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Tagung der Gertrud von le Fort-Gesellschaft

Von einem Pfeil durchbohrt

Erzählungen lesen, Dichtung rezitieren, Texte analysieren. Erwachsene, Vielleser, Literaturkenner sitzen im Kreis und hören einander aufmerksam zu, wie einer nach dem anderen reihum Abschnitte aus einem Roman vorträgt, Sätzen lauschend wie: „Aber plötzlich war es, als würde das dunkle Geström, in das wir verspült waren, von einem Pfeil durchbohrt und stünde still: Etwas Strahlenhaftes drang in meine Augen. Eine Monstranz von unbegreiflicher Größe stand wie die Vision eines riesigen Sternes, mitten aus der Nacht emporgestiegen vor uns.“

Jenseits von schulischem Deutschunterricht oder universitärem Philologiestudium, nicht auf Punkte und Prüfungen hin orientiert, ganz freiwillig und ohne jede Nützlichkeitserwägung gehen sie Fragen nach wie etwa: Wie ist die Erzählperspektive? Welche sprachlichen Mittel erzeugen jene Atmosphäre? Durch was sind die Personen charakterisiert? Was erfahren wir über Tante Edelgart? In welchem Verhältnis stehen Erzählzeit und erzählte Zeit?

Es war eine schöne Fügung, dass kurz zuvor niemand Geringeres als Papst Franziskus „auf den Wert der Lektüre von Romanen und Gedichten auf dem Weg der persönlichen Reifung“ hingewiesen hatte und die „Liebe zum Lesen wiedererwecken“ wollte. In seinem Brief an alle Christen war es ihm darum zu tun, den Beitrag, den Literatur und Poesie für die Glaubensverkündigung leisten können, zu beschreiben – und zunächst die wohltuende Wirkung eines guten Buches in unserem Short-News-Zeitalter in Erinnerung zu rufen:

„Oft wird in der Langeweile des Urlaubs, in der Hitze und Einsamkeit verlassener Stadtviertel ein gutes Buch zu einer Oase, die uns von anderen Entscheidungen, die uns nicht guttun, abhält. Dann gibt es die Momente der Müdigkeit, des Ärgers, der Enttäuschung, des Scheiterns, und wenn es uns nicht einmal im Gebet gelingt, zur Ruhe zu kommen, dann hilft uns ein gutes Buch zumindest, den Sturm zu überstehen, bis wir ein wenig mehr Gelassenheit finden können. Und vielleicht eröffnet uns die Lektüre neue innere Räume, die uns helfen, uns nicht in jenen wenigen zwanghaften Ideen zu verschließen, die uns unerbittlich gefangen halten. Vor der Allgegenwart von Medien, sozialen Netzwerken, Mobiltelefonen und anderen Geräten war dies eine häufige Erfahrung, und diejenigen, die sie gemacht haben, wissen, wovon ich spreche. Das ist nicht etwas Überholtes.“

Und weil diese Erfahrung einer inneren Welt der Freiheit und „außerordentlichen Reichtums“, wie der Papst weiter schreibt, so stark war, kommen Menschen auch heute noch in Literaturhäusern und bei Lesungen zusammen und besprechen Romane, Novellen und Gedichte. Ganz absichtslos, wie nebenbei, wird so das kulturelle Erbe erhalten und erneuert.

Als altbacken, kirchentreu, vorkonziliar zum alten Eisen legen?

Um heute weitgehend vergessene Literatur ging es auf der Jahrestagung der Gertrud von le Fort-Gesellschaft, die diesmal in Passau zusammenkam. Vierzig Teilnehmer, die eine Hälfte Mitglieder der traditionsreichen Gesellschaft, in deren Vorsitz die Literaturwissenschaftlerin Gudrun Trausmuth bestätigt wurde, die andere Hälfte Gäste, Interessenten, Leseratten.

Zu dem Kreis der aus dem ganzen deutschen Sprachraum angereisten Leser gehörten weitläufige Verwandte der namengebenden Schriftstellerin, Menschen, die sie noch über die Schullektüre kennenlernten, ein angehender junger Zisterziensermönch, der in Heiligenkreuz studiert, ein Leser im 90. Lebensjahr, der es sich nicht hat nehmen lassen anzureisen sowie ein Südtiroler Finanzberater, der nach dem Tagewerk allabendlich Gertrud von le Fort liest, statt fernzusehen – und sich als wahrer Experte herausstellte. „Dies alles gibt es also“ – möchte man mit Ernst Jünger notieren; nein, nicht notieren, sondern erstaunt, freudig ausrufen, dass christliche Literatur noch so anziehend wirkt!

 

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Die bis zur Kulturrevolution von 1968 vielgelesene le Fort, deren Schaffen der europäischen religiösen Erneuerungsbewegung des „Renouveau catholique“ angehört – darf sie als altbacken, betulich, kirchentreu, vorkonziliar, erzkatholisch gelten? „Ich bin überzeugt, dass nichts davon zutrifft oder zutraf“, machte Andreas Matena in seinem expressis verbis provozierenden Vortrag deutlich.

Der Fundamentaltheologe von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Augsburg machte „Vereinnahmung und Vereinseitigung“ der Schriftstellerin verantwortlich dafür, dass le Fort zur Adenauerzeit Schullektüre war und weswegen „wir sie heute nicht mehr lesen wollen“. Nur, wenn le Fort Zukunftsweisendes enthalte, werde ihr Werk überleben. „Also: Wir müssen Fragen stellen, müssen prüfen, was trägt.“ Matena tue das als Theologe. „In keinem Fall“ wolle er von ihr mehr als „katholische Schriftstellerin“ lesen.

Auf Du und Du mit den Großen ihrer Zeit

Le Fort sei stark beeinflusst gewesen von ihrem Lehrer an der Universität, dem Religionsphilosophen Ernst Troeltsch, der „ein starkes Misstrauen gegen Strukturen und Dogmen“ gehegt habe – habe le Forts Werk nicht sehr in protestantischer Tradition gestanden? Jedenfalls müssten wir le Fort hinterfragen, „auch ihre Selbststilisierungen“.

Die 1876 im ostwestfälischen Minden geborene Gertrud von le Fort, Tochter eines preußischen Offiziers aus einem hugenottischen Adelsgeschlecht und einer pietistischen Mutter, konvertierte als Fünfzigjährige zur katholischen Kirche. Sie war mit den Liedern Paul Gerhardts aufgewachsen, und, so teilte die Präsidentin der Gesellschaft, Gudrun Trausmuth (Wien) mit, ihr streng protestantischer Vater habe den Kindern beigebracht, beim Anblick einer Fronleichnamsprozession vor dem Allerheiligsten niederzuknien. Etwas, das heute sogar im katholischen Polen für flanierende Passanten nicht mehr selbstverständlich ist.

Le Fort, die für das Maß selbst unserer Gegenwart viel reiste, stand in Kontakt mit den bekannten Persönlichkeiten ihrer Zeit: über Ernst Troeltsch traf sie Walter Rathenau („geistvoll und liebenswürdig“), begegnete Stefan George, die Bekanntschaft mit dem Jesuitenpater Erich Przywara hatte großen Einfluss auf ihre Konversion, Edith Stein, die auch zum katholischen Glauben konvertiert war, empfing sie im Kölner Karmel Maria vom Frieden, bei einem Besuch in Zürich nahm sie die Tochter des großen Schweizer Dichters Conrad Ferdinand Meyer in Kilchberg auf, sie korrespondierte mit Carl Zuckmayer, und gemeinsam mit Reinhold Schneider und Werner Bergengruen bildet die Freiin von le Fort das „Dreigestirn“ (Kampmann) der christlich-katholischen Inneren Emigration während der NS-Zeit.

Le Forts große „Verliebtheitserfahrung“

„Das Schweißtuch der Veronika“, der berühmteste Roman von Gertrud von le Fort

Nach dem Krieg besuchte sie Hermann Hesse im Tessin; dieser schlug sie 1949 für den Literaturnobelpreis vor, den er selbst 1946 erhalten hatte – le Fort sei „innerhalb des Hitlerschen Deutschland wohl die wertvollste, begnadetste Vertreterin der intellektuellen und religiösen Widerstandsbewegung“ gewesen. In schwerer Krankheit erhielt sie 1966 Besuch von Luise Rinser in ihrer Wahlheimat Oberstdorf, ebenso von Zuckmayer.

Den allvereinenden Überschwang des Zweiten Vaticanums hatte sie begrüßt, die liturgischen Verheerungen in dessen Folge aber nicht mehr miterlebt, sie, die bei einem frühen Aufenthalt in der Ewigen Stadt eine tiefe religiöse Erfahrung durch die Karmetten der römischen Kirche erfuhr. Le Fort starb 95-jährig in der Nacht vom evangelischen Reformationsfest zum katholischen Fest Allerheiligen 1971. 

Wer will, kann darin eine Symbolik für ein Leben sehen, das die konfessionelle Spaltung überwand. Noch in ihrer letzten Erzählung „Der Dom“ lässt sie ein Waisenkind sagen: „Für Gott gibt es nur die Seele, die ihn liebt!“

Die in diesem Jahr hundert Jahre alt gewordenen „Hymnen an die Kirche“ bildeten den eigentlichen Schwerpunkt dieser Tagung, wo im Jahr zuvor Gertrud von le Forts dem mittelalterlichen Reichsgedanken verpflichteten „Hymnen an Deutschland“ im Zentrum gestanden hatten. Dieser im Stil der Psalmen verfasste Gedichtzyklus um das Zwiegespräch einer Seele mit der Stimme der allgemeinen Kirche machte die Dichterin schlagartig bekannt, weil sie einen Nerv in der heil- und ordnungslosen Zeit nach dem Ersten Weltkrieg traf. 

Trausmuth nannte die Hymnen le Forts „Verliebtheitserfahrung“ kurz vor ihrer Konversion – die sie möglicherweise aus Rücksicht auf Troeltsch nicht schon eher vollzogen habe: „Gerade heute wirkt le Forts Sprechen zur und über die Kirche belebend, ja heilsam, weil es so völlig anders ist als der Kirchendiskurs, der uns in seiner Dürre oft so ernüchtert.“

„Auf mir ziehen die Jahrtausende zu Gott“

Einen Platz auch in Anthologien deutscher Dichtung hat die folgende Hymne gefunden aus dem Abschnitt „Heiligkeit der Kirche“: 

Deine Stimme spricht:

Ich habe noch Blumen aus der Wildnis im Arme, ich habe noch Tau in meinen Haaren aus Tälern der Menschenfrühe,

Ich habe noch Gebete, denen die Flur lauscht, ich weiß noch, wie man die Gewitter fromm macht und das Wasser segnet.

Ich trage noch im Schoße die Geheimnisse der Wüste, ich trage noch auf meinem Haupt das edle Gespinst grauer Denker,

Denn ich bin Mutter aller Kinder dieser Erde: was schmähest du mich, Welt, dass ich groß sein darf wie mein himmlischer Vater?

Siehe, in mir knien Völker, die lange dahin sind, und aus meiner Seele leuchten nach dem Ew’gen viele Heiden!

Ich war heimlich in den Tempeln ihrer Götter, ich war dunkel in den Sprüchen aller ihrer Weisen.

Ich war auf den Türmen ihrer Sternsucher, ich war bei den einsamen Frauen, auf die der Geist fiel.

Ich war die Sehnsucht aller Zeiten, ich war das Licht aller Zeiten, ich bin die Fülle der Zeiten.

Ich bin ihr großes Zusammen, ich bin ihr ewiges Einig.

Ich bin die Straße aller ihrer Straßen: auf mir ziehen die Jahrtausende zu Gott!

Über Aspekte einer anderen Liebeserfahrung sprach Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (Erlangen) anhand des Bildungsromans „Das Schweißtuch der Veronika“. Eine „Allerweltstheorie der Liebe“ wird im 2. Teil des Romans in der Gestalt der – kinderlosen! – Frau Seide kurz verhandelt, einer Liebe, die gar keine Riten brauche. 

Der Nachkriegsroman von 1946 um die Liebe zwischen der Katholikin Veronika und dem Gottesverächter Enzio brachte le Fort seinerzeit den Vorwurf ein, sie habe das katholische Eheverständnis nicht adäquat dargestellt, und führte zu einer heftigen Debatte, die schon damals verschiedene Fronten freilegte.

Gerl-Falkovitz’ Vortrag über „Ordnung oder Liebe? Kirche bei Gertrud von le Fort“ war hier, bei der Frage, ob Einzelne wie die Romanfigur Veronika sich über die Ordnung hinwegsetzen können, mitten in unserer Gegenwart des 21. Jahrhunderts angekommen. Denn jegliches Begehren, ob hetero, homo, poly, etc. pp. gilt heute als einwandfrei.

„Liebe hat mit Leib zu tun“

„Dazu eine grundsätzliche Überlegung“, so die Religionsphilosophin: „Bedingungslose Liebe – und hier kommt mein Fragezeichen. Ist, wer liebt, immer schon gerechtfertigt?“ Diese These erhalte heute ja fast keinen Widerspruch mehr. Auch Gott sei barmherzig, „zärtlich“, er habe „Judas vom Baum geholt“, und die Hölle sei leer: „Alles in Predigten, denen man nicht gegenreden kann.“ Man merkte der Rednerin an, dass sie diese Tatsache wurmte. Das Publikum quittierte es mit Schmunzeln.

Der „Bezugspunkt auch der Liebe wie aller Dynamiken ist die Wahrheit! Die Wahrheit kommt vor der Liebe!“, unterstrich Gerl-Falkovitz. Primat meine hier nicht im Rang, aber in der Reihenfolge. Lieben und Wollen seien an eine primäre Ordnung gebunden, „nämlich die Wahrheit“, den Logos der Wirklichkeit.

Das Ethos der Kirche bei der leiblichen Liebe sei immer streng gewesen; heute erfahre es Lockerungen, „aber auch nur in unseren Breiten“. Könne Kirche alles segnen, was irgendwie mit Liebe zusammenhängt? „Ist lieben immer schon seine eigene Rechtfertigung? Die Frage ist ganz ernst!“ Werde diese Frage nicht beantwortet, komme es zu Überhöhungen der Liebe, die in der Ausschaltung des Leibes gipfelten. „Liebe hat mit Leib zu tun, mit Leben. Ist uns eine Ordnung der Liebe auf den Leib geschrieben? Fragezeichen!“

Ohne jede Frage hingegen konnte Gerl-Falkovitz, die Vize-Präsidentin der Gesellschaft, schließen: „Le Fort hat wirklich eine Menge Pulver!“

 

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Kommentare

Kommentar
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Felicitas J.
Vor 1 Monat 4 Wochen

Vielen Dank für diesen wohltuenden Beitrag! - Einfach eine Freude das zu lesen und dass es diese Orte und "Nischen" des Lesens und Nachdenkens gibt.

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Felicitas J.
Vor 1 Monat 4 Wochen

Vielen Dank für diesen wohltuenden Beitrag! - Einfach eine Freude das zu lesen und dass es diese Orte und "Nischen" des Lesens und Nachdenkens gibt.