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Krise der elektoralen Demokratie

Worauf reagiert der „Populismus“?

Europa hat die Wahlen zum EU-Parlament hinter sich gebracht. Die Gewichte im Parlament haben sich etwas verschoben, zu Lasten vor allem der Grünen und der sogenannten Liberalen (Renew), die so liberal in Wirtschaftsfragen freilich nicht sind. Der ganz große Rechtsruck, der vor den Wahlen heraufbeschworen wurde, blieb jedoch am Ende aus, mit Ausnahme einzelner EU-Länder, zu denen vor allem Frankreich gehört. Dort reagierte der Präsident auf das für seine Partei katastrophale Wahlergebnis mit der Auflösung der Kammer und der Ausrufung von Neuwahlen; ein Vabanque-Spiel, das sich leicht als selbstmörderisch erweisen könnte.

Der Einfluss der Wahlen auf die reale Politik der Europäischen Union wird aber begrenzt bleiben, denn in jedem Fall kann sich die neue Kommission, deren Zusammensetzung ebenso wie die Besetzung der Position des Präsidenten oder der Präsidentin noch ausgehandelt werden muss, wie in der Vergangenheit auf eine große Koalition aus Volkspartei, Sozialdemokraten und „Liberalen“ stützen. Diese Koalition hat faktisch immer eine Mehrheit, komme was wolle. Von daher können die Wähler ohnehin nur in homöopathischen Dosen auf die Brüsseler Politik Einfluss nehmen, zumal ja auch die Kompetenzen des Parlaments stark beschränkt sind.

Das ist ein Problem, denn immer mehr Entscheidungen, die auch für unseren Alltag wichtig sind, werden heute in Brüssel, nicht in den nationalen Hauptstädten gefällt. Man darf sich daher nicht wundern, wenn nicht wenige Bürger den Eindruck gewinnen, dass Wahlen generell irrelevant werden und sich dann entweder ganz aus der aktiven Teilnahme an der Politik zurückziehen oder Parteien wählen, die das gesamte bisherige System der Politik in Frage stellen.

In Deutschland genießen die früheren Volksparteien CDU und SPD sowie die Grünen zwar den Vorteil, dass die AfD als rechte Oppositionsbewegung ein besonders großes Talent zur Selbstdemontage aufweist, aber auch das hindert die Partei nicht daran, beachtlich viele Wähler für sich zu mobilisieren, wie die jüngste Wahl gezeigt hat. Und ähnliches gilt für das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), wenn man bedenkt, wie jung diese Partei ist.

Soziale Medien, Moskauer Propaganda, ausländerfeindliche Einstellungen? Woran liegt’s?

Der Aufstieg des sogenannten „Populismus“, der sich im Erfolg solcher Parteien widerspiegelt, wird oft als Symptom einer generellen Krise der parlamentarischen Demokratie und ihrer Parteien gesehen. Aber wo liegen die Ursachen? Der Mainstream der Kommentatoren will uns weismachen, dass die unzureichend kontrollierten sozialen Medien, russische Propaganda, der radikale Neoliberalismus oder die immer schon latent präsente rassistische Grunddisposition weiter Teile des (Klein-)Bürgertums für diese Entwicklung verantwortlich sind. Damit will man der Frage ausweichen, ob nicht eine massive Transformation unserer Demokratie seit den 1990er Jahren die gegenwärtige Krise heraufbeschworen hat.

Diese These hingegen vertritt der Politikwissenschaftler Philip Manow in seinem neuen Buch „Unter Beobachtung. Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde“. Manow widerlegt die weithin vorherrschende Vorstellung, das Modell von Demokratie, das heute so mannhaft in Europa verteidigt wird, sei noch das gleiche, das nach 1945 in vielen europäischen Ländern re-stabilisiert oder sogar erst aus den Ruinen ganz neu geschaffen wurde.

Die Demokratie der unmittelbaren Nachkriegsjahre war vor allem elektorale Demokratie. Das heißt, entscheidend war die Möglichkeit, Regierungen wählen und abwählen zu können, um so in Freiheit Einfluss auf die Politik nehmen zu können, nicht so sehr ein ausgefeilter Schutz von Grundrechten. Nur in Westdeutschland sah das Grundgesetz von Anfang an eine starke Kontrolle des gewählten Parlaments durch ein Verfassungsgericht vor; eine Reaktion der Verfassungsväter auf das Scheitern der Weimarer Republik.

Transpolitische Geltung universeller Menschenrechte als neue Utopie

Aber Karlsruhe übte lange sein Aufsichtsrecht über die Gesetzgebung mit Augenmaß und Vorsicht aus, politischer Aktivismus war ihm eher fremd. Das hat sich in den letzten rund 20 Jahren, wie es scheint, schrittweise geändert. Das Verfassungsgericht geht zunehmend dazu über, stärker zu intervenieren, etwa wenn es um die Höhe der Sozialleistungen geht, einschließlich der Leistungen für Asylbewerber. Einen Höhepunkt markiert hier das Klimaurteil von 2021, das darauf angelegt ist, dem Bundestag eine konkrete Energiepolitik und weitere Maßnahmen etwa bei der Verkehrspolitik vorzuschreiben.

Im Inneren des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe. Dieses agiert zunehmend aktivistischer

Aber der Wandel der Rechtsprechung in Deutschland spiegelt nur eine allgemeine europäische Tendenz wider. Seit den 1980er Jahren gingen immer mehr Länder dazu über, ebenfalls oberste Gerichte mit der Möglichkeit zur Überprüfung der Gesetzgebung zu schaffen, wie Manow zeigt. Besonders stark war die Stellung der Verfassungsgerichte zunächst in Ostmitteleuropa nach 1990 – eine Reaktion auf die lange Periode der kommunistischen Diktatur. Dort griffen die Gerichte auch anfänglich besonders aggressiv in die Tagespolitik und die Gesetzgebung ein.

Das wiederum löste in Polen und Ungarn in den letzten rund zehn Jahren eine „populistische“ Revolte aus, die zur Beschränkung der Kompetenzen der Gerichte respektive zu ihrer personalpolitischen Gleichschaltung führte, was dann wiederum schwere Spannungen zwischen den betroffenen Ländern und der EU verursachte, die im Fall Polens allerdings durch den jüngsten Regierungswechsel beigelegt wurden.

Aufstieg der Richterherrschaft

Das Problem als solches bleibt indes bestehen. Seit den 1990er Jahren hat sich fast in ganz Europa eine Tendenz durchgesetzt, die Kompetenzen von Parlamenten und damit auch die Relevanz von Wahlen einzuschränken. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe; zum einen ist in den letzten Jahrzehnten das Bekenntnis zu universellen Menschenrechten zur letzten großen, dominanten Utopie geworden. Auch spielt hier die immer weitergehende Individualisierung in der Gesellschaft eine Rolle. Jeder noch so exotische Anspruch des Individuums auf autonome Gestaltung seines Lebens und auf seine je eigene, frei gewählte Identität gilt jetzt als schützenswert, wie auch der englische Philosoph John Gray vor kurzem noch einmal betont hat.

Auf der Ebene der EU tritt ein weiterer Faktor hinzu. Die EU setzt bei ihrem Versuch, immer mehr Kompetenzen in Brüssel zu bündeln, stärker denn je auf das Recht als Integrationsinstrument. Die Festlegung der Mitgliedstaaten auf einen gemeinsamen Wertekanon – der dann zum Beispiel auch die Familienpolitik oder den Umgang mit sexuellen Minderheiten bis ins Detail bestimmen soll – ist hier seit den 1990er Jahren, allerdings auch wirklich erst seit diesem Jahrzehnt, von zentraler Bedeutung geworden. Seitdem überdies der Europäische Gerichtshof (EuGH) sich auf eine europäische Grundrechtecharta berufen kann, also seit Ende 2009, hat er nahezu unbegrenzte Möglichkeiten zur juristischen Intervention.

Die nutzt er auch aktiv, zumal der Gerichtshof sich ohnehin als Motor der europäischen Einigung versteht. Eine Eindämmung des EuGH ist fast unmöglich, da man dazu die europäischen Verträge ändern müsste und die dafür notwendige Einstimmigkeit kaum zu erreichen wäre, wie der Staatsrechtler Dieter Grimm schon vor Jahren betont hat.

Beim EuGH kommt erschwerend hinzu, dass er weniger als nationale Gerichte darauf Rücksicht nehmen muss, wie die Öffentlichkeit auf seine Urteile reagiert, da es eine genuin europäische Öffentlichkeit ohnehin nicht gibt, und die nationalen Regierungen, die die Folgen seiner Urteile ausbaden müssen, sich nur schwer gegen sie wehren können.

Der Spielraum der Politik wird mehr und mehr durch die Judikative eingeschränkt, auf EU-Ebene durch den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg (hier im Bild der große Konferenzsaal)

Auf nationaler Ebene mussten oberste Gerichte in der Vergangenheit auf politische Stimmungslagen im Sinne einer Selbstbeschränkung Rücksicht nehmen, wenn sie nicht ihre Autorität verlieren wollten. Wenn Urteile der Politik allzu viel zumuteten, musste man damit rechnen, dass die Regierungen sie sabotierten oder womöglich sogar die Verfassung änderten, um die Gerichte in ihre Schranken zu weisen. Dadurch, dass nationale Gerichte jetzt Fälle dem EuGH zur Entscheidung vorlegen und generell bei der EU Rückendeckung in einem Konflikt mit ihren Regierungen suchen können, ist das so nicht mehr der Fall, wie Philip Manow betont. Die Tendenz von Gerichten zur Selbstbeschränkung hat stark abgenommen. Der Spielraum der Politik wird somit in vielen Bereichen immer weiter zugunsten der Judikative eingeschränkt.

Der Niedergang der elektoralen Demokratie destabilisiert die Demokratie als solche

Die Folge ist nun, dass die Bedeutung von Wahlen schwindet. Die Wahlen zum EU-Parlament bieten dem Wähler ja ohnehin kaum Möglichkeiten dazu, politische Veränderungen zu erzwingen. Aber auch auf nationaler Ebene kann der Wählerwille wie beispielsweise bei der Immigrationspolitik weitgehend irrelevant werden, weil EU-Recht und Rechtsprechung viele politische Optionen ausschließen.

Gerade das löst dann freilich populistische Revolten aus, die das ganze System der konstitutionell und von den Gerichten eingehegten Demokratie in Frage stellen, weil man durch eine Stimmabgabe für Mainstream-Parteien ohnehin nichts mehr ausrichten kann, oder dies zumindest glaubt.

Die Verteidiger der „liberalen“, wertegebundenen Demokratie nehmen das zum Anlass, noch mehr Kontrolle der politischen Meinungsbildung und eine weitere Zurückdrängung elektoraler Demokratie zu fordern. Damit gerät man in eine Eskalationsspirale des gegenseitigen Misstrauens; die bisherigen Eliten misstrauen immer mehr den eigenen Bürgern, und die Bürger oder zumindest viele unter ihnen misstrauen stärker und stärker den Eliten und dem gesamten System. Am Ende, so Manow, weiß man nicht mehr, was schlimmer ist, und „welche autoritären Fantasien gespenstischer sind: diejenigen, die in Gegnerschaft zur Demokratie, oder diejenigen, die zu ihrer Verteidigung formuliert werden“ (S. 46)

Höchste Zeit, den Wählerwillen bei politischen Entscheidungen wieder stärker zu berücksichtigen

Wie man diesem Dilemma in Zukunft entkommt, bleibt unklar. Allerdings scheint zum Beispiel die Neigung der EU-Kommission, im Namen der Menschenrechte strenge Regeln etwa in der Flüchtlingspolitik gegenüber nationalen Regierungen durchzusetzen, heute wieder abzunehmen. So führt die jetzige polnische Regierung an der polnischen Ostgrenze weiter „Pushbacks“ durch, um illegale Einwanderung zu verhindern, muss aber kaum mit Brüsseler Sanktionen rechnen, weil sie im Prinzip als „loyal“ gilt, anders etwa als Viktor Orbáns Regierung in Budapest.

Es bleibt dennoch die Gefahr, dass der politische Einfluss von Richtern immer größer wird. Am Ende werden Richter dann selbst zu Politikern, wie man sehr deutlich in den USA sehen kann – und das nicht nur beim Obersten Gericht, sondern auch auf den Ebenen darunter. Damit droht das Recht zum reinen Instrument im Kampf der Parteien zu werden, wie das in den USA ansatzweise schon der Fall ist.

In jedem Fall wäre es aber eine Illusion zu glauben, dass eine noch stärkere Zurückdrängung elektoraler Demokratie zugunsten einer Konstitutionalisierung bestimmter liberaler Wertepräferenzen dominanter Eliten das geeignete Heilmittel ist, um die Revolte der sogenannten Populisten von rechts und links zu bekämpfen. Das könnte zu einer Belastungsprobe führen, der man nicht mehr gewachsen ist, namentlich, wenn sowohl der EU als auch den einzelnen Staaten das Geld ausgeht, um Zustimmung zu umstrittenen Entscheidungen von Wählern zu erkaufen, wie das gegenwärtig noch relativ erfolgreich praktiziert wird.

Es wird höchste Zeit, den Wählerwillen bei politischen Entscheidungen wieder stärker zu berücksichtigen, auch wenn die „bien pensants“, die Wohlgesinnten, schon diese Forderung als inakzeptablen Populismus betrachten werden.

 

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Andreas Graf
Vor 2 Monate 3 Wochen

Wer die Demokratie verstehen will, der muss sich mit dem Wesen der liberalen Freimaurerei befassen. Die Freimaurerei hat inzwischen alle Schaltstellen besetzt. Wer kein Maurer ist, der kann kein Kanzler werden, der versteht die Politik nicht. Der Brunnenmacher und Hellseher Alois Irlmaier sagte: "Der Teufel wird ganze Regierungen gründen." Das bevorzugte Instrument der Maurer ist die Demokratie, das dem hierarchischen Prinzip entgegengesetzt ist, das jahrhundertelang gegolten hat. Sichtbar wurde erst das hierarchische Kaisertum beseitigt, unsichtbar gilt der Kampf gegen die hierarchisch strukturierte Kirche. Antichristliche Tendenzen sind in einer Demokratie mit Mehrheitsbeschluss am einfachsten durchzusetzen. So werden Dogmen einfach ausgehebelt, letztlich die katholische Kirche selbst. Was in der französischen Revolution politisch geschah, wurde in der katholischen Kirche während des II. Vatikanischen Konzils nachgeholt. Das Sagen haben nicht mehr die Geweihten, sondern die Räte und Gremien. Von der derzeitigen Verfassung, in der Räte und Gremien, politisch wie kirchlich, fungieren, ist es nur noch ein kleiner Schritt hin zur kommunistischen Räterepublik. Was Wunder, wenn die Welt Kopf steht und nicht mehr verstanden wird. Den Teufel freut's, ob des angerichteten Chaos. Das Hauptproblem ist der unwissende Pöbel, der von den wissenden Maurern wie Marionetten bewegt wird.

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Andreas Graf
Vor 2 Monate 3 Wochen

Wer die Demokratie verstehen will, der muss sich mit dem Wesen der liberalen Freimaurerei befassen. Die Freimaurerei hat inzwischen alle Schaltstellen besetzt. Wer kein Maurer ist, der kann kein Kanzler werden, der versteht die Politik nicht. Der Brunnenmacher und Hellseher Alois Irlmaier sagte: "Der Teufel wird ganze Regierungen gründen." Das bevorzugte Instrument der Maurer ist die Demokratie, das dem hierarchischen Prinzip entgegengesetzt ist, das jahrhundertelang gegolten hat. Sichtbar wurde erst das hierarchische Kaisertum beseitigt, unsichtbar gilt der Kampf gegen die hierarchisch strukturierte Kirche. Antichristliche Tendenzen sind in einer Demokratie mit Mehrheitsbeschluss am einfachsten durchzusetzen. So werden Dogmen einfach ausgehebelt, letztlich die katholische Kirche selbst. Was in der französischen Revolution politisch geschah, wurde in der katholischen Kirche während des II. Vatikanischen Konzils nachgeholt. Das Sagen haben nicht mehr die Geweihten, sondern die Räte und Gremien. Von der derzeitigen Verfassung, in der Räte und Gremien, politisch wie kirchlich, fungieren, ist es nur noch ein kleiner Schritt hin zur kommunistischen Räterepublik. Was Wunder, wenn die Welt Kopf steht und nicht mehr verstanden wird. Den Teufel freut's, ob des angerichteten Chaos. Das Hauptproblem ist der unwissende Pöbel, der von den wissenden Maurern wie Marionetten bewegt wird.