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Kolumne „Kaffeehaus“

Das wirklich Spannende am Reisen

Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen. Gestern wachte ich im Schlafabteil eines türkischen Zuges etwas zu früh auf. Die ersten Landschaften der Türkei zeigten sich bereits, und die Kinder schliefen friedlich beim beruhigenden Rattern, dem „Dadamm-dadamm“ des Zuges. Gäbe es den seltsamen Gestank aus den Toiletten nicht, der sich langsam in den Gang ausbreitete, wäre es ein schönes Aufwachen. Doch, so idyllisch war die Fahrt nicht. 

Aus den slowakischen und tschechischen Zügen bin ich den Speisewagen und in Schlafabteilen am Morgen warme Getränke und Croissants gewohnt. Doch das gab es hier nicht. Nachts um drei mussten sogar alle Passagiere samt Gepäck an der bulgarisch-türkischen Grenze aus dem Zug aussteigen: Passkontrolle! Am Ende war es eher Erlebnis denn Strapaze und für die Kinder ein Abenteuer, von dem sie sicher ihren Schulkameraden berichten werden. Auch der türkische Schaffner war freundlich und löste schließlich das Problem mit dem Gestank.

Unser diesjähriger Urlaub verbindet die Berge Bulgariens mit der pulsierenden Weltstadt Istanbul und soll an der türkischen Riviera seinen Abschluss finden. Grund genug, sich über die Verschiedenheit von Ländern, Leuten und Landschaften Gedanken zu machen. Jeder hält die Sprache, die Kultur und die Lebensweise im eigenen Land für selbstverständlich. 

Warum wollen alle gleich werden?

Doch allein in Europa sind die Unterschiede so groß, dass man von Land zu Land in neue Welten eintaucht. Bulgarien zeigte sind sehr ursprünglich, rustikal und herzlich. Die Zeit scheint dort an vielen Ecken stehen geblieben zu sein. Doch dies würde sich leider auch hier zunehmend ändern, beklagte eine junge Französin, die in der deutschen Bar „Bismarck“ in der Solunskastraße in Sofia am Nebentisch saß. 

Sie lebt seit einigen Jahren in Sofia, bewegt sich in der Künstlerszene und hat sich in Bulgarien gut integriert, wie ein Tattoo in kyrillischer Schrift an ihrem Bein verrät. Sie wollte raus aus der westlichen Welt, wo immer alles gleicher würde, und sie wundere sich darüber, dass viele mittel- und osteuropäische Länder in allen Belangen westlich sein wollten, erzählte sie.

Die „Bismarck“-Bar in der Solunskastraße in Sofia

Ihr bulgarischer Begleiter, der nach ein paar Bierchen bereits in fröhlicher Stimmung war, sprach uns als erster an und zeigte uns Musikvideos seiner erwachsenen Tochter, die ein angehender Popstar in Bulgarien werden soll. Er selbst male abstrakte Bilder und wolle sie uns auch zeigen, schilderte er. Wir unterhielten uns kurz über Gott und die Welt. Unter anderem sagte er voraus, dass ich noch zwei Kinder bekommen und eine Frau wie ich erst mit 53 altern würde, wie seine Ex-Frau, der ich ähneln würde. Ich fasste es als Kompliment auf.

Zum Abschied besprühte er unseren Sohn mit einem Parfum seiner eigenen Marke, einer Fake-Version von Karl Lagerfeld. Ein Junge solle gut riechen und diesen schönen Duft spüren, meinte er. Mit großen blauen Augen sagte uns der Mann, dass die Begegnung mit uns seinen Tag schön mache. Wir verabschiedeten uns und eilten zum Bahnhof.

Mit Kindern lernt man Flexibilität und Gelassenheit

Nun sind wir in Istanbul, der pulsierenden Metropole der Türkei, angekommen. Viele Sehenswürdigkeiten warten auf uns, doch zunächst einmal müssen wir uns im Hotel frisch machen und dann in einem Einkaufszentrum Unterwäsche für die Kinder nachkaufen. Das ist das Schöne am Leben mit Kindern: man lernt Flexibilität und Gelassenheit. 

 

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Bei Google suchen wir nach einem gut bewerteten Café in der Nähe des Hotels. Ein Uber fährt uns zum „Cup of Joy“, einem hippen Café mit einem großartigen Angebot an Kaffee-Spezialitäten, Sandwiches und veganen Kuchen. Frauen mit Kopftuch brunchen hier gemeinsam, Amerikanerinnen sinnieren stundenlang bei einem eisgekühlten Latte Macchiato. 

Wir bestellen Kaffee, Limonaden und Trüffel-Sandwiches. Zwei junge Männer am Nebentisch nicken uns freundlich zu, nachdem sie bemerken, dass wir uns auf Deutsch unterhalten. Wir kommen ins Gespräch. Die zwei Schweizer sind fürs Wochenende zu einem Rave-Festival nach Istanbul gereist. Bei einem der jungen Männer sehe ich eine wundertätige Medaille um den Hals hängen.

Geh in die Tavernen, nicht in die Museen

Ich spreche ihn darauf an, er habe sie von einem kroatischen Freund bekommen. Wir disputieren beinahe zwei Stunden miteinander: über die Schweiz, Uhren, Politik und neue Projekte. Einer der beiden zeigt uns die Instagram-Seite seiner neugegründeten Modemarke: hübsche Unisex-Shirts aus dicker Baumwolle, in Portugal hergestellt.

Und so sitze ich immer noch im Café „Cup of Joy“ bei einer Limonade (oder „Aperol Spritz für Kids“, wie die Schweizer sagten) und schreibe diese Kolumne zu Ende. In dieser Zeit hätte ich Sehenswürdigkeiten und berühmte Plätze besuchen können, doch dann hätte ich vielleicht weniger zu erzählen gehabt. So bestätigt sich wieder einmal Erich Kästner: Wenn du in einer neuen Stadt bist, geh nicht in die Museen, geh in die Tavernen.

 

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