Wilhelm Tell oder Nemo?
„Ungeliebter Geburtstag“: Das war der Titel dieser Kolumne vor einem Jahr, als sie exakt auf den 1. August fiel, den Nationalfeiertag der Schweiz. Es ging um die Frage, weshalb sich die Schweizer so schwertun, sich selbst und ihre Heimat zu feiern. Warum zwar viel Geld in Feuerwerk fließt, das am Abend den Himmel funkeln lässt, aber die Mehrheit der Festansprachen so klingt wie eine Grabrede.
Ein Jahr später: Ist das noch immer so? Natürlich. Vielleicht sogar ausgeprägter, wie eine kleine Medienschau zeigt. In der Disziplin der Selbstzerfleischung bleibt die Schweiz olympiareif.
Es beginnt mit dem Datum. Der 1. August ist als Feiertag erwiesenermaßen ein Zufallsprodukt. Das liegt auch daran, dass Ereignisse im 13. Jahrhundert nicht so lückenlos dokumentiert waren wie im digitalen Zeitalter. Man weiß, dass im Jahr 1291 drei Talgemeinschaften ein Bündnis schlossen, das eine Art Vorstufe zur modernen Schweiz knapp 600 Jahre später bildete. Irgendwann Anfang August soll sich das Trüppchen getroffen haben. Nun hat man eben den 1. August definiert.
Manche Medien sind über alle Maßen irritiert
Ist das so wichtig? Das Datum ist doch hübsch gewählt. Nur die Schweiz ist in der Lage, über so etwas zu debattieren statt ausgelassen zu feiern. Die Neue Zürcher Zeitung liefert eine Übersicht über „Ereignisse, die an diesem Datum wirklich passiert sind“ – wohl um den Geburtstag des Landes zu verzwergen. Der Zusammenschluss einiger lokaler Fußballvereine zum FC Zürich im Jahr 1896 ist ja auch weit wichtiger.
Bei der Nationalfeier im Kanton Basel-Stadt am Rhein war die bedeutsamste Frage für die Organisatoren: Wie schaffen wir es, dass mehr als 50 Prozent der Verpflegungsstände ein rein vegetarisches Angebot haben? Denn feiern hin, jubeln her: Es soll doch klimafreundlich sein. Dafür darf man dann auch eine Quote einführen, die mit der Realität nichts zu tun hat. 2022 aßen in der Schweiz rund fünf Prozent der Bevölkerung rein vegetarisch. 50 Prozent der Verpflegung für fünf Prozent der Besucher: Die hatten dann wohl die Qual der Wahl.
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Der Tages-Anzeiger lässt einen Mitarbeiter aus Österreich seine Eindrücke von einer 1.-August-Feier schildern. Der ist über alle Maßen irritiert, als er zum ersten Mal den „Schweizer Psalm“, die Landeshymne, hört. Sein Befund: Der Text sei „aus der Zeit gefallen, dreht sich doch alles um Gott“. Seit 2022 arbeitet der Reporter in seiner Wahlheimat Zürich und fragt nun ganz ernsthaft: „Die Schweiz, ein Gottesstaat?“ Man kann nur hoffen, dass dem Mann nie die Bundesverfassung in die Hände fällt. Die beginnt nämlich mit den Worten: „Im Namen Gottes des Allmächtigen“. Und vielleicht sollte der Journalist mal einen richtigen „Gottesstaat“ besuchen und Vergleiche zur Schweiz anstellen.
Woher rührt das Erfolgsmodell Schweiz?
Besonders originell: Wenn Medien so tun, als würde die Schweiz am 1. August jeweils in historischer Selbstbeweihräucherung abgefeiert, und sie müssten nun Gegensteuer dazu geben. In den Zeitungen des Regionalverlags CH Media beklagt eine Kommentatorin, an diesem Tag herrsche „ein verklärter Blick auf die Vergangenheit“ vor. Wo bitte hat sie das gehört? Oder besser: wann letztmals? In den 90ern?
Weil aber laut ihr sämtliche Reden nur aus „Apfelschuss, Alpenvolk, Vaterland, Sonderfall“ bestehen, sagt sie den Lesern, was wir stattdessen feiern sollen. Das nonbinäre Bühnengeschöpf Nemo beispielsweise, den väterlicherseits aus Nigeria stammenden Fußballer Manuel Akanji oder den Leichtathleten Dominic Lobalu mit Wurzeln im Sudan. Denn: „Die Schweiz ist vielfältig.“
Wer hat denn je etwas anderes behauptet? Aber spricht dies dagegen, vom „Vaterland“ zu sprechen oder über den „Sonderfall Schweiz“, der uns Wohlstand und Sicherheit gebracht hat? Nemo, Sieger des Eurovision Song Contest, grinst uns täglich aus irgendeiner Zeitung an. Akanji hatte an der Fußball-EM seine große Bühne. Nichts gegen diese Leute, aber will man uns ernsthaft sagen, dass das Erfolgsmodell der Schweiz auf einem fiktiven dritten Geschlecht oder Fußballern mit Migrationshintergrund beruht?
Offenbar. Denn weiter schreibt die Journalistin: „Ich für meinen Teil wünsche mir eine moderne Schweiz, die sich nicht hinter einer verklärten Vergangenheit versteckt. Eine Schweiz, die ihre Vielfalt feiert und ihre internationale Verflechtung und Beziehungen weiter knüpft.“
Wer seine Ursprünge vergisst
Das darf sie. Ich hingegen wünsche mir eine Schweiz, die überhaupt nichts verklärt, sondern offen zu ihrer Geschichte steht, aus dieser lernt und mutig an dem festhält, was funktioniert – und anderes ebenso mutig verändert. Die Vielfalt im Sinn des bunten Nationenmix beispielsweise mag auf dem Fußballplatz funktionieren. In den Schulen tut sie es leider schon lange nicht mehr.
Was die heutigen Kommentatoren tun, ist – auch wenn sie es selbst nicht bemerken – ebenfalls eine „Verklärung“. Aber nicht die der alten Werte, sondern von all dem, was an diesen rüttelt. Man muss am 1. August nicht eine Stunde lang über Wilhelm Tell sprechen.
Aber die Sage über ihn dürfte die Schweiz weit mehr und weit nachhaltiger geprägt haben als singende Männer in Röcken. Wer seine Ursprünge vergisst und nur noch Augen für wahnhafte Zeitgeisterscheinungen hat, verliert seine Zukunft.
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