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Kolumne „Der Schweizer Blick“

Kartei der Schnüffler

Man nehme eine Karteikarte, trage darauf Daten nach einem zuvor definierten Schema ein und lege sie ab. Daraus entsteht ein Archiv aus Informationen. In der Schweiz nennt man solche Karten aus dem Französischen entlehnt „Fichen“.

Solche Fichen wurden bis 1990 fast ein Jahrhundert lang in der Schweiz fein säuberlich angelegt und gesammelt, rund 900.000 Stück an der Zahl. Der Inhalt: Informationen über Bürger. Von diesen gab es damals rund 6,5 Millionen. Es war also ein relevanter Teil der Bevölkerung erfasst. Bei den besagten Informationen ging es allerdings nicht um bürokratische Formalitäten wie Zivilstand oder Beruf. Sondern um die politische Haltung, um politische Aktivitäten, um Reisen ins Ausland, um persönliche Kontakte und anderes mehr, was man heute unter „private Angelegenheit“ verbuchen würde.

Bürger bespitzelt

Im Zug des Kalten Kriegs mutierte diese Fichensammlung zum Linken-Monitoring. Es waren in erster Linie Sozialisten und Kommunisten, zugewanderte Anarchisten, Gewerkschafter und andere vom Klassenkampf beseelte Leute, die überwacht wurden. Das war jedenfalls die ursprüngliche Idee. Die Informationen stammten oft von leidenschaftlichen Spitzeln oder Mitbürgern, die es als ihre Verantwortung sahen, solche gefährlichen Subjekte zu melden. Die Empfänger waren neben den Bundes- auch die Polizeibehörden.

Die Treiber dieser Aktion waren beseelt von der Mission, die Schweiz vor der Unterwanderung durch subversive Elemente zu schützen. Man war davon überzeugt, dass es ausgehend von den Kommunisten in Moskau rund um den Globus das Ziel war, Demokratien zu destabilisieren und zum Freiwild für totalitäre Systeme zu machen.

Auch wenn die Schweiz allgemein bekannt ist für Akribie und Zuverlässigkeit: Die Fichenkartei war kein besonders gutes Beispiel dafür. Als ihre Existenz aufflog, durften Bürger den Zugang zu ihrer eigenen Fiche fordern und erhielten eine Kopie. Was dort stand, war zum einen nicht besonders systematisch gegliedert, sondern eher ein hobbymäßig wirkendes Notieren einzelner Sachverhalte. Diese wiederum waren in vielen Fällen völlig harmlos. Wer das Pech hatte, sich für andere Kulturen zu interessieren und mal kurz Ost-Berlin besuchte, mutierte schnell zum Verdachtsfall als möglicher DDR-Agent. Es waren wohl weit mehr völlig unbescholtene Menschen erfasst als echte „Gefährder“.

Kritik am „Schnüffelstaat“

Den Staat geschützt hat die Informationssammlung daher kaum. Aber so konnte es geschehen, dass manch einer eine Stelle nicht bekam oder ihm die Aufnahme in einen Verein nicht gewährt wurde, ohne dass er ahnte, woran das lag. Der einzige Grund: Irgendwo in Bern schlummerte eine Karteikarte, die ihn als potenzielle Gefahr auswies, relevante Kreise wurden hinter den Kulissen informiert – und der plötzlich Gemiedene wusste von nichts.

 

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Eine Untersuchung in völlig anderem Zusammenhang führte Ende der 80er-Jahre dazu, dass die Existenz dieser Informationssammlung entdeckt wurde. Es folgte eine Untersuchung, gekrönt von einem offiziellen Bericht Ende 1989. Umgehend war die Rede vom „Fichenskandal“, und die Schweiz mutierte am Stammtisch zum „Schnüffelstaat“. Denn es gab für diese akribische Sammlung von Bürgerinformationen keinen politischen, demokratisch legitimierten Auftrag. In der Bundesverwaltung hatten sich einige Kräfte selbständig gemacht.

Die Sache mit den Fichen ist ein dunkler Punkt in der Schweizer Geschichte. Gelernt hat das Land daraus aber offensichtlich nichts. Nur dass der Einsatz der „Staatsschützer“ inzwischen in die andere Richtung geht – und eine geheime Kartei gar nicht mehr nötig ist.

Offene statt geheime Überwachung

In der Coronamaßnahmenzeit erlebte das Denunziantentum auch in der Schweiz eine neue Blüte. Leute hetzten ihren Nachbarn die Polizei auf den Hals, weil sich dort offensichtlich gerade zu viele Leute in der Wohnung aufhielten. Wollten die „Falschen“ zu einer Kundgebung zusammenkommen, wurde das Demonstrationsrecht immer mal wieder ausgehebelt, und durfte das Ganze doch stattfinden, wusste die Polizei stets, wessen Auftritt sie erschweren bis verunmöglichen musste. Ein bekannter kritischer Video-Blogger wurde beispielsweise ohne Angabe von Gründen in ein Polizeiauto verfrachtet und vom Ort des Geschehens abtransportiert. Seine Livestreams vor Ort waren nicht gern gesehen.

Solches wurde und wird auch heute wieder mit dem Schutz von Recht und Ordnung und Demokratie begründet, nur mit dem Unterschied, dass die Gefahr nun von rechts und nicht mehr von links kommen soll. Informationen müssen nicht mehr mühsam über freiwillige Hobby-Sheriffs gesammelt werden, weil sich Staatskritiker in den sozialen Medien von selbst zu Wort melden. Die großen Medienhäuser übernehmen einen Teil der einstigen Denunziation, in dem sie unablässig melden, wer als „umstritten“ zu gelten habe. Im Unterschied zu früher machen sich deshalb nicht nur einige Bundesbeamte Sorgen über die zersetzenden Kräfte, sondern auch die breite, so manipulierte Öffentlichkeit. Aber wie damals kann eine kritische Haltung gegenüber dem Staat die Karriere bremsen oder zerstören.

Was einst als „Schnüffelstaat“ für viel Aufruhr sorgte, ist heute ein offizieller Teil des Systems, das kaum mehr jemand hinterfragt. Es wurde so perfektioniert, dass es offen vor aller Augen laufen kann.

 

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