Das Naturrecht als Ausweg aus der moralischen Krise
Die Rolle der Moral im öffentlichen Diskurs ist zwiespältig. Einerseits ist zu beobachten, wie nahezu alle Lebensbereiche hypermoralisch aufgeladen werden – man denke nur an die Überfrachtung sportlicher Großereignisse wie der Fußballweltmeisterschaft in Katar mit „unseren Werten“. Andererseits greift ein Relativismus um sich, der nur einen höchst volatilen und daher untauglichen moralischen Maßstab kennt, nämlich die Lust und Laune des Einzelnen: Solange alle Beteiligten zustimmen, scheint alles erlaubt.
Einen Ausweg aus dem ethischen Irrgarten, in dem sich die westlichen Gesellschaften verlaufen haben, bietet das Naturrecht. Die Überzeugung, es gebe ein objektiv und universell gültiges Naturrecht, hat die Geschichte der Ethik über Jahrhunderte geprägt, bevor im Zuge der Aufklärung der Begriff des Naturrechts durch die Rede von Autonomie und Selbstbestimmung verdrängt wurde. Allmählich wird aber deutlich, welche Lücke das Verschwinden des Naturrechtsdenkens in der Ethik hinterlassen hat.
Zu dieser Einsicht dürfte in Deutschland vor allem auch die vielbeachtete Rede von Papst Benedikt XVI. vor dem Bundestag am 22. September 2011 beigetragen haben. Denn das Naturrecht ist, wie Benedikt betonte, eben kein katholischer Sonderweg, der gesamtgesellschaftlich ungangbar geworden wäre, sondern vielmehr der Königsweg, wenn wir etwa den Machbarkeitsphantasien des Transhumanismus und dem gefährlichen Irrglauben, der Mensch könne und dürfe sich und seine Umwelt beliebig formen, ethisch etwas entgegensetzen wollen.
Es ist gut, gemäß der eigenen Natur zu leben
Allerdings ist uns der Ausdruck „Naturrecht“ fremd geworden, und wir müssen uns erst wieder vergewissern, was er zu bedeuten hat. Zunächst einmal könnte es so scheinen, als seien „Natur“ und „Recht“ zwei gänzlich voneinander geschiedene Bereiche: Die Natur ist das, was die gänzlich wertfreien Naturwissenschaften untersuchen, und das Recht ist eine menschliche Institution, die das gesellschaftliche Zusammenleben regeln soll.
Selbst wenn man die Rede vom Recht grundlegender versteht, nämlich im Sinne des moralisch Richtigen, das unabhängig von der konkreten Gesetzgebungslage existiert, scheint klar: Natur und Recht, Natur und Moral, haben nichts miteinander zu tun. Ja, die Rede von einem Naturrecht erscheint geradezu als ein Paradebeispiel für einen Fehlschluss vom Sein auf das Sollen: Aus der Tatsache, dass es ein Verhalten in der Natur gibt oder nicht gibt, folgt nicht, dass es dieses Verhalten auch geben soll oder nicht geben soll. Nur weil es gerade regnet, heißt schließlich nicht, dass es auch regnen soll.
Der Schein trügt jedoch. Der Begriff der Natur meint im Rahmen des Naturrechts nämlich vor allem das Wesen, die Essenz von etwas. In diesem Sinne wird auch im Alltag ganz selbstverständlich davon gesprochen, etwas läge in der Natur einer Sache. So liegt es etwa in der Natur der Katze, Mäuse zu fangen. Wenn wir uns aber in diesem Sinne auf die Natur oder das Wesen einer Sache beziehen, dann beschreiben wir nicht nur wertfrei, sondern treffen zugleich ein Urteil darüber, was gut oder gedeihlich für ein Lebewesen ist.
So sehr uns die Maus auch leidtun mag, müssen wir anerkennen, dass es für die Katze gut und richtig ist, ihrem Jagdtrieb nachzugehen. In diesem Sinne kritisieren wir etwa auch bestimmte Formen der Tierhaltung als nicht artgerecht. Wer also schon einmal im Supermarkt aus ethischen Gründen zu den teureren Eiern von Freilandhühnern gegriffen hat, hat sich damit, wenn auch vermutlich unbewusst, einen Grundgedanken des Naturrechts zu eigen gemacht, nämlich dass es gut ist, gemäß der eigenen Natur zu leben.
Zu unserer Natur gehört es, nicht unseren Trieben ausgeliefert zu sein
Auch der Mensch ist freilich ein Lebewesen, weshalb für ihn ebenfalls bestimmte Dinge zweckmäßig und gut, andere wiederum unzweckmäßig und schlecht sind. Das Besondere am Menschen im Vergleich zu Tieren und Pflanzen ist jedoch, dass auch die Vernunft zu seiner Natur, zu seinem Wesen, gehört. Das heißt konkret: Er kann über sich selbst und die Welt, in die er eingebettet ist, nachdenken, beides erkennen und aus Gründen handeln.
Weil er ein rationales Lebewesen ist, gehört es – so paradox es klingen mag – gerade zur Natur des Menschen, nicht seiner unmittelbaren Natur, das heißt seinen Trieben und Affekten, ausgeliefert zu sein. Stattdessen ist er in der Lage, sie auf vernünftige, zweckmäßige Weise zu ordnen. Dass es hier überhaupt etwas zu ordnen gibt und dass es dazu auch einiger Anstrengung bedarf, liegt daran, dass sich unsere sinnlichen Antriebe verselbständigen können. Dann besteht die Gefahr, dass sie nicht mehr ihrem eigentlichen Zweck, sondern sogar dem Gegenteil dienen.
Denken wir beispielsweise an die Freude, die darin besteht, etwas Schmackhaftes zu sich zu nehmen und dadurch seinen Hunger zu stillen. Gegen Gaumenfreuden ist ethisch überhaupt nichts einzuwenden – zumindest, solange die kulinarische Lust nicht allbestimmend und dadurch exzessiv wird. Denn wer aus bloßer Genusssucht heraus isst und isst und isst, ob er nun Hunger hat oder nicht, der konterkariert den primären Zweck der Nahrungsaufnahme: Wer sich regelmäßig der Völlerei hingibt, gefährdet dadurch genau jene Zwecke, die das Essen in erster Linie erfüllen soll, nämlich am Leben und gesund zu bleiben.
Nebenbei gesagt ist Gesundheit zweifelsohne ein hohes Gut, aber sicher nicht das höchste im Leben des Menschen. Schließlich stellt sich, auch wenn wir körperlich und geistig gesund sind, die allesentscheidende Frage, was wir mit unserer Lebenszeit anfangen sollen. Nun, naturrechtlich gesehen lautet die Antwort, dass wir sie für die höheren Zwecke verwenden sollen, die uns als Menschen auszeichnen, wie zum Beispiel uns am Schönen zu erfreuen oder nach Erkenntnis und Wahrheit zu streben.
Der Lasterhafte verliert sich im emotionalen Chaos
Wie am einfachen Beispiel des Essens ersichtlich wird, gibt es also offenbar Verhaltensweisen, die uns guttun, insofern sie für die menschliche Lebensform zweckmäßig sind, und solche, die uns schaden, insofern sie den Zwecken unserer Natur zuwiderlaufen. Es steht dem Menschen zwar frei, sich gegen seine Natur zu verhalten, nur fügt er sich, ob er es sich eingesteht oder nicht, letztlich selbst Schaden zu. Das gilt für die Nahrungsaufnahme ebenso wie für die Sexualität und alle anderen menschlichen Triebe.
Auf Latein lautet der Name für diesen natürlichen Zusammenhang von Sein und Sollen treffend „lex naturalis“: natürliches Gesetz. Der im Deutschen übliche Ausdruck „Naturrecht“ ist dagegen irreführend. Schließlich geht es nicht so sehr um Rechte (und Pflichten) als vielmehr um die Gesetzmäßigkeiten unserer Natur, die zu befolgen in unserem eigenen besten Interesse ist.
Aus diesem Grund dreht sich etwa die Ethik des hl. Thomas von Aquin, dem wohl bedeutendsten Naturrechtler der christlichen Tradition, vor allem um Tugenden, statt um moralische Verbote und Vorschriften. Tugenden sind feste, durch Gewohnheit entstehende Prägungen unseres Charakters, die dafür sorgen, dass unsere Leidenschaften nicht die vernünftige Ordnung der Zwecke, die unserer Natur angemessen ist, durcheinanderbringen.
Wer tugendhaft ist, stellt sicher, dass er dem Gesetz der eigenen Natur folgen und auf diesem Weg wahrhaft glücklich werden kann. Der Lasterhafte dagegen verliert sich im emotionalen Chaos und schadet dadurch nicht nur anderen und der Gesellschaft, sondern vor allem auch sich selbst.
Das natürliche Gesetz ist gegeben, damit wir glücklich werden
Auch wenn es Naturrechtstheorien ohne transzendenten Bezugspunkt gibt, liegt die Verbindung von Naturrecht und Gott nahe. Denn die Rede von objektiven Gesetzmäßigkeiten, deren Befolgung über Gedeih und Verderb einer Lebensform bestimmt, verweist auf einen souveränen Gesetzgeber, der die Natur, einschließlich unserer eigenen, entsprechend eingerichtet hat.
Allerdings gilt es zu beachten, dass Gott im Naturrechtsdenken primär die Rolle einer liebevollen und fürsorglichen Macht zukommt, die uns das natürliche Gesetz gegeben hat, damit wir glücklich werden und nicht, um uns unter die Knute einer lebens-, leib- und glücksfeindlichen Moral zu zwingen. Moralische Gesetze, wie sie exemplarisch in den Zehn Geboten zu finden, aber im Grunde allen Menschen „ins Herz geschrieben“ (Röm 2, 15) sind, dienen vielmehr nur als äußere Leitplanken für ein gelingendes Leben, das letztlich nur mithilfe der Tugenden zu erreichen ist.
Die pseudo-autonome Selbstermächtigung, mit der sich der moderne Mensch auf Kosten anthropologischer Gegebenheiten „selbst verwirklichen“ will, ist mit dem Naturrechtsdenken, wie es Benedikt XVI. bei seiner großen Rede im Blick hatte, auf jeden Fall unvereinbar. Wir stehen also vor der Wahl, ob wir weiter hochmütig in das Unglück der schrankenlosen Egomanie rennen oder aber – einzeln wie kollektiv – dem glücksträchtigen Gesetz unserer eigenen Natur folgen wollen.
Leider hören die meisten Politiker im Bundestag nicht auf Päpste... Man sollte wirklich darüber nachdenken, Benedikt zum Kirchenlehrer zu erheben, seine Aussagen waren prophetisch!
Leider hören die meisten Politiker im Bundestag nicht auf Päpste... Man sollte wirklich darüber nachdenken, Benedikt zum Kirchenlehrer zu erheben, seine Aussagen waren prophetisch!