Der Verantwortungsethiker
Bei vielen Menschen in aller Welt hat die von Rolf Hochhuths Theaterstück „Der Stellvertreter“ 1963 losgetretene Debatte um die Haltung von Papst Pius XII. zur Vernichtung der Juden während des Zweiten Weltkrieges zu einer tiefen Spaltung in der Bewertung dieses Pontifikats geführt. Bis heute scheuen sogar manche Historiker nicht davor zurück, durch Übersetzungsfehler und/oder gezielte Auslassung bei Zitaten gravierende Fälschungen in Kauf zu nehmen und somit zentrale Quellen auszublenden oder falsch zu interpretieren. Leistungen des Papstes werden negiert. Ausgewogene Darstellungen stehen umgekehrt schnell unter dem Verdacht, apologetisch zu sein. So wurde für viele Menschen aus dem „papa tedesco“ der „Papst Hitlers“.
Seinem Wirken und seinem Selbstverständnis zufolge war Pacelli nie ein „deutscher Papst“, sondern hatte stets die Anliegen der ganzen Kirche im Blick. Doch auch nach dem Ratzinger-Papst Benedikt XVI. (2005-2013) gilt bis auf den heutigen Tag, dass kein Pontifikat mit der deutschen Geschichte enger verbunden war als das von Papst Pius XII.
Eugenio Pacelli wurde am zweiten März 1876 in Rom geboren. Seine Vorfahren dienten über Generationen als treue Mitarbeiter des päpstlichen Hofes. Eugenio wuchs in einem gesellschaftspolitischen Klima auf, das durch das Aufwärtsstreben der jungen italienischen konstitutionellen Monarchie zutiefst antipäpstlich, antiklerikal und antikirchlich war. Dennoch entschied sich Eugenio für das Priestertum.
1901 trat Pacelli in die Dienste des päpstlichen Staatssekretariats. Der hochbegabte Pacelli verdankte seine kirchliche Karriere seinem 26 Jahre älteren Mentor, dem Kurienmitarbeiter und späteren Kardinal Pietro Gasparri (1852-1934).
Früher Einsatz für den Frieden
Schon während des Ersten Weltkriegs wirkte Pacelli an der Friedenspolitik Papst Benedikts XV. mit. Dieser hielt mit aller Konsequenz an drei Prinzipien fest, die Pacelli als Papst im Zweiten Weltkrieg zu seinen eigenen gemacht hatte: 1. Unparteilichkeit, 2. Linderung der Kriegsfolgen und 3. Bemühungen um die Beilegung der Kriegshandlungen.
Benedikt XV. übertrug 1917 Eugenio Pacelli die Friedensverhandlungen mit Deutschland, ernannte ihn zum Nuntius und weihte ihn am 13. Mai 1917 persönlich zum Bischof. An diesem Tag erschien erstmals in dem portugiesischen Dorf Fátima die Muttergottes drei Hirtenkindern. Das brachte Pacelli später die Bezeichnung „Fátima-Papst“ ein, obwohl er selbst nie in Fátima gewesen war.
Die päpstliche Friedensinitiative vom 1. August 1917 scheiterte. Das lag nicht an Pacelli. Deswegen konnte er nach dem Ersten Weltkrieg segensreich als Nuntius in München und bald in Berlin wirken. Denn ausgerechnet die sozialdemokratische Reichsregierung betrieb in Deutschland die Errichtung einer Reichsnuntiatur. 1920 wurde Pacelli zum Apostolischen Nuntius beim Deutschen Reich ernannt, residierte aber vorerst überwiegend in München, denn seit 1919 stand er mit Bayern in Konkordatsverhandlungen. Das Bayernkonkordat wurde zum „Schrittmacher“ (Konrad Repgen) für die Konkordate mit Preußen (1929) und Baden (1932).
Zu den Aufgaben eines Nuntius gehörten seit dem Trienter Konzil (1545-1563) innerkirchliche Angelegenheiten. Bis 1929 blieb er Nuntius in Deutschland und konnte auf eine erfolgreiche Tätigkeit zurückschauen, denn er hatte das Verhältnis von Kirche und Staat in Deutschland neu geordnet.
Als Pacelli 1930 von Pius XI. zum Kardinalstaatssekretär ernannt worden war, wurde kurz zuvor mit den Lateranverträgen von 1929 auch der Heilige Stuhl auf eine ganz neue finanzielle und völkerrechtliche Grundlage gestellt: Für die Enteignungen während der italienischen Einigungsbewegung gab es Ausgleichsleistungen, und der italienische Staat erkannte den Vatikanstaat als Völkerrechtssubjekt an.
Pacelli neigte dazu, „die Geschäfte auf sich zu konzentrieren“ (Ernst von Weizsäcker). Seine engsten Mitarbeiter in München und Berlin waren Schwester Pascalina Lehnert (1894-1983) und Pater Robert Leiber SJ (1887-1967); sie begleiteten ihn auch nach Rom.
Deutsche Belange standen mit der sogenannten nationalsozialistischen Machtergreifung seit 1933 vermehrt im Blick Pacellis. Noch im August 1932 stellte die Fuldaer Bischofskonferenz fest, dass alle Diözesen die Zugehörigkeit von Katholiken zur nationalsozialistischen Partei „für unerlaubt“ erklärt hatten. Ihr „glaubensfeindlicher Charakter“ und ihre Ablehnung der konfessionellen Schule und der christlichen Ehe waren unübersehbar.
Das Jahr 1933
Doch Hitler wollte im März 1933 die Zustimmung der Zentrumspartei zu seinem „Ermächtigungsgesetz“. Gleichzeitig drohte Parlamentspräsident Hermann Göring damit, alle Zentrumsbeamten aus dem Dienst zu entlassen, wenn ihre Partei nicht dem Ermächtigungsgesetz zustimmen würde. Während die Nationalsozialisten versuchten, das Zentrum zu zermürben, unterbreiteten sie gleichzeitig leere – wie sich später herausstellte – Versprechen, um diese Zustimmung zu erhalten. Wenn die Zentrumspartei nicht zugestimmt hätte, wäre ihr Ende ebenfalls besiegelt worden, vermutlich etwas schneller und mit einem höheren Blutzoll.
Das danach ausgehandelte und noch 1933 unterzeichnete Reichskonkordat mit dem Heiligen Stuhl hatte auch in späteren Jahren Pius XII. stets als „sein“ Konkordat bezeichnet („C’est mon concordat!“). Er wollte es haben; und es war ein Segen. Denn der Vatikan hatte mit dem Reichskonkordat eine juristische Grundlage für seine späteren Proteste gegen NS-Unrecht erhalten.
Der Totalitätsanspruch des Nationalsozialismus war eine Herausforderung für die katholische Kirche. Nach den Devisen- und Sittlichkeitsprozessen, die seit Mai 1936 die moralische Autorität der katholischen Kirche unterminieren sollten, reisten im Januar 1937 auf Einladung Pacellis einige deutsche Bischöfe und Kardinäle nach Rom und berieten über eine eigene päpstliche Enzyklika (Lehrschreiben) zur Lage der katholischen Kirche in Deutschland. Die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ wurde am Palmsonntag, dem 21. März 1937, von allen Kanzeln verlesen. Sie stand in einer Reihe bedeutender weiterer Enzykliken und Äußerungen Pius’ XI. gegen die Kirchenverfolgung in Mexiko (1932) und Spanien (1933) sowie gegen den „atheistischen Kommunismus“ 1936 und erneut am 19. März 1937. An all den Texten wirkte Pacelli maßgeblich mit.
Papst im Zweiten Weltkrieg
Am 10. Februar 1939 starb Pius XI. Schon am 1. März 1939 trafen alle 62 wahlberechtigten Kardinäle im Vatikan zum Konklave zusammen. 48 von ihnen wählten im kürzesten Konklave der neueren Geschichte am 2. März 1939 Eugenio Pacelli, der an diesem Tag zugleich seinen 63. Geburtstag feierte.
Der Pacelli-Papst ließ Kontinuität erwarten. Darauf wies schon die Annahme des Namens Pius hin, den Pacelli in Dankbarkeit für seine Vorgänger Pius X. und Pius XI. wählte.
Das Pontifikat von Pius XII. stand von Beginn an unter der drohenden Kriegsgefahr. So rief Pius XII. erstmals zum öffentlichen Gebet im Monat Mai für den Frieden auf. Anfang April 1939 schlug er Benito Mussolini vor, eine Friedenkonferenz einzuberufen. Mussolini willigte ein, doch Hitler sagte seine Teilnahme ab, da er keine Kriegsgefahr zu sehen vermochte.
Noch am 31. August 1939 sandte Pius XII. Telegramme an die Regierungschefs von Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien und forderte diese auf, alles zu tun, die gegenwärtigen Spannungen zu entschärfen. An diesem Tag hatte Hitler den Befehl für den Einfall deutscher Truppen in Polen zum 1. September 1939 gegeben.
Pius XII. geißelte den Überfall auf Polen mit deutlichen Worten in seiner ersten Enzyklika „Summi Pontificatus“ vom 20. Oktober 1939. Während des Krieges rief Pius XII. insbesondere in seinen über Radio Vatikan ausgestrahlten Weihnachtsbotschaften zum Frieden auf, die der Botschafter beim Heiligen Stuhl Ernst von Weizsäcker in seinen Memoiren als „Leitfaden für die Rückkehr zur internationalen Vernunft“ bezeichnete. Pius XII. verwahrte sich stets, wenn er einseitig für einen Kampf gegen den Kommunismus oder Nationalsozialismus vereinnahmt wurde.
Den Weg der Geheimdiplomatie beschritt Pius XII. schon im Winter 1939/40, als er zwischen der deutschen Militäropposition und der britischen Regierung vermittelte.
Pius’ „Schweigen“ gegenüber der systematisch begangenen Vernichtung der Juden in Europa (die von den Nazis sogenannte „Endlösung der europäischen Judenfrage“), die auf der Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 organisatorisch abschließend vorbereitet wurde, erfolgte nicht aus Angst um die eigene Sicherheit oder aus Sorge, die strikte Neutralität aufzugeben und so die Rolle des künftigen Friedensvermittlers zu verlieren. Vielmehr kam hier die Erkenntnis zum Tragen, dass ein öffentlicher Protest die Nationalsozialisten nicht bewegen würde, ihre Haltung zu ändern, sondern im Gegenteil diese allenfalls provozierte, noch schärfere Maßnahmen gegen die Kirche zu ergreifen.
Gleichzeitig errichtete Pius XII. ein eigenes Büro, das sich ausschließlich mit der Verfolgung der Juden in ganz Europa befasste und sowohl die Instruktionen an die Nuntien und die Protestnoten an die Regierungen verfasste wie auch konkrete Rettungsmaßnahmen für verfolgte Juden koordinierte. Die Erforschung dieses Büros steht zurzeit noch ganz am Anfang, denn auch diese Quellen sind erst mit der Öffnung der Archive des Heiligen Stuhls für das Pontifikat Pacellis im März 2020 bekanntgeworden.
Besetzung Roms durch die SS
Seit Eintritt Italiens in den Zweiten Weltkrieg im Juni 1940 war auch die „Ewige Stadt“ Rom Kriegsziel geworden. Im September 1943 kam es zur Besetzung von Rom durch deutsche Truppen.
Eine erste spektakuläre Verfolgungsmaßnahme war der von der SS am 26. September 1943 gegebene Befehl an die jüdische Gemeinde, innerhalb von 36 Stunden 50 Kilogramm Gold zu beschaffen, um auf diese Weise die Deportation von 200 Juden zu verhindern. Pius XII. versprach der jüdischen Gemeinde 15 Kilogramm Gold. Doch hatte die jüdische Gemeinde die versprochene Goldmenge schließlich selbst aufbringen können. Im Oktober 1943 wurde die Synagoge in Rom durchsucht sowie dort aufbewahrtes Geld, das Archiv und die Bibliothek abtransportiert.
Am Samstag, dem 16. Oktober 1943 um 5.30 Uhr, führte die SS – nicht die Wehrmacht – in ganz Rom eine großangelegte Razzia durch. 1127 Juden wurden gefangengenommen und im Collegio Militare am Fuß des Gianicolo inhaftiert. Weizsäcker unterstrich die Dramaturgie in seinem Bericht an das Auswärtige Amt: Die päpstliche Kurie sei besonders betroffen, „da sich der Vorgang sozusagen unter den Fenstern des Papstes abgespielt hat“. Diese Bemerkung wurde später dazu verwendet, den Papst zum unmittelbaren Augenzeugen der Judenverfolgung zu machen.
In zähen Verhandlungen mit von Weizsäcker konnte Pius XII. erreichen, dass es keine weiteren Deportationen in Rom gab, woraufhin er auf einen öffentlichen Protest verzichtete.
Etwa 200.000 Italiener, darunter zahlreiche Juden, wurden nun durch den Vatikan während der Besetzung Roms in über 200 kirchlichen Einrichtungen versteckt. Den römischen Einrichtungen stellte Botschafter von Weizsäcker Schutzbriefe aus, die von der Wehrmacht auch respektiert wurden. Mehreren tausend Verfolgten, darunter vor allem Juden, wurde die Auswanderung ermöglicht, in dem der Vatikan Pässe der argentinischen und brasilianischen Regierung vermittelte; eigene Vatikanpässe gab es nie.
Nach dem Zweiten Weltkrieg, noch im Sommer 1945, begann, neben der Schweiz, insbesondere der Vatikan auf amerikanischen Heereslastwagen Lebensmittel und Medikamente nach Deutschland zu senden, die jedoch wegen bürokratischer Schwierigkeiten erst im Frühjahr 1946 ihr Ziel auch erreichten.
Schon im Juli 1946 ernannte Pius XII. den Bischof von Fargo/USA, Aloisius Muench (1889-1962), zum Apostolischen Visitator für Deutschland. Muench war zugleich auch Berater des amerikanischen Oberbefehlshabers und Militärgouverneurs; er wurde wenig später zum Regent der Nuntiatur in Deutschland ernannt.
Nach dem Zusammenbruch Deutschlands verfolgte der Papst nun konsequent seinen Weg der Unparteilichkeit und Neutralität weiter, ohne jedoch die Forderung nach einer dauerhaften Friedensordnung in Europa unter Einbeziehung Deutschlands aufzugeben.
Vier katholische Staatsmänner
Die vatikanische Haltung zur europäischen Integration, zur Ostpolitik und zur Wiedervereinigung Deutschlands, aber auch zu zahlreichen Einzelfragen, wie der Aufstellung deutscher Streitkräfte 1955, befand sich während des Pontifikats Pius’ XII. in bemerkenswerter Übereinstimmung mit der Politik Adenauers. Tatsächlich war die Nachkriegsgeschichte Mitteleuropas – außer von Pius XII. – insbesondere von drei katholischen Staatsmännern gestaltet und beeinflusst worden. Es waren der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer, der französische Ministerpräsident (1947-1948) und Außenminister (1948-1952) Robert Schuman (1886-1963) sowie der italienische Ministerpräsident (1945-1953) Alcide de Gasperi (1881-1954). Von diesen drei hatte Adenauer das beste Verhältnis zu Pius XII., den er schon als Nuntius in Deutschland kannte. Nicht ohne Grund führte Adenauers erster Staatsbesuch als Bundeskanzler 1951 nach Rom.
Der Vatikan hatte sehr früh die strategische Notwendigkeit erkannt, die ein vereintes westliches Europa in einer Allianz mit den Vereinigten Staaten in Zukunft haben würde. Der europäische Gedanke erhielt Nahrung durch die große Angst vor einem Einmarsch der sowjetischen Roten Armee, insbesondere in Italien, wo die Kommunisten zusehends stärkeren Rückhalt in der Bevölkerung erhielten.
Tod in Castel Gandolfo
Sowohl als Kardinalstaatssekretär als auch in den letzten vier Jahren als Papst war Pacelli wiederholt schwer erkrankt. Im November 1954 rechnete man mit seinem baldigen Tod. Doch unerwartet wurde er Anfang Dezember 1954 gesund. Anfang Oktober 1958 allerdings, Pius XII. weilte in seiner Sommerresidenz Castel Gandolfo, verschlechterte sich sein Gesundheitszustand erneut. Am 9. Oktober 1958, um 3.52 Uhr, starb der Pacelli-Papst.
Am Nachmittag des 10. Oktober 1958 begann die Überführung in den Vatikan. Hierbei ergab sich eine protokollarische Besonderheit: Da seit 1870 kein Papst mehr außerhalb des Vatikans gestorben war, gab es keinen Präzedenzfall, wie die Überführung hätte stattfinden können. Den Trauerwagen mit der Leiche begleiteten die Angehörigen des Heiligen Stuhls bis zur Lateranbasilika. Von dort an nahmen Vertreter der italienischen Regierung an dem Trauerzug teil. An der Grenze des Vatikanstaates übernahmen die päpstlichen Soldaten das weitere Geleit. In der Peterskirche erwartete das Kardinalskollegium den Leichnam.
Die Teilnahme der italienischen Regierung bei den mehrtägigen Beisetzungsfeierlichkeiten war ein unübersehbares Zeichen der Normalisierung des vatikanisch-italienischen Verhältnisses. Seinem Wunsch entsprechend fand Pius XII. seine letzte Ruhestätte in den Grotten von St. Peter in unmittelbarer Nähe zum Petrusgrab, dessen Ausgrabungen er selbst angeordnet und gefördert hatte.
Nicht zu übersehen war die hohe Wertschätzung für den verstorbenen Pius XII. in der ganzen Welt, mit Ausnahme der kommunistischen Länder. Unter den Beileidsbekundungen fanden sich auch zahlreiche von jüdischen Organisationen, die sich für seine Verdienste um die Errettung von verfolgten Juden während des Dritten Reiches bedankten.
Der durch den Schriftsteller Rolf Hochhuth provozierte Streit offenbart das Dilemma historischen Handelns zwischen Verantwortungsethik und Gesinnungsethik. Pius XII. hat, statt aus gesinnungsethischem Antrieb heraus seinen moralischen Standpunkt durch öffentlichen Protest zu unterstreichen, als Verantwortungsethiker gehandelt und damit tatsächlich Tausende Menschenleben retten können. Gleichwohl hatte er nicht „geschwiegen“ – wie von Seiten der russischen Propaganda seit 1944 behauptet wurde –, sondern die Lehre der katholischen Kirche stets verkündigt und Menschenrechtsverletzungen angeprangert, auch dort, wo man dieses nicht hören wollte.