Ordnen statt dekonstruieren
Die traditionelle Moral schrieb einmal den Individuen Verhaltensregeln vor. Die neue Moral will dagegen die Gesellschaft selbst moralisieren. Der längst transzendenzfreie Moralismus in der Politik unterscheidet nicht mehr analytisch nach Richtig und Falsch, sondern nur nach Gut und Böse. Unvermeidliche Konsequenzen dieses Paradigmenwandels sind absehbar und vielfach schon eingetreten.
Die Aufgewachten, so könnte man die aus den USA kommende woke Bewegung übersetzen, erheben einen Wahrheitsanspruch, der sich aus ihrer Moral speist. Nähere Ziele reduzieren sich im Grunde auf Toleranz gegenüber allem und mit jedem, außer denen, die diese Haltung für falsch halten. Die allseitige Toleranz untergräbt jede Unterscheidungsfähigkeit und damit auch die Wehrhaftigkeit der Demokratie.
Ihre so genannte „Weltoffenheit“ untergräbt die Offenheit des Diskurses und damit das Herzstück der Demokratie. Wer für alles offen ist, verliert jede Unterscheidungsfähigkeit, drängt alternatives Denken in die Illegitimität und schafft damit am Ende auch das dialektische Denken ab. Vermeintlich unmoralische Gesichtspunkte ergänzen nicht mehr die eigene Perspektive, sondern stellen das Gute in Frage. Die christliche Einsicht in die eigene Sündhaftigkeit wird durch Selbstgerechtigkeit ersetzt.
Der ersehnte bunte Ausgleich aller Gegensätze
Der Moralismus der westlichen Welt untergräbt die Selbstbehauptung ihrer Gesellschaften, Staaten und ihrer Kultur. Er bezieht sich heute nämlich primär auf globale Kontexte, die alle Nahraum- und Gegenwartsinteressen von Eigengruppen bis hin zu Nationen relativieren. Mittlere Instanzen wie eben Gesellschaft, Staat und Kultur haben nur eine dienende Rolle. Sie gelten nicht als geworden, sondern als konstruiert und sind daher auch beliebig dekonstruierbar. Auch die Eigenlogiken der Funktionssysteme, ob Wissenschaft, Wirtschaft oder Politik, wird dem integralen Moralismus untergeordnet, was deren Rationalität und Leistungsfähigkeit untergräbt. Am Ende wird damit sogar die säkulare Trennung von Religion und Politik in Frage gestellt.
Eine „wertegebundene Außenpolitik“ verabsolutiert und universalisiert die liberalen Menschenrechte. Sie erlaubt weder Neutralität gegenüber Konflikten und Problemen in anderen Kulturen und Mächten noch eine Grenzziehung gegenüber der Massenmigration aus anderen Weltregionen. Sie verhindert umgekehrt aber auch die Hilfe für verfolgte Christen, denen in der imaginierten „einen Welt“ keine Sonderrolle zugestanden wird.
Der Kern des moralischen Toleranzparadigmas ist die Annahme, dass die Diversität der Nationen, Kulturen, Geschlechter nur bunte, dem Regenbogen entsprechende Ergänzungen bildet. Viele erkennen den totalitären Kern einer Idee nicht, weil das Ziel gut und harmlos klingt. Das Symbol der woken Gutmenschenbewegung ist die Regenbogenflagge, die nur helle und schöne Farben enthält. Die ersatzreligiöse Qualität der Bewegung erinnert an das vom Regenbogen besiegelte Bündnis Noahs mit Gott. Die universale Welt des Regenbogens ist gleichzeitig eine ganzheitlich integrale Welt, der bunte Ausgleich aller Gegensätze. Einheit und Friede weht über allem, freilich fehlt noch der Endsieg über das Böse.
Mit der Verleugnung von Ungleichheit werden auch die Polaritäten des Lebens geleugnet
Die Bewegung hat längst auch die Kirchen erreicht, die stellenweise zu dieser Ersatzgötterei zu konvertieren scheinen. „Wir sind bereit“, skandiert die Evangelische Kirche zum Heizungsgesetz. Die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Irme Stetter-Karp, sprach sich gegen kirchliche Laienämter für AfD-Mitglieder aus. Deren Partei sei „im Verlauf der Jahre immer weiter nach rechts gerückt“, was im Umkehrschluss bedeutet, dass nur linke Inhalte mit dem Christentum noch vereinbar sind. Mit ihrem „Gott ist queer“ wird es den Kirchen schließlich ergehen wie der CDU, die sich mit ihrer Anbiederung an grüne Heils- und Unheilsvisionen ihrer christlich-konservativen Elemente entledigt und überflüssig gemacht hat.
Reale Konflikte und Bedrohungen werden geleugnet. Alles in der Diversität scheint irgendwie gleich gut zu sein. Für das Böse an sich und damit für die Tragik der Politik bleibt kein Raum. Umso entsetzter und unbedachter reagierten sie auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Die berechtigte moralische Empörung trägt auf Dauer freilich nichts zur Konfliktlösung bei. Dafür wäre schon jene Realpolitik gefordert, die dem Vergessen anheimgefallen war.
Während der klassische Marxismus vor allem auf materielle Gleichheit abhob, unterwirft dieser Kulturmarxismus nahezu alle Lebensformen seinem Diktat. Nur ausgerechnet die soziale Ungleichheit spielt kaum mehr eine Rolle, was den betont elitären Charakter der Bewegung unterstreicht.
Mit der Verleugnung von Ungleichheit werden schließlich sogar die Polaritäten des Lebens geleugnet, und so ist es nur konsequent, dass das dialektische Denken aus den Debatten verschwunden ist. Auf dem Weg zur einen Menschheit gilt es allerdings, die letzten Leugner und Hindernisse aus dem Weg zu räumen: die Vorherrschaft weißer Männer, Rassismus, „Homophobie“, Impfskeptiker und „Klimaleugner“, in Summe, die „Rechten“. Die Schlägertruppen der Woken tragen das „Anti“ stolz im Namen.
Menschheit und Klima als Ersatzgötter
Der woke Mensch will sein eigener Schöpfer sein, so dass Naturgesetze wie in der neuen Geschlechtervielfalt geleugnet werden. Die neuen Geschlechterkonstruktionen und auch der vielbeschworene digitale „Homo Deus“ sind Meilensteine auf dem Weg zur Ursünde des Menschen, selbst wie Gott sein zu wollen.
Im Kern basiert jedes totalitäre System – so Vince Ebert – auf dem gleichen Gedanken. Gib ein höheres (am besten sogar unerreichbares) Ziel vor und erkläre dann, dass dieses Ziel so (überlebens-)wichtig ist, dass dessen Erreichung über allem stehen muss. Mache dabei immer wieder klar, dass das Paradies auf alle wartet. Hätten die Leute das erst mal verinnerlicht, könne man die Daumenschrauben fast nach Belieben anziehen.
Als ideales Vehikel im Kampf für das Wohlergehen der „einen Menschheit“ erweist sich das Weltklima. An diesem können die Deutschen zwar selbst dann nichts ändern, wenn sie das Atmen einstellten, aber die Unlösbarkeit des Problems scheint die totalitären Energien erst recht anzustacheln.
In der Angst vor der Erderwärmung schimmern Ängste vor dem Höllenfeuer durch. Wo sich Aktivisten auf „die Wissenschaft“ berufen, ist deren in Wirklichkeit ja prozesshafter und pluraler Charakter gegen Verkündigung und Glaube eingetauscht.
Gesunder Menschenverstand, realistischere Politik in Mittelosteuropa
Noch handelt es sich beim Wokismus nur um einen sanften Totalitarismus, der uns einige Nischen lässt. Rod Dreher spricht hingegen schon von „prätotalitären Regimen“, die zu einer Zeit der Verfolgungen überleiten. Der sanfte westliche Wokismus könnte aber bald schon in Europa von einem islamistischen Totalitarismus abgelöst werden, der sich die Naivität zu Nutze macht, um seine Herrschaft durchzusetzen. Dies erklärt wiederum manche vorauseilende Anbiederung der Woken an diese Mächte.
Es wird Zeit, über eine Gegenwehr jener Kräfte nachzudenken, die unsere Gesellschaften und Kultur bewahren wollen. Es sind sowohl religiöse als auch politische Wege notwendig, um von der Selbstzerstörung zu neuem Realismus überzuleiten.
Beispiele für eine stärkere kulturchristliche Verankerung erkennen wir in den mittelosteuropäischen Ländern. Dort sind die Verhältnisse zwischen Politik und Religion beinahe spiegelverkehrt zum westlichen Moralismus und Wokismus. Dem massiven Glaubensverlust im alten Europa steht insbesondere in Polen und Ungarn der politische Glaubensverlust an kommunistischen Heilsphantasien gegenüber. Der gesunde Menschenverstand erlaubt dort eine weit realistischere, an den Grenzen des Möglichen rückgebundene Politik.
Freiheit und Verantwortung waren nie voraussetzungsfrei
Die politische Alternative zum Moralismus ist nicht Immoralismus, sondern das konkrete Ethos einer konkreten Gesellschaft oder Kultur. Dies setzt aber die Identität einer Gemeinschaft voraus. Derzeit sind die veralteten Konflikte von Links oder Rechts in die Konflikte zwischen Globalisten und Protektionisten übertragen worden, wo sie der Suche nach den notwendigen Gegenseitigkeiten im Wege stehen: zwischen Weltoffenheit und Schutz, Selbstbegrenzung und Selbstbehauptung, Notwendigkeit und Möglichkeit. Neue Mehrheitsverhältnisse, die sich überall in Europa abzeichnen, müssten als erstes die Öffnung der Debatten erzwingen, um wieder in die Suche nach dritten Wegen einzusteigen.
In Deutschland sollte sich die schweigende Mehrheit auch weiter zu neuen Bürger-Bündnissen zusammenschließen. Bildungs- und Besitzbürger sind die legitimen Erben einer christlichen und zugleich ausdifferenzierten Kultur sowie von Strukturen, welche die freiesten und wohlhabendsten Gesellschaften geschaffen haben, die die Welt je gesehen hat.
Sie müssen ihre Erfolge gegen Phantasien des Übermuts und Selbsthasses verteidigen, die sich nicht zuletzt aus dem Missbrauch westlicher Werte wie Freiheit und Verantwortung ergeben haben, die nie voraussetzungsfrei gemeint waren. Der Kampf der bürgerlichen Mehrheiten gegen verstiegene Minderheiten ist ein Kampf für die Demokratie gegen die Gesinnungsoligarchie, für die Personalität gegen extremen Individualismus, für Subsidiarität in der Globalität, für den Aufbau von Ordnung statt weiterer Dekonstruktion, für Transzendenz statt Profanität, für Realismus gegen utopistisches Schwärmertum.
Dass soziale Ungleichheit keine Rolle mehr spielt, stimmt zwar nicht ganz, sie wird nur mit absurden Maßnahmen angegangen, u.a. Abstands-Verringerung zw. Lohnarbeit und Bürgergeld. Richtig ist, dass in Schulen heftig indoktriniert wird. Das Kontroversitäts-Gebot sei ein Kernprinzip politischer Bildung in einer pluralistischen Gesellschaft, heißt es, um dann massenhaft Materialien für Vielfalt und Diversity gegen Alltags-Rassismus einzusetzen. Ziel von Autor*innen ist es, Schüler*innen für‘s „Haltung zeigen“ zu bewegen. Was das für den Kompetenzerwerb heißt, hat der aktuelle Bildungsmonitor gezeigt.
Richtig ist auch, dass Wokismus durchaus kein sanfter Totalitarismus ist, das zeigen zerstörte Kritiker-Karrieren, neue Gesetze und Denunziations-Einladungen. Ja, die Leerstelle an Selbsterhaltungstrieb könnte der Islam besetzen, bedrohliche Aussicht.
Dass soziale Ungleichheit keine Rolle mehr spielt, stimmt zwar nicht ganz, sie wird nur mit absurden Maßnahmen angegangen, u.a. Abstands-Verringerung zw. Lohnarbeit und Bürgergeld. Richtig ist, dass in Schulen heftig indoktriniert wird. Das Kontroversitäts-Gebot sei ein Kernprinzip politischer Bildung in einer pluralistischen Gesellschaft, heißt es, um dann massenhaft Materialien für Vielfalt und Diversity gegen Alltags-Rassismus einzusetzen. Ziel von Autor*innen ist es, Schüler*innen für‘s „Haltung zeigen“ zu bewegen. Was das für den Kompetenzerwerb heißt, hat der aktuelle Bildungsmonitor gezeigt.
Richtig ist auch, dass Wokismus durchaus kein sanfter Totalitarismus ist, das zeigen zerstörte Kritiker-Karrieren, neue Gesetze und Denunziations-Einladungen. Ja, die Leerstelle an Selbsterhaltungstrieb könnte der Islam besetzen, bedrohliche Aussicht.