Übergriffiger Kampf gegen „Staatsverweigerer“

Die Entscheidung fiel knapp aus: 94 Mitglieder des Schweizer Nationalrats stimmten zu, 91 waren dagegen. Es ging um die Frage, ob man dem Bundesrat, der Landesregierung, den Auftrag erteilen soll, einen Bericht über sogenannte Staatsverweigerer zu erstellen.
Die Idee dazu hatte eine Sozialdemokratin, die offenbar von tiefen Sorgen geplagt wird. Ihr Befund: Man habe keinen Überblick zu diesem Personenkreis und keine Strategie, wie man mit diesem umgehen soll. Also muss, wie üblich beim Staat, ein Bericht her, der Klarheit schafft.
Die Suche nach dieser Klarheit sollte aber vermutlich sogar einen Schritt weiter vorn beginnen. Was genau ist ein Staatsverweigerer? Einer, der seine Steuern nicht bezahlt? Einer, der sich einen Personalausweis für einen fiktiven Staat bastelt und mit dem über die Grenze will? Verweigert man den Staat, indem man sich nicht an seine Gesetze hält –– oder bereits, wenn man diese öffentlich kritisiert?
Keine Selbstkritik beim Staat
Die Debatte um Leute, die sich vom Staat entfremdet haben, ist nicht neu und wurde hier auch schon thematisiert. Der Befund ist heute noch derselbe: Die Auseinandersetzung mit Staatsverweigerern erschöpft sich in der Frage, wie man sie neutralisieren kann. Es gibt keine Ursachenforschung zu dem Phänomen oder gar einen Anflug von Selbstkritik. Die Vertreter des Staates müssten darüber nachdenken, weshalb immer mehr Leute mit ihrer Heimat nichts mehr zu tun haben wollen.
Was genau der nun in Auftrag gegebene Bericht bringen soll, ist schleierhaft. Denn die Tatbestände, in denen sich Staatsverweigerung meist äußert, sind bereits im Strafgesetzbuch abgebildet. Ob einer seine Steuern nicht bezahlt, weil er den Staat ablehnt, kein Geld hat oder lieber ein neues Auto kauft, ist unerheblich. Die Instrumente gegen säumige Zahler existieren. Dasselbe gilt für Leute, die bei Rot über die Kreuzung fahren. Ob sie einfach unaufmerksam waren oder Verkehrsampeln als unzulässigen Eingriff in ihre Freiheitsrechte empfinden, ist für die Strafe unerheblich.
Einen Originalitätspreis werde ich für diese Befunde nicht erhalten, und sie waren auch im Parlament ein Thema. Gegner des Auftrags an den Bundesrat, vor allem solche aus der Schweizerischen Volkspartei (SVP), monierten dasselbe: Es gebe ja schon Gesetze gegen die aufgeführten Begleiterscheinungen. Zudem: Staatskritik tue einer Demokratie gut, und die zentrale Frage sei, wie es überhaupt zum Vertrauensverlust gekommen sei.
Die Politik wünscht sich eine Handhabe, um die „Szene“ zu durchleuchten
Dass eine knappe Mehrheit es nun doch genauer wissen möchte, hat andere Gründe. Die Politik wünscht sich eine Handhabe, um die „Szene“ der Staatsverweigerer zu durchleuchten, um herauszufinden, welche Personen sie prägen, wie sie sich vernetzen und was sie vorhaben. Der Bericht ist damit die Vorstufe für mögliche Aktivitäten des Nachrichtendienstes und ähnlicher Organe gegen diese Leute. Hat man erst einmal definiert, wie groß und angeblich potenziell gefährlich die Gruppe der Staatsverweigerer ist, kann man tätig werden.
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Und weil Gefahren ja bekanntlich immer im Keim erstickt werden sollten, lässt sich der Auftrag auch ausdehnen. Eine regierungskritische Demonstration? Das könnte die Vorstufe zu brennenden Parlamentsgebäuden sein. Also bitte genau unter die Lupe nehmen, die Teilnehmer überprüfen und registrieren, vielleicht gefolgt von einem Hausbesuch beim Wortführer der Kundgebung in der Hoffnung auf einen Zufallsfund.
Die Willkür war der Auslöser
Das mag nach einer realitätsfernen Dystopie klingen, aber die Coronazeit hat uns gelehrt, dass das Unvorstellbare Wirklichkeit werden kann. Was das alles mit Sicherheit ist: reichlich unschweizerisch. Ein liberaler Staat muss auch mit Leuten leben, die ihm nichts abgewinnen können. Er muss im Rahmen der bestehenden Gesetze fertig werden mit Einzelnen, die nicht nach den Regeln spielen wollen. Vor allem aber: Er sollte die besagten Regeln von Zeit zu Zeit darauf hin abklopfen, ob sie nötig und sachgerecht sind und mit Augenmaß umgesetzt werden.
Wobei mit Blick auf die Schweiz die real existierenden Regeln gar nie das Problem waren. Zum Bruch vieler mit dem Staat kam es erst, als diese neu ausgelegt wurden, als das Notrecht regierte, als plötzlich nichts mehr als gesichert gelten konnte. Nach 2020, als Kundgebungen untersagt, Einschränkungen bis tief in den Bereich der Privatsphäre eingeführt und Willkür zum Normalfall wurden.
Ein dringend nötiges Korrektiv
Man könnte als Parlament also stattdessen die Staatsverweigerer auch als manchmal vielleicht lästiges, aber gleichzeitig dringend nötiges Korrektiv verstehen. Wenn Menschen, die jahrzehntelang klaglos ihre Bürgerpflichten erfüllt haben, sich diesen plötzlich entziehen, muss etwas geschehen sein. In diesem Fall war es das Folgende: Sie konnten sich, als es wirklich zählte, nicht auf den Staat verlassen, den sie so lange mitgetragen haben. Warum also sollten sie das weiter tun?
Dieser Bruch muss gekittet werden. Aber nicht, indem man die Betroffenen observiert, analysiert, durchleuchtet und registriert. Sondern indem man dafür sorgt, dass das alles nicht mehr geschieht.
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