Die letzte Verteidigungslinie

Irgendwann werden die Schweizer über das neueste Vertragspaket mit der Europäischen Union abstimmen können, wie es hierzulande so üblich ist. Ein Detail gibt aber zu reden: Soll nur die Volksmehrheit entscheidend sein – oder auch die Anzahl der Kantone, die dafür oder dagegen sind?
Wer sich schon einmal an einem Abstimmungssonntag in eine Schweizer Nachrichtensendung eingeschaltet hat, kennt die Wendung vielleicht, die dann jeweils fällt: „Volk und Stände stimmen zu“ – oder eben dagegen. „Stände“ steht dabei für die Kantone, die in Deutschland und Österreich den Bundesländern entsprechen. Das sogenannte Ständemehr ist ein Mechanismus, den die Gründer der modernen Schweiz in weiser Voraussicht eingeführt haben.
Es geht im Wesentlichen darum, dass bei Verfassungsfragen nicht allein die Mehrheit der Bürger entscheiden kann. Ihr Verdikt muss auch von einer Überzahl der Kantone gestützt werden. Das ist keineswegs reine Symbolik, sondern hat durchaus Schlagkraft. Diverse Initiativen fanden in der Vergangenheit die Unterstützung der Stimmberechtigten, scheiterten aber am Ständemehr: Sagen 14 der 26 Kantone Nein zu einer Vorlage, ist sie vom Tisch.
Auf diese Weise wurde beispielsweise ein Kulturförderungsartikel in der Verfassung abgelehnt (1994), ebenso eine Revision der Bürgerrechtsregelung mit erleichterter Einbürgerung junger Ausländer (1994) oder vor wenigen Jahren eine Volksinitiative, die Schweizer Unternehmen haftbar machen wollte in Umwelt- und Menschenrechtsfragen bei Firmen, die sie im Ausland kontrollieren (2020).
Eine Übermacht verhindern
Die Eidgenossenschaft basiert auf dem Prinzip der Gleichberechtigung der Kantone. Die kleineren und ländlicheren Gebiete dürfen nicht einfach von den großen Zentren überstimmt werden. Genau das verhindert das Ständemehr. Eine rein bevölkerungsbasierte Abstimmung würde bedeuten, dass praktisch nur noch die städtischen Kantone das Sagen haben. Die öffentliche Meinung würde sich an den Interessen von Zürich, Bern und Genf orientieren, während die ländlichen Regionen zum Zuschauer degradiert würden.
Ein internationales Abkommen, das in Zürich und Genf gefeiert wird, aber für die Bergregionen existenzielle Nachteile bringt: Ohne Ständemehr würde es trotzdem durchgewunken. Es wäre das Ende des Schweizerischen Konsensmodells.
Das bekannteste Beispiel zur Bedeutung des Ständemehrs veranschaulicht das. Es geht auf das Jahr 1992 zurück, als die Schweiz über den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) befand. Damals sagte das Volk knapp Ja, aber die Kantone Nein. Ohne Ständemehr wäre die Schweiz heute Teil eines supranationalen Systems, das wenig Rücksicht auf Eigenheiten nimmt. Gerade heute, wo die EU immer aggressiver in ihre Mitgliedstaaten eingreift, sollte man froh sein, dass das Ständemehr eine solche Weichenstellung verhinderte.
Regionale Vielfalt schützen
Dennoch gibt es Gegner der Idee, und sie berufen sich gern auf Demokratie. „One man, one vote“ müsse gelten, und wenn die Volksmehrheit ausgehebelt wird durch einen zweiten Mechanismus, werde dieses Prinzip unterlaufen. Weitere Klassiker in Debatten: Das Ständemehr sei nicht mehr zeitgemäß, es verleihe kleineren Kantonen zu viel Macht und es erschwere dringend notwendige Reformen. Doch wer so argumentiert, verkennt, warum die Schweiz die Schweiz ist.
Denn wahre Demokratie ist nicht nur das Diktat der Mehrheit über die Minderheit, sondern ein System des Ausgleichs. Gerade in einem Land, das so heterogen ist wie die Schweiz, darf nicht nur die Anzahl Stimmen zählen, sondern auch die regionale Vielfalt. Sonst wären die Berge und das Mittelland bald nur noch Staffage für Werbeplakate der Tourismusindustrie, aber politisch bedeutungslos.
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Ja, das Ständemehr macht gewisse Veränderungen schwieriger. Aber das ist kein Fehler, sondern eine Schutzfunktion. Reformen, welche die gesamte Schweiz betreffen, müssen gut durchdacht sein und einen breiten Konsens finden. Es reicht nicht, die urbanen Städter mit einem Vorschlag zu elektrisieren und in den Wirtschaftszentren Unterstützung zu finden. Wer das Ständemehr abschaffen will, der will schneller durchregieren – auf Kosten derjenigen, die politisch nicht ins Mainstream-Schema passen.
Die Diskussion über das Ständemehr ist kein rein technisches Detail. Es geht um das Fundament unseres politischen Systems. Wer es abschaffen will, will eine andere Schweiz. Eine, in der die Städte bestimmen und die Landkantone folgen. Kurz: eine Schweiz, die keine mehr ist.
Gesundes Misstrauen
Europhile Schweizer Politiker wollen nun dafür sorgen, dass die neuen Verträge mit der EU nur dem Volks-, aber nicht dem Ständemehr unterworfen werden. Sie fürchten eine Neuauflage der EWR-Niederlage. Nicht zu Unrecht. Im ländlichen Raum, in kleinen Kantonen ist das Misstrauen gegenüber Staatenbunden und die Angst vor Verlust an Souveränität weit ausgeprägter als in Metropolen. Es ist ein gesundes Misstrauen, das immer wieder vor überhasteten Schritten schützt.
Natürlich stört es die Verfechter einer Vorlage, dass ein Kanton wie Zug mit etwas über 130’000 Einwohnern dasselbe Gewicht hat wie der Kanton Zürich mit über 1,6 Millionen, also mehr als zehn Mal kleiner ist.
Aber umgekehrt gedacht: Was würde die Bürger kleiner Kantone überhaupt noch an die Urne treiben, wenn sie genau wüssten, dass ohnehin nur der Wille der andern maßgebend ist? Was würde das bedeuten für den Zusammenhalt im Land?
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Kommentare
Die deutschen (zumindest niedersächsischen) Jagdgenossenschaften ("Zwangsvereinigungen" der Besitzer jagdlich zu nutzender Flächen, die zu klein für ein eigenes Revier {Eigenjagd} sind) kennen etwas ähnliches: Beschlüsse bedürfen der Mehrheit sowohl der Eigentümer als auch der vertretenen Flächen. Dadurch kann ein Eigentümer einer großen Fläche u. U. nicht einfach überstimmt werden, sondern es muss ein Ausgleich gefunden werden.