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Aserbaidschanische Blockade von Bergkarabach

„Der Hunger ist die unsichtbare Waffe des Völkermordes“

Steht Bergkarabach, der südöstliche Teil der Kulturnation Armenien, vor der Auslöschung? Etwa 120.000 Armenier bildeten hier bislang die älteste christliche Kulturlandschaft weltweit, denn bereits im Jahre 301 nach Christus nahm die Menschen hier das Christentum als ihre Religion an. Seit 2020, seit dem jüngsten Krieg um ihre Heimatregion, sind sie durch eine humanitäre Katastrophe vom Tod bedroht, die in den vergangenen Wochen noch einmal dramatisch verschärft wurde. Beobachter sehen eine direkte Fortsetzung des Völkermords von 1915.

„Es besteht Grund zu der Annahme, dass im Jahr 2023 ein Völkermord an den in Bergkarabach lebenden Armeniern begangen wird.“ Zu dieser Einschätzung gelangt aktuell der ehemalige, langjährige Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof Luis Moreno Ocampo. In seinem in New York am 7. August veröffentlichten Expertengutachten, das Corrigenda vorliegt, schreibt Ocampo drastisch:

Es gibt keine Krematorien, und es gibt keine Machetenangriffe. Der Hunger ist die unsichtbare Waffe des Völkermordes. Wenn sich nicht sofort etwas ändert, wird diese Gruppe von Armeniern in wenigen Wochen vernichtet sein.“

„Eine furchtbare, menschengemachte Katastrophe“

Die Blockade des Latschin-Korridors durch aserbaidschanische Sicherheitskräfte, „die den Zugang zu Nahrungsmitteln, medizinischer Versorgung und anderen lebenswichtigen Gütern verhindert“, solle, so Ocampo, „als Völkermord gemäß Artikel II (c) der Völkermordkonvention betrachtet werden. ‘Der Gruppe vorsätzlich Lebensbedingungen auferlegen, die ihre physische Zerstörung herbeiführen sollen.’“

Bei seinem Auftritt vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 16. August nannte der Außenminister der Republik Armenien, Ararat Mirsojan, den Latschin-Korridor eine „Straße des Lebens“. In dem von der Außenwelt abgeschnittenen Bergkarabach sei jetzt bereits ein Mann an Unterernährung gestorben. Die Zahl der Schwangeren in Bergkarabach, „die nicht einmal grundlegenden Zugang zur Gesundheitsversorgung“ hätten, gab der Minister mit 2.000 an.

Die Region Bergkarabach und die benachbarten Staaten: Orangefarbene Gebiete sind von Aserbaidschan kontrolliert, die braun eingefärbten Teil stehen nicht unter der Kontrolle Bakus

„Die aktuelle Situation in Bergkarabach ist eine furchtbare, menschengemachte Katastrophe“, bestätigte auch der Armenien-Referent bei Caritas international, Martin Thalhammer, gegenüber Corrigenda. Deren lokale Partnerorganisation Caritas Armenien unterstützt Flüchtlinge aus Bergkarabach mit Wohnung, Existenzsicherung sowie Beratung bei der Eingliederung in der Republik Armenien.

Baku schneidet Bergkarabach komplett von der Außenwelt ab

Der Hintergrund: Seit dem Krieg von 2020 führt nur noch eine schmale Überlandstraße als einzige Verbindung von Armenien in die Enklave Bergkarabach, das völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, aber weit überwiegend von christlichen Armeniern besiedelt ist. Diesen daher strategisch wichtigen Latschin-Korridor blockiert Aserbaidschan seit dem 12. Dezember 2022 mit Militär und hält die Blockade aufrecht, ungeachtet einer Aufforderung an Baku durch den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag, die Sperrung aufzuheben. Die armenische Regierung in Eriwan hatte den Gerichtshof angerufen.

Vor der Blockade kamen täglich 400 Tonnen Versorgungsgüter nach Bergkarabach, teilte der Caritas-Experte mit. Die Lage in Bergkarabach sei „katastrophal“ und verschlimmere sich zunehmend, „da die bereits unzureichende Versorgungslage jeden Tag prekärer“ würde.

Eine Schlange von Lkw mit humanitärer Hilfe für Bergkarabach aus Armenien, die unweit eines durch Baku eingerichteten Kontrollpunkts am Latschin-Korridor festsitzen, 30. Juli 2023: Im Juni und Juli strandeten am Latschin-Korridor mehrere Dutzend Lkw

Mit Beginn der Blockade war der Latschin-Korridor nur noch für Fahrzeuge zugänglich, die von russischen Friedenstruppen und dem Roten Kreuz begleitet wurden, schrieb das Portal „Caucasus Watch“ (Prag) im Juni 2023. „Diese Regelung ermöglichte die Lieferung von Lebensmitteln und lebensnotwendigen Gütern nach Bergkarabach, und das Rote Kreuz erleichterte die Evakuierung schwerkranker Patienten zur medizinischen Behandlung in armenische Krankenhäuser.“

Caritas: Jeder vierte Haushalt leidet an Mangelernährung

Seit Mitte Juni nun lässt Baku auch keine humanitären Hilfstransporte durch das Internationale Rote Kreuz, die von Truppen Russlands mitorganisiert wurden, mehr passieren. Laut Informationen der Caritas Armenien werden indessen aber nicht nur keine Güter mehr hineingelassen, auch ein Verlassen von Bergkarabach ist der bedrängten Bevölkerung kaum möglich. Vor allem Männer müssten befürchten, an den aserbaidschanischen Kontrollstellen des Korridors verhaftet zu werden; während einer Evakuierung von Patienten durch das Internationale Rote Kreuz Ende Juli sei das so geschehen.

„Am 22. Juni hat das aserbaidschanische Militär als weitere Provokation am Anfang des Latschin-Korridors riesige Betonblöcke installiert“, berichtete wiederum die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) am 20. Juli.

Laut Caritas Armenien leidet fast jeder vierte Haushalt unter Mangelernährung, und für weitere 57 Prozent bestehe ein hohes Risiko einer Unterversorgung mit Nahrungsmitteln. „Insofern kann man davon ausgehen, dass mindestens 80 Prozent der 120.000 Einwohner von Bergkarabach gefährdet sind“, sagte Caritas-Experte Thalhammer gegenüber Corrigenda. „Hinzu kommen über 13.000 Personen, welche dringend auf Medikamente und medizinische Versorgung angewiesen sind.“

Bevölkerung steht schon nachts nach Brot an

Die Angaben des Armenien-Experten der Caritas gegenüber Corrigenda decken sich mit dem, was andere Hilfsorganisationen aus der Region im Südkaukasus berichten. „Wie alle anderen internationalen Organisationen können auch wir aufgrund der aserbaidschanischen Blockade derzeit keine Hilfsgüter mehr nach Bergkarabach bringen“, sagte der Geschäftsführer von Christian Solidarity International (CSI) Deutschland, Pfarrer Peter Fuchs, auf Corrigenda-Anfrage. Seit Wochen gebe es Berichte, dass Menschen die ganze Nacht über nach Brot anstehen.

„Am Morgen des 21. August sah es so aus, als gäbe es in weiten Teilen von Bergkarabach schlicht kein Brot mehr,“ teilte Fuchs mit unter Berufung auf lokale Partner. Die Fehlgeburtenrate habe sich seit Beginn der Blockade verdreifacht, und 90 Prozent der Schwangeren von Bergkarabach litten an Blutarmut. „Ganz aktuell“ werde berichtet, „dass Karabach-Armenier, die aus medizinischen Gründen den Latschin-Korridor im Schutz des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz von Bergkarabach nach Armenien passieren wollen, von aserbaidschanischen Kräften verschleppt werden“, erklärte der CSI-Deutschland-Geschäftsführer.

Einwohner von Stepanakert vor leeren Regalen: „In weiten Teilen von Bergkarabach schlicht kein Brot mehr“

Zudem habe Aserbaidschan am 18. August das einzige Glasfaserkabel, das Bergkarabach mit Armenien verbindet, gekappt: „Der Internetzugang wurde drastisch eingeschränkt, es gibt nur noch einige wenige Antennen für die Kommunikation“, sagte Fuchs diesem Magazin.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) gibt an, zwischen Dezember 2022 und dem 25. Juli 2023 insgesamt über 600 Menschen, die dringender medizinischer Behandlung bedurften, aus Bergkarabach evakuiert zu haben. Mittlerweile ist es viele Wochen her, dass das Rote Kreuz letztmalig Lebensmittel und medizinische Güter in das Gebiet bringen durfte.

Auf Corrigenda-Anfrage in Genf nach einer eventuellen Luftbrücke teilte das IKRK mit, dass es „gegenwärtig keine Lufttransportoperation in dem Gebiet in Betracht“ ziehe. 1948/49 waren die in der Berlin-Blockade von den Sowjets eingeschlossenen Westsektoren der deutschen Hauptstadt allein durch eine spektakuläre Luftbrücke der Westalliierten versorgt worden.

Im Völkerfrühling 1989/91 wurde auch Bergkarabach unabhängig

„Obst, Gemüse und Brot sind kaum noch vorhanden und teuer, während andere Nahrungsmittel wie Milchprodukte, Sonnenblumenöl, Getreide, Fisch und Hühnerfleisch nicht mehr erhältlich sind“, informierte das Rote Kreuz bereits Ende Juli. Nun ist ein Monat verstrichen, eventuell angelegte Vorräte gehen zur Neige oder sind aufgebraucht. „Es fehlen lebensrettende Medikamente und Güter des Grundbedarfs wie Hygieneprodukte und Babynahrung für die Zivilbevölkerung“, warnte das Rote Kreuz. Die Blockade Bergkarabachs betreffe nach Angaben der GfbV auch 30.000 Kinder.

Die Blockade der Region durch Aserbaidschan ist nur das jüngste Kapitel in einem Konflikt, der, je nachdem, wo man ansetzt, jahrzehntealt oder auch schon über hundert Jahre alt ist. Um Bergkarabach, das die Armenier Arzach nennen, gab es immer wieder Kriege, zuletzt vor drei Jahren. Am 27. September 2020 begann Aserbaidschan eine Offensive, um Bergkarabach zu erobern.

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Die Region hatte sich im Völkerfrühling der zerfallenden Sowjetunion 1991 nur wenige Tage nach dem Mutterland Armenien als unabhängiger Staat deklariert und regiert sich seitdem autonom. Nach dem Völkerrecht gehört sie jedoch weiterhin zum moslemischen Aserbaidschan, die „Republik Arzach“ ist international nicht anerkannt, die Vertretung ihrer Interessen hat einen schweren Stand. Auch Armenien hat es in über 30 Jahren faktischer Unabhängigkeit Bergkarabachs nicht gewagt, die „Republik Arzach“ anzuerkennen.

Zu Sowjetzeiten hatte Bergkarabach offiziell den Status einer Autonomen Oblast innerhalb der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Die Region war 1921 durch die Bajonette der Roten Armee und gegen den Willen ihrer damals zu 94 Prozent armenischen Bevölkerung Sowjet-Aserbaidschan zugeschlagen worden. Die entscheidende Frage der Religion blieb unberücksichtigt, von Moskau damals, von der internationalen Gemeinschaft heute.

Baku gewann den Krieg mit türkischer Unterstützung

Am 12. Juli 2020 griffen türkische Panzer zusammen mit Truppen aus Aserbaidschan das Gebiet im Karabachgebirge an. Türkische Kampfjets flogen Angriffe auf das Gebiet, bombardierten Plätze, die besonders vielen Menschen als Schutzraum dienten, und zerstörten speziell die Kirchen. Die Bilder der von Raketen schwer getroffenen Kathedralen von Stepanakert, der Regionshauptstadt, und Schuschi gingen um die Welt.

Ein Anwohner kniet zum Gebet in der durch aserbaidschanischen Beschuss stark beschädigten Kathedrale von Schuschi in der Region Bergkarabach (Archivfoto von Oktober 2020)

In einem rund viermonatigen Krieg, in dem auf Seiten Aserbaidschans auch mehr als zweieinhalbtausend syrische Söldner kämpften, die durch Ankara bereitgestellt wurden, fielen zwischen Juli und November 2020 rund 7.000 Soldaten. Die Zahl der zivilen Opfer ist nicht seriös abschätzbar; die Zahl der Flüchtlinge aus Bergkarabach wird mit 90.000 angegeben, die der aserbaidschanischen Flüchtlinge mit 40.000. Zwei Drittel der Fläche der „Republik Arzach“ wurden von Truppen Bakus mithilfe türkischer Panzer erobert.

Seit November 2020 ist die einzige Straße von Armenien hinüber nach Bergkarabach, der besagte Latschin-Korridor, in der Hand des aserbaidschanischen Militärs, die verbliebene armenische Enklave wird seitdem nur sporadisch versorgt.

Aserbaidschan droht Vertreibung an

Die katholische Presseagentur Kathpress (Wien) zitiert den Außenminister der „Republik Arzach“, dass 95 Prozent der Bevölkerung bereits unterernährt seien.

„Mit der anhaltenden Blockade von Bergkarabach signalisiert die aserbaidschanische Diktatur nun eindeutig ihre Absicht, eine weitere Phase des Völkermords durchzuführen“, gab der Geschäftsführer von CSI-Deutschland seine grundsätzliche Einschätzung des Konflikts an.

„Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew hat Armenier als ‘Hunde’, ‘Ratten’ und ‘humanoide Kreaturen’ bezeichnet und versprochen, ‘sie aus unserem Land zu vertreiben’ – was laut Alijew nicht nur Bergkarabach, sondern fast die gesamte Republik Armenien selbst umfasst.“ CSI warnt mit anderen Menschenrechtsorganisationen vor einem Völkermord an den armenischen Christen in Bergkarabach.

Wie am gestrigen Mittwoch bekanntwurde, ist auch ein von französischen Städten und Regionen initiierter Konvoi aus zehn Lkws mit humanitärer Hilfe von Kräften Aserbaidschans am Beginn des Latschin-Korridors gestoppt worden. In Bergkarabach könnten 1.700 Jahre christlicher Kultur bereits in den nächsten Jahren für immer verlöschen. Europa wird sich dann den Vorwurf gefallen lassen müssen, tatenlos zugesehen zu haben.

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Kommentare

Kommentar
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Piet Grawe
Vor 1 Jahr 2 Monate

Was Europa tun sollte?
Zumindest die Forderung der Türkei nach einer Beschleunigung des EU-Beitrittsprozesses ablehnen.
"Am 12. Juli 2020 griffen türkische Panzer zusammen mit Truppen aus Aserbaidschan das Gebiet im Karabachgebirge an."

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Piet Grawe
Vor 1 Jahr 2 Monate

Was Europa tun sollte?
Zumindest die Forderung der Türkei nach einer Beschleunigung des EU-Beitrittsprozesses ablehnen.
"Am 12. Juli 2020 griffen türkische Panzer zusammen mit Truppen aus Aserbaidschan das Gebiet im Karabachgebirge an."