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Kolumne „Der Schweizer Blick“

Das Ende der Aufmerksamkeit

Das Abwasser der Stadt Zürich mag keine besonders appetitliche Brühe sein, aber sie birgt eine Fülle von wertvollen Erkenntnissen. Man kann sie untersuchen und so herausfinden, welche Substanzen beim Volk gerade besonders gefragt sind. 

In aller Regel lautet die Antwort: Kokain. Immerhin gibt es in Zürich eine Universität, unzählige Banken, Investmentfirmen und Beratungsunternehmen. Gestresste Manager und solche, die es werden wollen, müssen ja irgendwie neue Kraft tanken und auch in Phasen akuter Übermüdung hellwach Souveränität ausstrahlen. Da liegt eine Linie im Klo auf der Hand.

Neue Untersuchungen haben nun aber einen neuen Aufsteiger zu Tage gefördert. Er heißt Ritalin und ist im Unterschied zu Kokain immerhin eine echte Schweizer Marke. Ritalin, seit exakt 70 Jahren auf dem Markt, ist der neue König im Zürcher Abwasser.

Die Entstehungsgeschichte ist eine ziemlich gute Story. Ein Mitarbeiter der einstigen „Ciba“, später im Pharmakonzern Novartis aufgegangen, hatte sich 1944 in einem mutigen Selbstversuch Methylphenidat zugeführt. Seine Frau machte gleich mit, und laut der Erzählung stellte sie danach fest, dass sie nach der Einnahme auf dem Tennisplatz eine bessere Figur machte. Ritalin war geboren – abgeleitet vom Spitznamen der Frau, „Rita“.

Längst nicht mehr nur Kinder

Die Pille ist rezeptpflichtig. Lange wurde sie vor allem bei Kindern und Jugendlichen nach der Diagnose „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung“, kurz ADHS, verschrieben. Eltern waren schnell begeistert, wenn ihre Zappelphilipps und Herumhüpf-Jasmins plötzlich eine innere Ruhe ausstrahlten und sich besser auf eine Aufgabe konzentrieren konnten. Endlich herrschte Ruhe im Haus. 

 

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Die Rekordwerte im Zürcher Abwasser sind aber kaum allein auf Schulkinder zurückzuführen. Längst greifen auch Erwachsene gerne mal zu Ritalin. Die Zahl der offiziellen Empfänger verdoppelte sich innerhalb weniger Jahre auf heute über 90.000 Menschen in der Schweiz. Da scheint es nachvollziehbar, dass auch mehr Spuren des Stoffs in den Ausscheidungen zu finden sind.

Dennoch zeigen sich die Experten „erstaunt“ über den hohen Wert, und zwar, weil dieser massiver ausfällt, als es die rein rechnerische Addition der Zunahme der Empfänger vermuten ließ. Vielleicht haben sie verpasst, dass es für Ritalin längst einen Schwarzmarkt gibt. Etwas unwissenschaftlich ausgedrückt ist das Medikament eine Art legales „Kokain light“, und das hat man auch in der Partyszene gemerkt. Studenten wiederum werfen sich die Pillen gern ein wie Smarties, bevor es an die Prüfungen geht. Längst nicht immer liegt eine Diagnose vor, wenn jemand die Schachtel öffnet. Man kriegt das Zeug auch auf anderen Wegen.

Mode-Diagnose

Dazu kommt, dass die Diagnose ADHS, ohne den wirklich Betroffenen zu nahe treten zu wollen, heute sehr rasch und oft beliebig ausgestellt wird. Wenn sich auf die Schnelle nichts anderes finden lässt, muss es eben das sein, findet so mancher Arzt oder Therapeut. Es ist zu einem Trend geworden, zu einer Mode-Diagnose. Das Rezept auszustellen ist eben auch weit einfacher als nach anderen Ursachen für die Störung zu suchen. Schon vor zehn Jahren kam der Kinderrechtsausschuss der UNO zum Schluss, die Schweiz verschreibe Ritalin „exzessiv“.

Aber wohlverstanden: Mit Hypochondern haben wir es in den wenigsten Fällen zu tun. Wenn man von den Nachtclub-Nutzern von Ritalin absieht, gibt es die Symptome, die es einzudämmen verspricht, wirklich. Nur: Wie könnte das auch anders sein? 

Wie soll man als Heranwachsender heute noch seine Aufmerksamkeit steuern können, wenn rund um die Uhr äußere Einflüsse um diese buhlen? Wie soll man bei der Sache bleiben können, wenn das Smartphone in der Hand dazu verleitet, im Sekundentakt von A nach B zu wechseln und man eine existenzielle Krise verspürt, wenn dort noch unbeantwortete Nachrichten warten?

Innere Unruhe als Normalfall

In den Abwassern der Stadt Zürich schwimmt die Konsequenz aus der Entwicklung unserer Gesellschaft. Immer schneller, immer oberflächlicher, überall gleichzeitig, gehetzt von einem Rhythmus, den einem andere – und auch man sich selbst – auferlegen. Vor zehn oder 20 Jahren mag eine innere Unruhe und Konzentrationsstörungen bei Jugendlichen Stirnrunzeln ausgelöst haben. Heute werden sie praktisch bei der Geburt mitgeliefert – oder spätestens, wenn es zum zweiten Geburtstag ein „Kinder-Tablet“ gibt und Netflix die Gute-Nacht-Geschichte ablöst.

 

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Den technologischen Fortschritt und seine Auswirkungen zu beklagen, ergibt wenig Sinn. Der Damm ist längst gebrochen. Aber wie überrascht sich Fachleute darüber geben, dass eine völlig neue Form der Kindheit auch Konsequenzen mit sich bringt, ist erstaunlich. 

Ein Tag Schulunterricht mit echter sozialer Interaktion, mit Fleißaufgaben und ruhigem Sitzen – das ist ein völliger Gegenentwurf zu dem, was junge Menschen für normal halten: Eine Konsum-Dauerberieselung, ein reines Inhalieren fremder Inhalte bei völliger Freiheit, jederzeit zu anderen Inhalten zu wechseln, eine ungesteuerte Wahlfreiheit bei gleichzeitiger Überforderung, was man denn nun wählen soll.

Wenn das alles die Fähigkeit, seine Aufmerksamkeit in innerer Ruhe einer einzelnen Sache zuzuwenden, nicht einschränken soll – was dann?

 

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