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Kolumne „Der Schweizer Blick“

Schweizer in Lederhosen

Das Original verpasst? Kein Problem. In der Schweiz kann das Versäumte nachgeholt werden. Am 6. Oktober wurden die Zapfhähne am legendären Oktoberfest in München zum Stillstand gebracht. Aber kurz danach begann der Hopfen quer durch die Schweiz zu fließen.

Zürich, Baden, Einsiedeln, Thun, Winterthur, Chur, Basel, Sarnen und natürlich auch vor meiner eigenen Haustür im St. Galler Rheintal: O’zapft is! Rührige Schweizer Bankangestellte und Versicherungsverkäufer werfen sich in die Lederhosen, Verwaltungsangestellte und Kosmetikerinnen zwängen sich ins Dirndl.

Wie viele „Oktoberfeste“ es in der Schweiz inzwischen gibt, ist nicht gesichert. Einige sind unübersehbar wie das in Zürich direkt an der Limmat, dem Fluss, der die Schweizer Metropole durchschneidet. Dieses ist ein Ausreißer, weil man ihm immerhin eine gewisse Tradition nachsagen kann: Es findet in diesem Jahr zum 27. Mal statt. Die anderen Austragungen sind jünger.

Und dort, wo es am Geld oder am Platz für eine regelrechte Hütten- und Zelt-Stadt fehlt, hängen findige Gastronomen einfach blau-weiße Rautenbanner ans Fenster und preisen Weißwürste an. Und fertig ist das Mini-Oktoberfest.

Exzess statt Kulturaustausch

Was das soll? Es ist ein Rätsel – und gleichzeitig keines.

Seltsam wirkt es, weil die Schweiz mit „Weißwurst mit Brezn“ das restliche Jahr über nichts am Hut hat. Man kann beides in größeren Läden kaufen, aber ganz offen: Die meisten Kunden sind bereits mit dem fachgerechten „Öffnen“ der Wurst überfordert. Bayerische Spezialitäten haben im Nachbarland weder den Status von Pizza oder Kebab noch wecken sie sehnsüchtige Erinnerungen.

Nicht seltsam wirkt es, weil es weder mit lukullischen Genüssen noch mit einem freundnachbarschaftlichen Austausch etwas zu tun hat. Es geht um Exzess und das Gefühl, ein Teil davon zu sein. Wenn schon nicht mitten im Auge des Sturms – dem Original –, dann doch wenigstens im Stammlokal, das für ein paar Tage Hendl brät statt Schnitzel.

 

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Zu wenige öffentliche Klos auf dem Gelände? Zur Seite stehen und laufen lassen, das machen sie in München doch auch so. Ein archaischer Selbstfindungstrip für Leute, die von Montag bis Freitag überkontrolliert leben.

Findige Gastronomen haben zielsicher erkannt, dass sie wochenlange kostenlose Werbung erhalten, wenn sie für einige Zeit zum „Oktoberfest“ mutieren. Maximilian Krah badet dort in Champagner? Ein Sicherheitsmann betatscht eine Besucherin? Die Maß ist dieses Jahr noch teurer als sonst schon? Die Schlagzeilen jagen sich, und ob sie nun gut (selten) oder schlecht (meistens) sind: Sie wirken.

Lasst uns feiern, ahnungslos

Wobei man fairerweise sagen muss, dass die Schweizer Kopien durchaus auch einen internationalen Anstrich haben. Denn ein großer Teil der Weißwurst-und-Bier-Schlepperinnen kommt aus dem Ausland. Es ist ein kleines Wunder, dass sich überhaupt genug temporäre Angestellte finden lassen, um einen Event dieser Art zu stemmen. Schweizer Restaurants ächzen unter Personalnot. In meinem bevorzugten Speiselokal an der Peripherie kellnert seit kurzem ein Mann aus Wien, angelockt durch eine europaweit ausgeschriebene Stellenanzeige.

Ein halbes Jahr nach der herbstlichen Bierorgie ist übrigens die nächste an der Reihe. Nicht ganz in derselben Massierung, aber doch da und dort zelebrieren Schweizer Lokale den irischen „St. Patrick’s Day“. Das Konzept bleibt dasselbe: Lasst uns feiern, ohne eine Ahnung zu haben, was wir da überhaupt genau feiern.

Anlass zu Kulturpessimismus

Um nun nicht zu wirken wie ein Spielverderber: Ich kann Weißwurst, Brezel, einem Hähnchen – und Bier sowieso – einiges abgewinnen, und wenn es der Wirtschaft nützt, umso besser. Aber ein Schuss Kulturpessimismus sei doch erlaubt.

Viele Wein- und Winzerfeste in der Schweiz kämpfen gegen mangelnde Aufmerksamkeit. Traditionelle Erntedankfeste fristen ein Nischendasein. Das sind Anlässe, die aus der eigenen Geschichte hervorgingen und heute kaum mehr elektrisieren. Da mutet der so erfolgreiche Import eines Trinkgelages, bei dem nichts an das eigene Land erinnert, seltsam an. Vor allem, wenn man als Volk sonst bei jeder Gelegenheit auf die Eigenständigkeit pocht und sich gern als anders als die anderen sieht.

Aber das sind Gedanken, die man im Notfall auch mit einer Maß herunterspülen kann. Und wir wissen: Letztlich hat der Markt immer recht.

 

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Kommentare

Kommentar
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Benjamin
Vor 1 Monat

Oktoberfeste? Bis hinauf ins obere Emmental - leider! Auch in Hasle, Wynigen anderswo steigt die blauweisse Sause :( Aber eigentlich hätten wir doch den Erntedank, die Brächete, die Sichlete und andere, regional verankerte Traditionsfeste. Zeit zum drüber nachdenken bleibt kaum, bald ist ja Halloween... Mein Tipp: Überall in den Dörfern gibt es auch die kleinen, unscheinbaren Feste, wie etwa der Raclette-Abend, der Dorfhöck oder der Buurezmorge der Trachtengruppe. Geht lieber dorthin. Auch dort wird gelacht, das Essen ist regional und meist besser. Und, ja, es gibt auch Bier :-)

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Benjamin
Vor 1 Monat

Oktoberfeste? Bis hinauf ins obere Emmental - leider! Auch in Hasle, Wynigen anderswo steigt die blauweisse Sause :( Aber eigentlich hätten wir doch den Erntedank, die Brächete, die Sichlete und andere, regional verankerte Traditionsfeste. Zeit zum drüber nachdenken bleibt kaum, bald ist ja Halloween... Mein Tipp: Überall in den Dörfern gibt es auch die kleinen, unscheinbaren Feste, wie etwa der Raclette-Abend, der Dorfhöck oder der Buurezmorge der Trachtengruppe. Geht lieber dorthin. Auch dort wird gelacht, das Essen ist regional und meist besser. Und, ja, es gibt auch Bier :-)