Singen, was ist
Die Band Rammstein steht seit Tagen in den Schlagzeilen, nichts Außergewöhnliches für sie, aber diesmal wegen des Vorwurfs sexueller Gewalt, der gegenüber dem Frontsänger Till Lindemann erhoben wird. Qualitativ also um einiges schwerwiegender als Diskussionen, die sich eher um den guten Geschmack und seine Grenzen drehen. Leider sind die Anschuldigungen, wie im sozialmedialen Zeitalter üblich, kaum Anlass für differenzierten Diskurs: Wie kann sich ein „System“ halten, in dem offenbar „jeder“ weiß, was passiert, sich aber niemand genötigt sieht, einzugreifen?
Was sagt es über unser Männer- und Frauenbild aus, dass in kürzester Zeit die Assistentin Lindemanns zur „bösen Fee“ deklariert wird, man also sofort wiederum eine Frau als Verantwortliche ausgemacht hat?
Wie erklärt sich, dass sich der Aufschrei nicht nur auf verbrecherische Handlungen bezieht, sondern vor allem auch auf das Rekrutieren von Frauen für Sex – in der Prostitution alltägliche Praxis –, darauf, dass hier jemand seiner Triebbefriedigung ungehemmt nachgegangen ist. Obwohl uns doch ständig suggeriert wird, letzteres sei unser gutes Recht, und außer Freiwilligkeit gäbe es keine moralischen Bewertungsmaßstäbe für Geschlechtskontakt?
Aber auch: Warum sind junge Frauen im 21. Jahrhundert nicht dazu in der Lage, selbstverantwortlich vorausschauende Entscheidungen zu treffen, die sie nicht am Tag oder einige Wochen danach bereuen? All diese und mehr Fragen warten darauf, dass die Hysterie abflaue. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass mit verebbender Kritik auch die drängenden Fragen vergessen werden.
Verrohung, Verderbtheit und Verdorbenheit ja, aber bitte nicht im Spiegel vorgehalten
Allerdings hat sich Lindemann lediglich als das erwiesen, was er selbst in künstlerischer Weise darstellt. Hemmungsloses Ausleben einer durchaus rohen Sexualität wird in unserer Gesellschaft geduldet, gefeiert und visuell intensiv konsumiert, während man das glatte Gegenteil behauptet: Legt man das derzeit in den Medien verbreitete Bild zugrunde (das noch keinesfalls belegt ist), unterscheidet sich Lindemann nicht von den Protagonisten der in „Fifty Shades of Grey“ oder „Game of Thrones“ genüsslich zelebrierten „Vergewaltigungskultur“.
Mehr noch: Selbst die schlimmsten kursierenden Vorwürfe können nicht mithalten mit der maßlosen Brutalität, die im Vorabend- und Abendprogramm von Männern wie Frauen mit enormen Einschaltquoten belohnt wird. Somit drängt sich der Eindruck auf, dass Skandalgeschrei und Empörung eher Ablenkungsmanöver sind: Wir wollen Verrohung, Verderbtheit und Verdorbenheit, aber wir wollen sie nicht wie mit einem Spiegel vorgehalten bekommen.
Dass Rammstein oft die Grenze des Erträglichen streift, dass die Texte zuweilen pornographisch, brutal, gewaltverherrlichend und ekelerregend sind, ist keineswegs ein neues Phänomen, sondern von Beginn an eher Markenzeichen denn Ausnahme.
Düsterer Pathos, stereotypes Deutschlandbild und die Sehnsucht nach Gewalt und Ekel
Wie ist der gewaltige Erfolg Rammsteins überhaupt erklärbar? Was an der Mischung von Bombast, Brutalität und Ekel ist so anziehend, dass es sich hier um eine der erfolgreichsten, wenn nicht die erfolgreichste Band deutscher Provenienz handelt? Von den USA bis nach Russland sind Rammstein ein deutscher Exportschlager. Nun werden internationale Fans die Liedtexte eher weniger wahrnehmen.
Für den Zuhörer ergibt sich stattdessen eine von düsterem Pathos dominierte, faszinierende Klangwelt, die einen unwiderstehlichen Sog entwickeln kann. Die Bühnenshows mit ihrer legendären Pyrotechnik wirken spektakulär und überwältigend. So weit so gut. Auch ein stereotypes Deutschlandbild mag eine Rolle spielen.
In vielen Teilen der Welt sind auf den Zweiten Weltkrieg und das Dritte Reich bezogene Assoziationen sehr präsent. Zum Unverständnis und vielleicht auch Leidwesen des Durchschnittsdeutschen tun selbst zwei verlorene Weltkriege dem Nimbus unerbittlicher militärischer Stärke keinen Abbruch, der weiterhin als Inspirationsquelle dient. Am bekanntesten ist hier wahrscheinlich die Metal-Band Sabaton mit Liedern wie „Bismarck“ oder „Wehrmacht“.
Das martialische Gebaren Rammsteins trifft also auf fest etablierte Stereotypen. Diese bedient auch das altertümlich klingende rollende „R“, das hierzulande in keiner Hitlerparodie fehlen darf, ebenso wie das Grollen und Knurren des Frontsängers. Rammstein versprüht einen archaischen Vibe, der sich auch ohne Sprachkenntnisse mitteilt.
Für den heutigen Kulturbetrieb untypisch
Die Faszination der Band ist damit aber nur zu einem Bruchteil erklärbar. Rammstein bedient indes zweierlei: Der bereits erwähnte altertümelnde Stil, der sich immer wieder in Wort – und Themenwahl äußert, füllt eine Lücke. Viele Rammsteinsongs behandeln grundlegende Topoi, oder deuten mit Anspielungen und Anklängen auf solche hin. Da wird der Erlkönig nacherzählt, Goethes Heideröslein bekommt einen gruseligen Twist und wird zur Nemesis des Knaben.
Gegenüber einer Musiklandschaft, die zu einem signifikanten Teil kopflose und ästhetisch wertlose Partymusik anbietet, und gegenüber einem Kulturbetrieb, der von Hoch- bis Popkultur Geschichten meidet und stattdessen Programmatik und Ideologie in den Mittelpunkt stellt, wird hier die Sehnsucht nach Geschichten gestillt, die nicht nur Platzhalter sind für eine politische oder ideologische Aussage, oder die auf einen Lerneffekt abzielen, sondern die für sich stehen.
Dies ist für den heutigen Kulturbetrieb derart untypisch, dass immer wieder etwa Diskussionen um die politische Verortung oder die Haltung Rammsteins zu diesem oder jenem Thema aufkommen: Ist Rammstein „rechts“? Wie steht Rammstein zu „diversity“? Solche Fragen kommen auf, weil die Lieder so unterschiedlich sind, dass sie sich einer platten Verortung entziehen.
Das Verlangen in einer von existentiellen Konflikten freigeräumten Lebenswelt
Die Unbekümmertheit, mit der Rammstein für Musik und Show steht, nicht für durch die Musik vermittelte moralische oder politische Impulse, wird die Band auch durch die gegenwärtige Kritik manövrieren. Denn an moralisch akzeptierter Unterhaltung fehlt es uns nicht. Wer sich dagegen von der „woken“ Dauerberieselung abgrenzen oder auch nur eine Auszeit davon gönnen will, wird sich von der gegenwärtigen Empörung kaum irritieren lassen.
Ein weiterer Aspekt ist, dass in einer glattgebügelten, von existenziellen Konflikten und Unschönheiten weitgehend freigeräumten Lebenswelt viele Menschen nach Manifestationen von Gewalt, Hass, Angst und Grauen geradezu suchen, ja, dass sie selbst nach Ekel und Abscheu gieren. Der Effekt eines nicht nur emotional sterilen öffentlichen Raums? Leid wird so gut wie möglich unsichtbar gemacht. Die Grausamkeit unserer Gesellschaft wird übertüncht und kategorisch in Abrede gestellt. Sowohl das Gute als auch das Böse werden aus der Realität verbannt und zum Märchen erklärt.
Das bedeutet aber nicht, dass Menschen beides nicht mehr erleben. Ihnen fehlen lediglich zunehmend die Worte und der Verständnisschlüssel, um solche Regungen und Erfahrungen erstens verbalisieren und zweitens deuten zu können. Die tabulose Sprache und der manchmal fast schon kitschig anmutende Bombast geben der düsteren Seite unserer Existenz eine sinnliche Form.
Ein Ventil für eine Gesellschaft, der es an Sinnlichkeit mangelt
Kein Wunder, dass Rammstein als Ventil dient in einer Gesellschaft, deren gravierendstes Vakuum eben durch den Mangel an Sinnlichkeit entsteht. Im Übrigen wird gern übersehen, dass auch traurig-zarte Töne bei Rammstein durchaus ihren Platz haben. Wenn sie auch weniger skandalfähig sind als die allseits bekannten Schocker, öffnen sie sehr wohl Dimensionen, die über bloße Provokation weit hinausgehen.
So stellt sich Rammstein abseits von Fragen des (Musik)Geschmacks vor allem als ehrlich dar: Viele Unterhaltungsformate überschreiten oberflächlich betrachtet die Grenzen des Sagbaren nicht, und tun es indirekt doch, sind in sich zutiefst unanständig, menschenverachtend, falsch. Rammstein macht keine Umwege, zerrt alles, was unsere Gesellschaft lieber unter dem Teppich belassen würde, in gleißendes Licht aufstiebender Flammen.
Die Band trifft einen Nerv, indem sie den zuckerwattigen Zeitgeist der „safe spaces“ brachial zertrampelt und als heuchlerische Lüge offenlegt. Eine Schonungslosigkeit, die umso mehr durch ihre Absichtslosigkeit schockiert und fasziniert: Hier wird nicht belehrt, nicht geurteilt; hier wird nur – freilich bis ins Groteske überzeichnet – von dem gesungen, was ist.
Danke für diesen sehr tollen und tiefen Kommentar. (Auch wenn ich eine Lanze für die Partymusik brechen würde, mit ein paar Ausnahmen, von denen leider eine letzten Sommer durchexerziert wurde, ist sie auch nicht ästhetisch wertlos... Wobei ich, gut, bei Partymusik zuerst an Schlager wie "Von allein" oder "Brenna daad's guat" oder "I'm gonna be (500 Miles)" oder "I keep on Searching for the Way to your Heart" denke, also das beste aus dieser Richtung. Aber ich schweife ab. Worauf Du hinauswillst, ist klar.)
Was außerdem so ist: im Ausland versteht man den Text nicht, aber auch der ist bei Rammstein halt bisweilen einfach ziemlich feine Dichtkunst. "Und der Haifisch, der hat Tränen, und die laufen vom Gesicht - doch der Haifisch lebt im Wasser, und die Tränen sieht man nicht." Wow. "Übermächtig, überflüssig, Übermenschen überdrüssig. Wer hoch steigt, der wird tief fallen: Deutschland, Deutschland über allen." Wow wow. Oder natürlich auch der Twist bei "Sie wollen mein Herz am rechten Fleck, doch seh ich dann nach unten weg, dann schlägt es links. Links, zwo, drei, vier." Das ist tatsächlich auch ohne Musik und Pyrotechnik groß.
Danke für diesen sehr tollen und tiefen Kommentar. (Auch wenn ich eine Lanze für die Partymusik brechen würde, mit ein paar Ausnahmen, von denen leider eine letzten Sommer durchexerziert wurde, ist sie auch nicht ästhetisch wertlos... Wobei ich, gut, bei Partymusik zuerst an Schlager wie "Von allein" oder "Brenna daad's guat" oder "I'm gonna be (500 Miles)" oder "I keep on Searching for the Way to your Heart" denke, also das beste aus dieser Richtung. Aber ich schweife ab. Worauf Du hinauswillst, ist klar.)
Was außerdem so ist: im Ausland versteht man den Text nicht, aber auch der ist bei Rammstein halt bisweilen einfach ziemlich feine Dichtkunst. "Und der Haifisch, der hat Tränen, und die laufen vom Gesicht - doch der Haifisch lebt im Wasser, und die Tränen sieht man nicht." Wow. "Übermächtig, überflüssig, Übermenschen überdrüssig. Wer hoch steigt, der wird tief fallen: Deutschland, Deutschland über allen." Wow wow. Oder natürlich auch der Twist bei "Sie wollen mein Herz am rechten Fleck, doch seh ich dann nach unten weg, dann schlägt es links. Links, zwo, drei, vier." Das ist tatsächlich auch ohne Musik und Pyrotechnik groß.