei den Sechs- und Siebenjährigen sind es 34 Prozent, die nie vorgelesen bekommen – fast dreimal so viel wie 2019.
Der Studie zufolge könne der Einbruch mit Schulbeginn viele Kinder frustrieren und ihre Lesemotivation massiv hemmen, weil ein gleitender Übergang fehle. Dabei haben Kinder, denen regelmäßig vorgelesen wird, besonders gute Startchancen. Sie haben früh einen größeren Wortschatz, lernen leichter lesen, sind einfühlsamer und haben in vielen Fächern bessere Schulnoten, heißt es laut Stiftung Lesen.
Wie bereichernd frühes Lesen für Kinder ist und was es für ihre Entwicklung bedeutet, liegt auf der Hand: Kinder lernen in Geschichten neue Wörter kennen. Wenn ihnen die Begriffe häufiger begegnen, benutzen sie diese bald schon eigenständig. Hinzu kommt, dass sie beim Blättern und Mitschauen erste Buchstaben und daraus kleine Wortbilder kennenlernen. Dieses Wissen hilft ihnen später auch beim Schulstart. „Die sinkende Rechtschreibkompetenz hängt schließlich auch damit zusammen, dass das visuelle Wortbild fehlt. Wenn ich das richtige Wort geschrieben sehe, prägt es sich viel besser ein“, sagt Sabine Müller.
Vorlesen stärkt den sozialen Umgang
Im täglichen Umgang mit anderen Kindern stärkt das Vorlesen ein gutes Sozialverhalten, weil auch Kinderbuchhelden ganz verschieden sind. Sich innerhalb der eigenen Gedanken- und Gefühlswelt in diese Charaktere hineinzuversetzen, Empathie, Solidarität und einen Gerechtigkeitssinn zu entwickeln, indem sie mit ihnen fühlen, hilft Kindern auch, ihre Kitafreunde oder Mitschüler besser zu verstehen und Konflikte schneller zu erkennen oder zu vermeiden.
Oft gehört, viel gelesen und gerade deshalb nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang die Förderung der Vorstellungskraft: Geschichten und Bücher geben Kindern Raum für Phantasie. Sie ist eine wesentliche Voraussetzung für Kreativität und Erfindungsreichtum. Phantasie beflügelt die Offenheit gegenüber Neuem, die Wissbegier und bereichert damit die Allgemeinbildung. Ein gutes Vorstellungsvermögen erleichtert es schon jungen Menschen, die Wirklichkeit besser wahrzunehmen und zu verarbeiten. Ähnlich wie bei Michael Endes Protagonisten Bastian Balthasar Bux kann Phantasie die Seele stärken, indem sie unschöne Begebenheiten ausgleicht und das Selbstwertgefühl wieder aufrichtet.
Was in der Theorie so leicht und logisch nachvollziehbar klingt, gestaltet sich in der Praxis allerdings oftmals anders. „Häufig sind Kinder viel allein, weil die Eltern oder auch die Großeltern noch berufstätig sind“, erzählt die Schulleiterin. Sie kennt die Situation vieler ihrer Schüler und deren Eltern.
Gemeinsame Zeit, die fehlt
Dazu kommt, dass viele Eltern sich oft nicht eingestehen oder zugeben möchten, dass ihr Kind zu wenig liest und zu viel Zeit am Smartphone oder Bildschirm verbringt. Dahinter steckt manchmal das beste Wissen und zugleich schlechte Gewissen, den vielen kleinen Dingen und großen Aufgaben in Beruf und Familie nicht mehr nachkommen zu können. Sabine Müller wünscht sich für die Kinder mehr Zeit mit ihren Eltern. Denn das ist es, was fehlt: Zeit. Gemeinsame Zeit.
Gerade in Zeiten, in denen in unserem Äußeren vieles in Unordnung geraten ist, was Unsicherheiten und Ängste hervorruft, sind Geborgenheit und Sicherheit im Inneren umso wertvoller. Beim Vorlesen entsteht Nähe zwischen Eltern und Kindern. Es fördert das aktive Gespräch, verbindet und schafft Vertrauen. Das hilft nicht nur, um auch über schwierige Themen zu sprechen, sondern festigt den Familienzusammenhalt. Der ist vor allem für Kinder und Heranwachsende elementar.
Mit dem Vorlesen und frühen Lesen können wir ihnen Werte vermitteln, Stärken untermauern, den Umgang mit Schwächen zeigen und sie bei der Entfaltung ihres Handlungspotenzials begleiten. Unsere Kinder und Nachkommen sind schließlich ein besonderer Teil unserer Gesellschaft. Sie sind unser Erbe und ein Garant für eine werteorientierte und verantwortungsvolle Zukunft.
Vielleicht sollten wir gemeinsam noch einmal „Momo“ lesen – „Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte“. Auch so ein Klassiker.