„Die armenische Gemeinschaft in Bergkarabach wird aufhören zu existieren“
Aserbaidschan hat mit einem Blitzkrieg Fakten in Bergkarabach geschaffen. Mit massivem Artillerie- und Raketenbeschuss gegen die Hauptstadt der armenisch-christlichen Enklave und andere Städte der Bergkarabach-„Republik Arzach“, die aber international nicht anerkannt ist, zwang der Militärschlag aus Baku die kräftemäßig unterlegenen Verteidiger in Stepanakert zur Kapitulation. 200 Menschen sollen bei dem Angriff das Leben verloren haben. Aserbaidschanische Truppen nahmen das Gebiet ein. Zur Vorbereitung der Offensive hatte das muslimische Aserbaidschan über Wochen hinweg Truppen und militärische Ausrüstung an den Grenzen zur Enklave zusammengezogen.
Der Langzeit-Präsident der Republik Aserbaidschan, Ilham Alijew, hatte am Mittwoch nach dem Ein-Tages-Angriff den Sieg über die aus seiner Sicht armenischen Separatisten, also die armenischen Verteidiger der Republik Arzach, verkündet. Am Donnerstag gab es auf Druck Bakus Verhandlungen über die Zukunft der umstrittenen Südkaukasus-Region im aserbaidschanischen Jewlach. Medienberichten zufolge wurden die Gespräche zwischen aserbaidschanischen Regierungsvertretern und besiegten Bergkarabach-Armeniern nach wenigen Stunden wieder abgebrochen. An dem ungleichen Format nahm auch ein Abgesandter der in der Region stationierten russischen Truppen teil. Ziel der Gespräche soll nach dem Willen Bakus einzig die volle „Wiedereingliederung“ Bergkarabachs in den aserbaidschanischen Staat sein.
Die derzeit laufenden Evakuierungen von Bergkarabach-Armeniern in die Republik Armenien werden von den etwa 3.000 Soldaten der russischen Friedenstruppe notdürftig abgesichert. Von sechzig- bis siebzigtausend Armeniern, die noch in Bergkarabach leben, geht der Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tiflis, Marcel Röthig, aus. Ob die jetzt fliehenden Menschen je wieder in ihre Heimat werden zurückkommen können, ist unklar.
Am Mittwoch gingen in der armenischen Hauptstadt Eriwan Bürger auf die Straße und protestierten gegen das, was sie als Kapitulation empfinden. Der Zorn richtet sich auch gegen den Premier Nikol Paschinjan. Dieser habe nicht genug für die Sache seiner Landsleute in Bergkarabach getan. Am Abend kam es zu Ausschreitungen vor Regierungsgebäuden.
Corrigenda sprach mit dem für Armenien zuständigen Projektleiter der christlichen Menschenrechtsorganisation Christian Solidarity International (CSI), Joel Veldkamp, über die Situation in Bergkarabach, die humanitäre Lage sowie die Perspektive für die Zukunft der armenischen Volksgruppe in der Region. CSI warnt mit anderen Menschenrechtsorganisationen seit langem vor einem Völkermord an den armenischen Christen in Bergkarabach.
Herr Veldkamp, rund neun Monate blockierte Aserbaidschan die armenische Enklave Bergkarabach – und löste dadurch eine humanitäre Katastrophe aus. Seit Dienstag sprachen nun die Waffen. War diese Entwicklung absehbar?
Diese Entwicklung war absolut vorhersehbar – und sie wurde vorhergesehen. Der aserbaidschanische Diktator Ilham Alijew hat wiederholt damit gedroht, Bergkarabach gewaltsam zu erobern. Und er hat große Anstrengungen unternommen, um die Armenier in den Augen seines eigenen Volkes zu entmenschlichen und das Kriegsfieber in seiner Bevölkerung zu schüren. Dieser Angriff war die völlig vorhersehbare nächste Phase des aserbaidschanischen Krieges gegen die Karabach-Armenier.
Wie stehen die USA, die übrigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates und die EU zum Angriffskrieg Aserbaidschans gegen Bergkarabach?
Sie alle haben Erklärungen der „Besorgnis“ abgegeben und Aserbaidschan „aufgefordert“, seine Aggression zu beenden. Indem sie so schwach reagieren, signalisieren sie ihre stillschweigende Zustimmung zu diesem Krieg. Sie hoffen auf eine schnelle Lösung des Karabach-Konflikts, damit Armenien seine Beziehungen zu Aserbaidschan und der Türkei normalisieren kann und die gesamte Region in den Schoß des Westens aufgenommen wird.
Ist das denn plausibel? Dass die Republik Armenien ihre Beziehungen zu Aserbaidschan und ihrem Helfer Türkei „normalisieren“ wird, nachdem Baku möglicherweise aller Karabach-Armenier vertrieben oder massakriert haben wird, scheint unwahrscheinlich.
Es mag unwahrscheinlich erscheinen, aber dies ist eindeutig das Ziel des Westens. Auf Druck der USA hat der armenische Premierminister Bergkarabach als Teil Aserbaidschans anerkannt und erklärt, er wolle die Beziehungen zu Aserbaidschan und der Türkei normalisieren. Er hat sich bemüht, sich nicht in die Kämpfe dieser Woche einzumischen. Es kann sein, dass dieser Premier durch die Empörung der Bevölkerung gestürzt wird, aber der Westen rechnet eindeutig damit, dass er bleibt und diese Mission erfüllt.
„Welches der ständigen Ratsmitglieder wird riskieren, Aserbaidschan zu verärgern, um die Armenier zu schützen?“
Im UN-Sicherheitsrat sind Russland und China vertreten, die nicht damit einverstanden sein werden, „die gesamte Region in den Schoß des Westens“ aufzunehmen. Was wünschen die Staaten Armenien und Aserbaidschan selbst?
Russland und China werden mit Sicherheit nicht akzeptieren, dass die Region in den Schoß des Westens aufgenommen wird, ebenso wenig wie sie dies für die Ukraine und Taiwan akzeptieren. Aber der Westen versucht es trotzdem, in allen drei Fällen. Dieser Krieg ist eines der Symptome dieses Kampfes. Der unglückliche Unterschied für die Armenier von Bergkarabach ist, dass sowohl Russland als auch der Westen versuchen, Aserbaidschan auf ihrer Seite zu halten, und kein großes Interesse an der Sicherheit der Armenier haben.
Armenien will überleben. Aserbaidschan will der regionale Hegemon sein. Beide versuchen, den Westen und Russland gegeneinander auszuspielen, um zu erreichen, was sie wollen. Aserbaidschan ist dabei erfolgreich, Armenien nicht.
Am heutigen Donnerstag kommt der UN-Sicherheitsrat wegen der Kämpfe um Bergkarabach zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen …
… aber aus den genannten Gründen erwarten wir nicht, dass bei der heutigen Sitzung des UN-Sicherheitsrats viel herauskommt. Welches der ständigen Ratsmitglieder wird riskieren, Aserbaidschan zu verärgern, um die Armenier zu schützen?
Noch vergangene Woche war ein CSI-Team vor Ort und berichtete von aserbaidschanischen Truppen auf armenischem Staatsgebiet. Wie wahrscheinlich ist eine Ausweitung des Konflikts über die umkämpfte Region Bergkarabach hinaus?
Das ist sehr wahrscheinlich. Derzeit versucht der armenische Premierminister Nikol Paschinjan verzweifelt, die Republik Armenien und seine Regierung von den aktuellen Kämpfen zu distanzieren. Aserbaidschan behauptet jedoch, dass sie daran beteiligt sind und gibt fälschlicherweise vor, dass die armenischen Streitkräfte immer noch in Bergkarabach präsent seien. Seit Jahren bereitet die aserbaidschanische Regierung ihre Bevölkerung psychologisch auf einen Krieg zur Eroberung eines Großteils oder des gesamten armenischen Staatsgebiets vor, das sie als „West-Aserbaidschan“ bezeichnet. Es ist gut möglich, dass sie die derzeitigen Kämpfe als Vorwand für einen Einmarsch in Armenien nutzen. Wenn nicht in dieser Runde der Kämpfe, dann vielleicht bald in der Zukunft.
Das aserbaidschanische Militär verlautbarte, mit Hochpräzisionswaffen nur „legitime“ militärische Strukturen anzugreifen. Tatsächlich kursieren aber zahlreiche Videos, die zerstörte zivile Ziele und zivile Opfer zeigen. Wissen Sie mehr?
Am Mittwoch wurde ein Krankenwagen, der die Leichen der bei dem Angriff getöteten Menschen zur Leichenhalle brachte, von aserbaidschanischen Streitkräften bombardiert. Aserbaidschan hat auch das Stromnetz für die gesamte Region angegriffen und zerstört. Es gibt neue, unbestätigte Berichte über die massenhafte Geiselnahme armenischer Zivilisten. Bei jedem der Angriffe auf Armenier in den Jahren 2016, 2020 und 2022 nahmen aserbaidschanische Streitkräfte Zivilisten und Soldaten als Geiseln, folterten und exekutierten sie anschließend. Das Gleiche ist auch dieses Mal zu erwarten.
Es sei darauf hingewiesen, dass fast alle arbeitsfähigen armenischen Männer in Bergkarabach in den Verteidigungskräften von Arzach dienen. Aserbaidschan betrachtet sie alle als „Terroristen“; und wir sollten nicht überrascht sein, wenn Aserbaidschan viele von ihnen inhaftiert oder hinrichtet.
Die Blockade hat bereits zu einer schweren medizinischen und Versorgungskrise in Bergkarabach geführt. Wie hat sich durch den Angriff die Situation der Menschen verändert?
Der Angriff hat unermessliches menschliches Leid verursacht, dessen Ausmaß wir noch lange nicht kennen werden. Tausende von Menschen sitzen nun ohne Nahrung und Wasser auf dem Flughafen von Stepanakert fest und hoffen verzweifelt auf irgendeine Art von Evakuierung. Es ist damit zu rechnen, dass viele kranke und ältere Menschen unter diesen schrecklichen Umständen sterben werden.
Welche Teile Bergkarabachs sind von den Angriffen besonders betroffen?
Die gesamte Region wird angegriffen, und die aserbaidschanischen Streitkräfte rücken aus allen Richtungen vor.
Aktuell gibt es eine Waffenruhe. Was ist von ihr zu erwarten?
Der am Mittwoch verkündete Waffenstillstand sieht vor, dass die Verteidigungskräfte von Bergkarabach ihre Waffen abgeben und sich auflösen müssen und dass die Regierung von Bergkarabach über die „Integration“ in Aserbaidschan verhandelt. Zum Zeitpunkt dieses Interviews gehen die Kämpfe in mehreren Regionen, darunter auch in der Hauptstadt Stepanakert, jedoch weiter. Mehrere armenische Gruppen haben angekündigt, dass sie bis zum Tod weiterkämpfen wollen. Was wir also von der Waffenruhe erwarten, ist das Ende des Staates Arzach, nicht aber ein Ende der Gewalt. Die gefährlichsten Stunden liegen noch vor uns, denn die aserbaidschanischen Streitkräfte werden wahrscheinlich jeden anhaltenden Widerstand als Rechtfertigung für Massaker und andere Kriegsverbrechen nutzen.
Was, denken Sie, passiert mit den Karabach-Armeniern und ihrer Jahrtausende alten christlichen Kultur, wenn sich Aserbaidschan tatsächlich die nicht anerkannte Republik Bergkarabach einverleibt?
Die armenische Gemeinschaft in Bergkarabach wird ganz aufhören zu existieren. Die Armenier können nicht sicher unter der Herrschaft einer Diktatur leben, die ihre nationale Identität auf einen ewigen Krieg gegen Armenien aufgebaut hat. Wenn ihnen die Ausreise gestattet wird, werden viele Armenier nach Armenien zurückkehren; andere werden zurückbleiben und weiterkämpfen, höchstwahrscheinlich auf Kosten ihres eigenen Lebens. Das armenisch-christliche Erbe von Bergkarabach wird systematisch zerstört oder als „eigentlich“ aserbaidschanisch deklariert. In diesem Fall ist damit zu rechnen, dass Denkmäler verunstaltet werden, um armenische Schriftzeichen und andere Beweise für ihre wahre Herkunft zu entfernen.
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