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Reaktionen auf Trump-Attentat

Die offene Gesellschaft und ihre Freunde

Hannah Arendt beharrte vor 60 Jahren gegenüber Günter Gaus: „Ich gehöre nicht in den Kreis der Philosophen.“ Es war eines der geistreichsten Interviews, die jemals in deutscher Sprache geführt und gesendet wurden. Vielleicht ahnte die politische Theoretikerin Arendt bereits damals, welche populären Verrenkungen und Verkürzungen den Philosophen ihrer Zeit viele Jahrzehnte später angetan werden würden. 

Immerhin hatte sie durch die Kontroverse um ihren Titel „Die Banalität des Bösen“ bereits Erfahrungen mit jener lautstarken, öffentlichen Missinterpretation gemacht, die zwangsläufig auf das Fehlen von Lesebereitschaft und -verständnis folgen muss. Das in diesem Sinne prominenteste Opfer der Gegenwart ist der Philosoph Sir Karl Popper. Nicht er persönlich – seine Urne wurde vor 30 Jahren auf dem Lainzer Friedhof in Wien beigesetzt –, aber doch sein Werk. 

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In den Anmerkungen zum ersten Band seines Opus magnum „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ stellt Popper das „Paradox der Toleranz“ vor. Sollte manchem Leser der Kern dieses Paradoxons im Stress des Alltags für einen Moment entfallen sein, darf ich an dieser Stelle eine kurze Erinnerung reichen: Das Toleranz-Paradoxon nach Popper besagt, uneingeschränkte Toleranz müsse notwendigerweise zu deren Verschwinden führen. Wenn die unbeschränkte Toleranz auch auf die Intoleranten ausgedehnt und eine tolerante Gesellschaftsordnung nicht gegen die Angriffe der Intoleranz verteidigt werde, dann würden die Toleranten und mit ihr die Toleranz vernichtet.

Popper ist nicht Verteidiger, sondern Spielverderber des Lynchmobs

Heute ist das „Paradox der Toleranz“ fester Bestandteil jedes humanistischen Waffenarsenals und fungiert in sozialmedialen Meinungsgefechten als ultimativer Joker. Bei einer Partie Monopoly wäre es die „Gehen Sie ins Gefängnis“-Karte und bei einer Partie Uno die „+4“.

Seinen jüngsten Waffengang bestritt das Toleranz-Paradoxon nach dem Attentat auf den früheren US-Präsidenten und republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald J. Trump. Mal mehr, mal weniger offen taten einflussreiche Persönlichkeiten der deutschen Politik- und Medienlandschaft ihr Missfallen über die lediglich leichte Verletzung des 78-Jährigen kund.

Sie wähnten sich dabei im Einklang mit der Lehre Poppers oder aber gleich mit der Mehrheit der griechischen Philosophen der Spätantike und deren Loblied auf den Tyrannenmord. Ein Blick in Poppers Schriften zeigt: Er wirbt tatsächlich dafür, das Recht in Anspruch zu nehmen, die Intoleranten „wenn nötig, mit Gewalt zu unterdrücken“. Doch wie das mit Zitaten aus umfangreichen Werken eben so ist, gehen ihnen meist zahlreiche Sätze voraus und ebenso viele folgen nach. 

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Popper wird nämlich zum Spielverderber des Lynchmobs, indem er Vorbedingungen aufstellt, die erfüllt sein müssen, damit jemand als „intolerant“ gelten kann und eine Gewaltanwendung legitim ist. Intoleranz sei nämlich nur dann mit Gewalt zu unterdrücken, wenn ihre Vertreter nicht bereit seien, „mit uns auf der Ebene rationaler Diskussion zusammenzutreffen“ oder dazu übergingen, „Argumente mit Fäusten und Pistolen zu beantworten“. 

Poppers Definition von Intoleranz zielt also nicht in erster Linie auf Meinungsverschiedenheiten in Sachfragen, sondern auf den Umgang damit sowie auf die Einstellung zur toleranten Gesellschaftsordnung als solcher. Wer mir in diesem Punkt nicht zustimmt, möge sich überlegen, wie Karl Popper, geboren 1902, den bei Berufstoleranten der Gegenwart beliebten Thesensatz und ideologischen Lackmustest „Es gibt mehr als zwei Geschlechter“ beantwortet hätte.

Werden die Attentats-Verharmloser Poppers Toleranzgebot gerecht?

Karl Popper, 1990

Im Fall von Donald Trump kann man nun vortrefflich darüber diskutieren, inwiefern er eines oder beide der zwei Intoleranzmerkmale nach Popper erfüllt oder nicht. Fakt ist: Die USA sind auch nach vier Jahren seiner Präsidentschaft immer noch eine Demokratie und keine Diktatur. An der realen und verfassungskonformen Übergabe der Macht nach seiner Wahlniederlage 2020 haben auch die Ereignisse des 6. Januar 2021 nichts geändert. 

Bei seinem Streben nach einer Wiederwahl beteiligt sich Trump derweil an allen demokratischen und verfassungsgemäßen Gepflogenheiten und Prozessen. 

Das alles kann (und muss) man als grundsätzliche Selbstverständlichkeit ansehen, aber bei der Beurteilung, ob es sich bei einem Menschen um einen Tyrannen handelt oder nicht, wird es naturgemäß sehr schnell grundsätzlich.

 

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Mit Blick auf die gewaltverharmlosenden und teils auch -verherrlichenden Ausritte deutscher Medienschaffender stellt sich also die Frage, ob sie selbst dem Toleranzgebot nach Popper gerecht werden, als dessen Hüter und Bewahrer sie sich allzu gerne inszenieren, oder ob sie vielmehr ein Teil von jener Kraft sind, die stets das Gute will und stets das Böse schafft.

Sie begreifen Diskurs als Verzögerung auf dem Weg zur einzigen Wahrheit

Dank X (Twitter) sind in anekdotischer Evidenz mindestens hunderte Äußerungen turbotoleranter Meinungsmacher belegt, laut denen bei emotionsbeladenen Themen wie der Verkehrswende, der Energiewende, der Migrationspolitik, der Europäischen Union oder der Alternative für Deutschland möglichst kein komplexer demokratischer Diskurs anzustreben, sondern Marschbereitschaft herzustellen ist.

Wer sich jedoch der demokratischen Zusammenkunft nach Popper von vorneherein verweigert, weil er kontroverse Diskursprozesse nur als lästige Verzögerungskämpfe auf dem Weg zur einzigen Wahrheit begreift – in deren Besitz sie sich selbstverständlich wähnen –, muss damit rechnen, selbst nicht mehr zu den Freunden der offenen Gesellschaft gezählt zu werden. 

Argumentative Faulheit und demokratiepolitische Arbeitsscheue sind jedenfalls keine validen Gründe zur Bemühung des Toleranz-Paradoxons. Ich habe nachgelesen.

 

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Kommentar
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Ein Leser
Vor 2 Monate 4 Wochen

„Mal mehr, mal weniger offen taten einflussreiche Persönlichkeiten der deutschen Politik- und Medienlandschaft ihr Missfallen über die lediglich leichte Verletzung des 78-Jährigen kund.“

Wer äußerte sich so über das abscheuliche Attentat?

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Isabella Gruber
Vor 2 Monate 4 Wochen

Wer? Auf X finden Sie solche Äußerungen zur Genüge!

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#freehotzo
Vor 2 Monate 4 Wochen

Sebastian Hotz hat recht und hat es nicht verdient gecancelt zu werden.

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Andreas Graf
Vor 2 Monate 4 Wochen

Donald Trump ist der Präsidentschaftskandidat des Himmels. Er wurde von der Muttergottes beschützt, weshalb die Kugel das Ziel verfehlte. Gegen den Willen Gottes ist das Böse machtlos. Übrigens, auch hier gilt das goldene Wort: Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Das sollte auch ein Hotz bedenken. Er kann selbst schneller in der Grube sein, als er denkt, der aufgeblasene Lümmel.

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Andreas Graf
Vor 2 Monate 4 Wochen

Seit der Corona-Pandemie ist nichts mehr so wie es war. Das war eine Zäsur. Wir werden noch viele Überraschungen erleben, die rational/philosophisch nicht erklärbar sind, eben weil ideologisch denkende Menschen im Hintergrund die Geschicke lenken und steuern.

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Ein Leser
Vor 2 Monate 4 Wochen

„Mal mehr, mal weniger offen taten einflussreiche Persönlichkeiten der deutschen Politik- und Medienlandschaft ihr Missfallen über die lediglich leichte Verletzung des 78-Jährigen kund.“

Wer äußerte sich so über das abscheuliche Attentat?

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Veritas
Vor 2 Monate 4 Wochen

Wenn Sie auf den "X"-Eintrag klicken, dann kommen Sie zu einer ganzen Sammlung: https://x.com/derWillacker/status/1812426999987622121

Und bestimmt waren das nicht alle.

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Isabella Gruber
Vor 2 Monate 4 Wochen

Wer? Auf X finden Sie solche Äußerungen zur Genüge!