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75 Jahre Grundgesetz

Eine Verfassung der Religionsfreiheit und der Menschenwürde

Mit seinen nunmehr 75 Jahren Geltungsdauer ist das Grundgesetz die am längsten geltende Verfassung, die (Gesamt-)Deutschland seit Beginn der politischen Moderne je gehabt hat. 

Das ist sicherlich nicht zuletzt auf glückliche äußere Umstände, auf die Unterstützung insbesondere durch die Vereinigten Staaten, den raschen wirtschaftlichen Wiederaufstieg und den dadurch erreichten Wohlstand, verbunden mit einem nie zuvor erreichten Maß an sozialer Sicherung zurückzuführen. 

Aber auch und gerade die grundlegenden normativen Entscheidungen, insbesondere die sukzessive eingelösten Freiheits- und Gleichheitsversprechen haben maßgeblich dazu beigetragen, dass sich die Deutschen – zuerst im Westen, dann aber auch im Osten – das Grundgesetz wie keine Verfassung zuvor zu eigen gemacht haben, sie als die ihre angenommen und im Sinne eines plébiscite de tous les jours durch beständige Inanspruchnahme ihrer demokratischen Mitwirkungsrechte und durch die immer selbstverständlicher werdende Berufung auf seine Garantien in ihrer Wirksamkeit und Geltung immer wieder aufs Neue bestätigt haben.

Die Menschenwürdegarantie als der „eigentliche Schlüssel für das Ganze“

Es ist kein Zufall, dass das Grundgesetz mit den Grundrechten und der Menschenwürdegarantie an ihrer Spitze beginnt. Schon die Beratungen des Parlamentarischen Rates nahmen ihren Anfang bei den verfassungsrechtlich zu gewährleistenden Grundrechten. Rasch wurde Konsens darüber erzielt, nach den Erfahrungen der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft den Schutz der Menschenwürde in rechtsverbindlicher Weise zu verankern. 

Man wollte dem Grundgesetz „eine ganz bestimmte geistige Ausrichtung“ geben: „Diese geistige Ausrichtung erblicken wir in den Gedanken der Freiheit und der Menschenwürde.“ Die Menschenwürdegarantie sollte nach einer berühmten Formulierung Carlo Schmids der „eigentliche Schlüssel für das Ganze“ sein, also das Verständnis des gesamten Grundgesetzes prägen.

Darin drückte sich eine fundamentale Wertentscheidung aus: die Vorordnung des Einzelnen in seiner Würde und mit den ihm zukommenden Freiheitsrechten vor den neu zu konstituierenden Staat, dessen bestimmungsgemäßer Zweck gerade in der Gewährleistung und dem Schutz dieser individuellen Rechte liegen sollte. 

Der Konvent von Herrenchiemsee hatte diese Grundüberzeugung in dem Satz niedergelegt, dass der Mensch nicht um des Staates willen, sondern der Staat um des Menschen willen da sei. Carlo Schmid griff diesen Gedanken im Parlamentarischen Rat wieder auf: „Wir wollen unter ‘Staat’ etwas verstehen, das zu dienen hat und nicht von sich aus da ist. Vor dem Staat soll der Mensch kommen. Wir vindizieren dem Menschen Rechte, die er für sich beansprucht, ehe er anfängt, dem Staat andere Rechte zuzuerkennen.“ Im Ausschuss für Grundsatzfragen sprach Schmid davon, dass den Grundrechten das „logische Prius zukommt“.

Das Grundgesetz sollte von Anfang an mehr als ein bloßes Organisationsstatut sein

Der Menschenwürdegarantie in Art. 1 Abs. 1 GG folgt das Bekenntnis des deutschen Volkes gemäß Art. 1 Abs. 2 GG zur Idee vorstaatlicher und universelle Geltung beanspruchender Menschenrechte. Auf der Grundlage dieser bekenntnishaften Anknüpfung an die europäisch-atlantische Menschenrechtstradition bringt das Grundgesetz die Menschenrechte sodann über Art. 1 Abs. 3 GG als Grundrechte zu unmittelbarer, positiver, verfassungsrechtlicher Geltung, damit sie in Zukunft eine wirksame Schranke für die gesamte, an sie gebundene Staatsgewalt darstellen.

Mochte das Verfassungswerk auch insgesamt im Hinblick auf die Teilung Deutschlands provisorischen Charakter haben, so durfte dies doch für die auszuarbeitenden Grundrechte nicht gelten: 

„Aber man kann die Grundrechte nicht als provisorisch ansehen, sondern diese müssen den Ewigkeitsgehalt irgendwie in sich tragen, um überhaupt eine innere Rechtfertigung zu haben. … Aber wenn man über Grundrechte spricht, dann muss man ihnen schon das Pathos des Dauernden geben.“

Dieses Grundgesetz wollte und sollte von Anfang an mehr als ein bloßes Organisationsstatut sein; es wurde ungeachtet seines in territorialer Hinsicht zunächst vorläufigen Charakters konzeptionell als eine Vollverfassung angelegt. Der Staatsrechtler und CDU-Mitbegründer Adolf Süsterhenn fasste diese den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates wohl erst allmählich selbst bewusst gewordene Entscheidung so zusammen: 

„Es ist richtig, dass zu Beginn dieser Verhandlungen und auch schon bei den Verhandlungen in Chiemsee sehr stark der fragmentarischer Charakter dieses Verfassungswerks betont worden ist … Es hat sich aber … herausgestellt, dass das, was hier im Entwurf vorliegt, eigentlich doch schon de facto eine Vollverfassung im wirklichen Sinne des Wortes ist, und das Fragmentarische lediglich darin besteht, dass wir gebietsmäßig ein Fragment darstellen und bezüglich der Ausübung der Hoheitsrechte im Verhältnis zu den Besatzungsmächten nur gewisse fragmentarische Befugnisse besitzen. Im Übrigen ist das System und der Aufbau dieser Verfassung … durchaus der Aufbau einer Vollverfassung.“ 

Das wird durch die Präambel alter Fassung bestätigt, der zufolge man auch „für jene Deutsche gehandelt“ hat, „denen mitzuwirken versagt war“ (Präambel a.F. S. 2); insofern agierte der Parlamentarische Rat in treuhänderischer Geschäftsführung ohne Auftrag. Nur deshalb konnte das Grundgesetz auch auf dem Weg des Beitritts nach Art. 23 S. 2 GG a.F. 1990 die fortgeltende Verfassung für das vereinigte Deutschland werden.

Das Verfassungsgericht war von Anfang an religionsfreundlich

Ein Staat, der die Menschenwürde zum obersten Verfassungswert erklärt, schützt auch die Glaubensfreiheit umfassend. Sie ermöglicht jedem die ungestörte Entfaltung seiner Persönlichkeit gemäß seinen Glaubensüberzeugungen, solange er die Grundrechte anderer achtet und das staatliche Gemeinwesen nicht beeinträchtigt.

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) war von Anfang an religionsfreundlich Das gipfelte in der die volle Entfaltung der Religionsfreiheit garantierenden Aussage, zur Glaubensfreiheit gehöre „auch das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln“.

Das mag in der Frühphase der Bundesrepublik, als die christlichen Großkirchen noch hohes Prestige genossen und die allermeisten Bürger gläubig waren, noch selbstverständlich erschienen sein. 

Der Schutz, nicht die Unsichtbarmachung religiöser Überzeugungen kennzeichnet diese Verfassung

Diese Selbstverständlichkeit aber wurde hinfällig, als einerseits religiöse Vielfalt in Deutschland einzog und andererseits die Gesellschaft immer säkularer wurde und seitdem, religiös weithin gleichgültig und teilnahmslos, religiösem Verhalten häufig bestenfalls mit Unverständnis begegnet, es schlicht für „irrational“ und daher auch nicht für schützenswert hält. 

Doch das BVerfG blieb auf seiner Linie und widerstand der Versuchung, die Ausübung der Religionsfreiheit unter einen aufklärerischen Rationalitätsvorbehalt zu stellen. Das BVerfG hat auch die Freiheit religiöser Außenseiter geschützt. Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes ist nach der Rechtsprechung des BVerfG gekennzeichnet durch Offenheit gegenüber der Vielfalt weltanschaulich-religiöser Überzeugungen, nicht ihrer abweisenden Unsichtbarmachung. 

Die dem Staat als Heimstatt aller seiner Bürger gebotene weltanschaulich-religiöse Neutralität versteht das BVerfG dementsprechend nicht als eine distanzierende, sondern als eine übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung. Damit hat das Gericht einer von vielen gewünschten Abdrängung des Religiösen in die Privatsphäre eine klare Absage erteilt.

Die internationale Zukunftsperspektive

„Von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassunggebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“ Mit der im Zustand der politischen Desorganisation Deutschlands im Vorspruch entworfenen Zukunftsperspektive für das unter Besatzungsherrschaft stehende deutsche Volk entfaltet das sonst so nüchterne Grundgesetz visionäre Kraft: Es entwickelt die – dank ihrer unwiderstehlichen Anziehungskraft langfristig wirkungsmächtige – Vorstellung eines in freier Selbstbestimmung des Volkes vollendeten, der Souveränität wieder teilhaftigen, deutschen Nationalstaates, der sich als integraler Bestandteil eines vereinten Europa begreift und weltweit friedensstiftend wirken will. 

Was bei Inkrafttreten des Grundgesetzes noch als in scheinbar unerreichbarer Ferne liegendes Ziel erscheinen musste, wurde schon ein halbes Jahrhundert später Rechtswirklichkeit: Das vereinte Deutschland, der vom Grundgesetz verfasste Staat „für das gesamte Deutsche Volk“ (Präambel S. 3), ist wieder im Besitz „voller Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten“ (Art. 7 Abs. 2 des Vertrages über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland), gehört der Europäischen Union, „eine[r] neue[n] Stufe einer immer engeren Union der Völker Europas“ (Art. 1 Abs. 2 EU) an und ist ein geachtetes Mitglied der in den Vereinten Nationen universal organisierten Staatengemeinschaft.

Eine Zukunft in Freiheit

Das Bonner Grundgesetz ist gerade deshalb eine valide und stabile Verfassung, weil sich der Parlamentarische Rat nicht in den schwierigen Zeitumständen verlor, nicht rückwärtsgewandt dachte und formulierte, sondern mutig und mit einer klaren Vision nach vorne schaute und positiv umschrieb, was künftig unbedingt gelten sollte, und zugleich darauf verzichtete, uneinlösbare Versprechungen zu machen, die das Vertrauen in die Geltungskraft der Verfassung erschüttert hätten. 

So nahm man von der Garantie sozialer Rechte bewusst Abstand und beschränkte sich auf die Erteilung eines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrags an den Gesetzgeber. Er bildet die normative Grundlage der Ausformung unserer Wirtschaftsordnung als einer sozialen Marktwirtschaft.

Im Mittelpunkt des Grundgesetzes aber steht der freie Mensch. Im Parlamentarischen Rat formulierte der Zentrumsabgeordnete Johannes Brockmann hellsichtig:

„Wir als Parlamentarischer Rat, der die erste Grundlage für diese Zukunft zu schaffen hat, werden unserer Verantwortung gegenüber der Zukunft gerecht, wenn wir die Freiheit als oberstes Prinzip über alle unsere Arbeit stellen. … Verfassungen müssen nicht nur folgerichtig durchdacht sein, sondern vor allem auch von einer großen Konzeption getragen werden. Nur dann gehen sie in das Volk ein, sind ihm angemessen und werden vom Volk getragen und behütet, darauf kommt es letztlich an.“ 

Das ist mit dem Grundgesetz tatsächlich in einzigartiger Weise gelungen.

Zu zufriedener Selbstgewissheit besteht keine Veranlassung

Und trotzdem besteht zu zufriedener Selbstgewissheit keine Veranlassung. Die Feststellung, dass die Bundesrepublik Deutschland nach wie vor – rechtlich betrachtet – in guter Verfassung ist, kann über evidente Krisensymptome nicht hinwegtäuschen. 

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Zum einen ist das Vertrauen in die vom Grundgesetz eingesetzten Institutionen, vom Bundesverfassungsgericht abgesehen, erheblich, teilweise dramatisch gesunken und muss – durch überzeugende Politik – erst wieder zurückgewonnen werden.

Zum anderen erodiert teilweise das Rechtsbewusstsein, was die Geltungskraft des Grundgesetzes schwächen kann. Das gilt leider auch für die Garantie der Unantastbarkeit der Menschenwürde. Dass sie ausnahmslos jedem Menschen, auch schon dem ungeborenen, zugesprochen ist, wird teilweise in Abrede gestellt. Hier ist entschiedene Rechtsverwahrung geboten, damit das Fundament der Verfassung nicht brüchig wird.

„Was du ererbt von deinen Vätern hast. / Erwirb es, um es zu besitzen.“ Diese Aufforderung von Goethes Faust trifft auch auf überkommene Verfassungen zu. Der Verfassungskonsens bedarf von Generation zu Generation der Erneuerung, damit er stabilisiert wird und dauerhaft bleibt. Darin liegt die herausfordernde Zukunftsaufgabe.

 

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Paul
Vor 1 Monat

Guter Kommentar, wenngleich etwas zu optimistisch. Das Grundgesetz kann man schließlich so oder so interpretieren, wie die teils völlig konträren Gesetze beweisen. Hätten die Grundgesetzverfasser vielleicht detaillierter sein müssen?

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Vor 1 Monat

Man kann nur hoffen, daß das Bundesverfassungsgericht bei der von Hillgruber skizzierten Linie bleiben wird.

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Andreas Graf
Vor 1 Monat

In Hamburg forderten Islamisten ein Kalifat für Deutschland und skandierten: "Kalifat ist die Lösung." Die Polizei schaute teilnahmslos zu. Ist das verfassungskonform? Anstatt einer "Rechtsverwahrung" stelle ich nur eine Rechtsverwahrlosung, bzw. eine Bevorzugung des Islam gegenüber dem Christentum, fest. Mein Vertrauen als Katholik in unseren Staat ist gestört. Im übrigen ist unsere Verfassung defacto aufgehoben, denn es gilt der Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990, den Deutschland mit dem defacto Kriegseintritt mit den Waffenlieferungen an die Ukraine gegen Russland gebrochen hat. Die Reaktionen Russlands und unserer Verfassungsschützer sind bislang ausgeblieben. Wer fasst schon gerne ein heißes Eisen an?

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Paul
Vor 1 Monat

Guter Kommentar, wenngleich etwas zu optimistisch. Das Grundgesetz kann man schließlich so oder so interpretieren, wie die teils völlig konträren Gesetze beweisen. Hätten die Grundgesetzverfasser vielleicht detaillierter sein müssen?

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Vor 1 Monat

Man kann nur hoffen, daß das Bundesverfassungsgericht bei der von Hillgruber skizzierten Linie bleiben wird.