Kinderliteratur? Widerstandsliteratur!
Michael Ende schrieb einmal, dass jedes echte Buch in gewissem Sinne eine „Unendliche Geschichte“ sein könne. Gemeint ist damit zweifellos, dass ein solches „Buch der Bücher“ dem Leser zwei Gelegenheiten bieten muss: Zum einen muss es eine Welt erschaffen, die so komplex und gleichzeitig metaphysisch ist, dass man sich ganz in ihrer Unendlichkeit zu verlieren vermag und sich die Grenzen zwischen bloß mechanischer, rein mentaler Leseerfahrung und einer gewissen absoluten, äußeren „Echtheit“ verwischen; zum anderen ist eine Geschichte nur dann im wahren Sinne „unendlich“, wenn sie ihrem Leser die Möglichkeit bietet, an und mit ihr zu wachsen – und nicht nur einmal, sondern wiederholt, bei jedem neuen Lesen.
Tolkiens gewaltiger mythopoetischer Sagenteppich, dessen vielbeschworener „Herr der Ringe“ eigentlich nur die Spitze des Eisbergs darstellt, entspricht diesen Anforderungen zweifellos in grandioser Weise – und erheblich mehr als das.
Denn hinter den zahllosen Sagen der drei Zeitalter Mittelerdes steht ein ganzes Lebenswerk, dessen eigentliche Essenz in ihrer Unabgeschlossenheit und ihrer selbst für den Autor unauslotbaren Tiefe liegt: Die Welt Ardas ist weniger ein zur Publikation bestimmtes „Werk“ als vielmehr die Gesamtheit der zahllosen Forschungsreisen, welche Tolkien wieder und wieder durch jene Sekundärschöpfung unternahm, die sich, wie jede echte Schöpfung, gewissermaßen als „größer“ als ihr Schöpfer erwies, weil es ihr gelang, ein wenig an jenem Unendlichen teilzuhaben, das wir nur durch die Vermittlung jener „ever-present Person who is never absent and never named“ wahrnehmen können, wie Tolkien in seinen Briefen (Nr. 192) einmal schrieb.
Ein bloßes „Kinderbuch“? Weit gefehlt …
Dies erklärt aber auch, wieso Tolkiens Werk gleichzeitig ein Katalysator für das innere Wachstum nicht nur seines Autors, sondern auch seiner Leser ist: Nur wenige, die sich in die Geschichte Mittelerdes vertiefen und mit der Fähigkeit gesegnet sind, die aufgenommenen Bilder sich auch innerlich anzuverwandeln, können sich der Konsequenz entziehen, dass die zahllosen archetypischen Legenden der drei Zeitalter allmählich in ihrem Unterbewusstsein Wurzeln fassen und zu einem regelmäßigen Vergleichsmaßstab des eigenen seelischen Wachsens werden, so dass schließlich ihr gesamtes Leben unter den Bann Mittelerdes gerät.
Von all diesen Erkenntnissen war ich freilich noch weit entfernt, als ich schon in kindlichem Alter durch die Lektüre des „Hobbits“ erstmals mit Tolkien vertraut wurde, wenn auch noch ohne unmittelbare Folgen. Ein bloßes „Kinderbuch“, so nahm ich das Büchlein damals altklug und unbedarft wahr, und gab dem als „realer“ und „erwachsener“ empfundenen Karl May deutlich den Vorzug. […]
Einige Jahre später geschah es dann: Bei einem Gang durch die „Mayer’sche Buchhandlung“ in Aachen kauften meine Eltern mir die „grüne“, im Kartonschuber zusammengefasste Ausgabe des „Herrn der Ringe“, die ich mit wachsender Begeisterung las – und es war rasch um mich geschehen. Den „Hobbit“ sah ich daraufhin in völlig neuem Licht, und ein Exemplar des „Silmarillions“ musste unverzüglich angeschafft werden und wurde ebenso rasch verschlungen. In kürzester Zeit glaubte ich, mir die Welt Mittelerdes einverleibt zu haben, und doch war ich selbst es, der – bis heute – in sie eingegangen war, ohne dies je bereut zu haben.
Mein Schreibtisch – ein Altar, meine Handschrift – elbisch verschnörkelt
Die folgenden Jahre – „damals“, in der grauen Frühzeit der 1990er, noch ganz ohne Amazon und Internet – standen unter dem Zeichen des verzweifelten Versuchs, möglichst alle weiteren verstreuten Schriften Tolkiens ausfindig zu machen und zu erwerben. Kaum ein Besuch in der englischen Buchhandlung Brüssels – das geographisch nächstgelegene Tor zur englischen Geisteswelt – verging ohne die Anschaffung eines weiteren Bandes von Christopher Tolkiens „History of Middle Earth“ (dessen Lektüre mir allerdings ebenso aufgrund noch sehr rudimentärer Englischkenntnisse wie auch der fragmentarischen Natur dieser Sammlung große Schwierigkeiten bereitete), eines neuen „Tolkien-Kalenders“ oder eines neuen Bildbandes mit Fan-Art; und der Schreibtisch meines damaligen Schlafzimmers wurde zu einer Art Altar, auf dem ich stolz meine Schätze ausbreitete und meist verständnislosen Schulkameraden vorführte.
Ich trat auch in Austausch mit der deutschen „Inklings-Gesellschaft“, doch überstieg deren Interesse an Tolkiens Mitstreitern und Zeitgenossen letztlich meinen damaligen Horizont, der an Fantasy, nicht Literatur oder gar Theologie interessiert war. Selbst meine Handschrift durchlief eine dramatische Transformation: Tolkiens „Elbenschrift“ rannte die ohnehin offene Tür meiner Liebe zu fremden Alphabeten ein, und so erlangte ich rasch große Fertigkeit darin, kurze Unterrichtsnotizen vielmehr in feanorischen als lateinischen Buchstaben anzufertigen und selbst meine eigene Handschrift durch schwungvolle Schleifen „elbisch“ umzuformen – zum großen Leidwesen meiner Lehrer, die sich vorher über meine hässliche, nunmehr aber meine allzu ästhetisierende, in beiden Fällen natürlich völlig unlesbare Handschrift beklagten.
Dann wurde es wieder still um Tolkien: Zwar schaute ich mit wachsender Begeisterung, aber auch einigen kleineren Reserven die Peter-Jackson-Verfilmungen (Wo waren der Alte Wald, Tom Bombadil und vor allem die Säuberung des Auenlandes geblieben?), Mittelerde trat aber während meiner Studienzeit ein wenig in den Hintergrund meiner Interessen, die sich vor allem auf den Bereich der Alten Geschichte und der Kulturkomparatistik verlagert hatten.
Drei Marksteine auf meinem (Rück-)Weg ins Christentum
Eigentlich war es erst während der schweren Jahre an der Universität Brüssel, als mein Buch „Auf dem Weg ins Imperium“ mich unter den größtenteils offen antichristlich und linksliberal eingestellten Kollegen zunehmend zur persona non grata machte, dass ich Tolkien (wieder)entdeckte, und zwar an der Arbeit zu meinem Buch „Was tun?“, in dem ich versucht hatte – eher für mich selbst als für potentielle Leser, auf die ich gar nicht zu hoffen wagte –, die Grundlinien eines konservativen, abendlandpatriotischen Lebensstils zu skizzieren, der es ermöglichen sollte, auch heute, inmitten von Verrat und Verfall, weiterhin dem Wahren, Schönen und Guten treuzubleiben.
Zwar hatte ich auch in der Zwischenzeit regelmäßig, also eigentlich jedes Jahr, den „Herrn der Ringe“ und das „Silmarillion“ neu gelesen und oft auch auf den langen Autofahrten nach Brüssel als Hörbuch angehört, aber erst meine konservative „Selbstfindung“ eröffnete mir eine neue Dimension des Werkes: zum einen als eine Art Widerstandsliteratur, zum anderen als ein Schritt weg vom Spengler’schen Relativismus hin zu einem christlich fundierten moralischen Absolutismus.
Es ist daher wohl kaum übertrieben zu sagen, wenn ich neben Martin Mosebachs „Häresie der Formlosigkeit“ und Ratzingers „Einführung in das Christentum“ Tolkiens Werk – und zwar eher noch das „Silmarillion“ als den „Herrn der Ringe“ – als die drei ersten Marksteine auf meinem (Rück-)Weg ins Christentum bezeichne.
Der Schöpfungsprozess als Verwirklichung einer Vision
Und noch ein weiterer, von mir bislang ignorierter Aspekt wurde mir dank der Beschäftigung mit Tolkiens kreativem Prozess zunehmend deutlich, je mehr ich mich im Rahmen meines aufkeimenden Interesses für das, was C. G. Jung einmal „aktive Imagination“ genannt hat, mit visionären Techniken verschiedenster Zivilisationen auseinandersetzte: Nämlich dass Tolkien die schon fast monomanisch jahrzehntelang immer wieder umgeschriebenen und ausgefeilten Geschichten seines Legendariums nicht „einfach nur so“, also gewissermaßen aus ästhetischer Selbstbespiegelung, verfasste, sondern den Schöpfungsprozess explizit als Verwirklichung einer Vision betrachtete, die ihm im tiefsten Wortsinne „wahr“ erschien (doch dazu gleich mehr).
Daran schloss sich auch das verstärkte Interesse am biographischen Hintergrund Mittelerdes, denn wenn es bislang die „Geschichten“ waren, nicht die eigentlich eher unspektakuläre Vita ihres Autors, war es nunmehr zunehmend der eigentliche Schöpfungsprozess, der mein Interesse weckte und meine Lektüre der Sekundärliteratur steuerte: Nicht mehr Mittelerde „trotz“ Tolkien, sondern gerade „wegen“ Tolkien.
Je mehr ich mich in meinen eigenen Publikationen zu Fragen der modernen Kulturkritik äußerte und die Kraft zum Widerstand gegen die gegenwärtige, gewissermaßen post-abendländische Mehrheitsgesellschaft aus der Heroik der Tolkienʼschen Figuren schöpfte, desto mehr wurde mir auch ganz explizit bewusst, wie unzeitgemäß sich bereits Tolkien selbst in seinem Briefverkehr empfunden hatte, dessen Äußerungen zur damaligen politischen und kulturellen Situation seiner eigenen Lebenszeit ihn wohl heute, würde er sie lediglich wortwörtlich wiederholen, in kürzester Zeit Lehrstuhl und soziales Ansehen kosten würden.
David Engels (Hrsg.), Aurë entuluva! – Der Tag soll wieder kommen: J.R.R. Tolkien zum 50. Todestag, Renovamen-Verlag, Bad Schmiedeberg 2023, 19,95 Eur. Adaptierter Auszug aus „Ein Leben mit Mittelerde“, S. 13-18.
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