„Das war ideologischer Druck wie unter Hitler“
Auf dem kleinen Tischchen stapeln sich Milan-Kundera-Bücher. „Es ist schade, wenn man die Romane von Kundera nicht kennt“, sagt Kunderas Namensverwandter Milan Ráček. Er wolle diese Lücke füllen. Für den Museologen und Schriftsteller ist „Der Scherz“ das Wichtigste, was der tschechische Autor geschrieben hatte. Der Roman wurde im Jahr des Prager Frühlings 1968 veröffentlicht und spielt in den 1950ern, als die Kommunistische Partei ihre Macht zementierte.
Abgesehen von den Kundera-Werken erinnert in dem Haus von Milan und Irena Ráček nahe der tschechischen Grenze wenig an ihre alte Heimat, der sie vor über fünf Jahrzehnten Lebewohl sagten. In dem Dörfchen im niederösterreichischen Weinviertel, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, haben sich er, der Autor, und sie, die Künstlerin, zusammen mit ihren drei Kindern ein wahres Refugium geschaffen. Die Familie hat ein altes Haus mit Weinkeller, dessen Kern aus dem 13. Jahrhundert stammt, neu instand gesetzt.
In den 50er-Jahren erfuhr der junge Milan Ráček die Ungerechtigkeiten des kommunistischen Regimes zum ersten Mal am eigenen Leib. Damals rieten die Lehrerkollegen seiner Mutter Marie Ráčkova, einer Lehrerin, ihren Sohn nicht aufs Gymnasium zu schicken, denn er werde später nie einen Platz an einer Universität erhalten. Die Schatten der Vergangenheit holten Ráček ein, nur dass es nicht seine eigenen Schatten waren, sondern die seines 1953 verstorbenen Vaters. Zu dem Zeitpunkt war der heute 80-jährige Milan zehn Jahre alt.
Gebrandmarkt als Sohn eines „Legionärs“
Sein Vater František Ráček, der 1897 in der K.-u.-k.-Monarchie geboren wurde, war im Ersten Weltkrieg Offizier der „Tschechoslowakischen Legionen“. Diese militärischen Freiwilligenverbände kämpften auf Seite der Entente gegen die Mittelmächte. Ziel war die tschechische Unabhängigkeit von Österreich-Ungarn. Da sie Unterstützung der Alliierten bekamen und gegen die Rote Armee kämpften, waren ehemalige „Legionäre“ den Kommunisten ein Dorn im Auge. Deshalb verlor der Vater 1948 seine Stelle als Direktor einer ökonomischen Akademie.
„Vater war ein idealistisch denkender Mensch, der im Jahre 1948 geglaubt hat, der Kommunismus ist eine schnell vorübergehende Zeit, denn die Kommunisten wurden demokratisch gewählt und können ja wieder abgewählt werden“, erinnert sich Milan Ráček. Er war der Meinung, die Kommunisten sollten die Chance bekommen zu zeigen, was sie besser machen als andere Parteien.
Doch als die Kommunistische Partei (KPTsch) die Mehrheit hatte, „degradierte sie die nichtkommunistischen Parteien zu bloßen Satelliten“, wie Ráček es formuliert, und baute die Demokratie ab. Die darauffolgenden Wahlen seien „Augenauswischerei“ gewesen. Alle Parteien wurden in der sogenannten Nationalfront unter dem Diktat der KPTsch zusammengefasst. Lediglich die Sozialdemokraten duldete man als eine Art „zahnlose Opposition“. „Das waren alles Marionetten“, fügt Ráček hinzu.
Als sein Vater noch lebte, hatten sich bei der Familie oft Leute getroffen, die das System kritisierten. „Wir wussten schon als Kinder, dass wir außerhalb von Zuhause mit niemandem über gewisse Dinge reden dürfen, auch nicht mit den besten Freunden“, sagt Ráček. Es sei schizophren gewesen, wie „zwei Parallelwelten, in denen man sich befand“.
Sein persönliches Erwachen kam, als Ráček merkte, dass die Politik Einfluss auf sein persönliches Leben nahm. Dass es für ihn keinen Sinn hatte aufs Gymnasium zu gehen, da er nachher auf keiner Universität akzeptiert würde, gab ihm „so richtig zu denken“. Gebrandmarkt als Sohn eines ehemaligen Legionären, absolvierte Ráček deshalb die Fachschule für Museumskunde im Nationalmuseum Prag. Die Ausbildung bescherte ihm ein einjähriges Praktikum an der Biologischen Station Serrahn in der mecklenburgischen Seenplatte in der DDR.
Die Nacht, als die Sowjets einmarschierten
Milan Ráček ist ein Geschichtenerzähler. Jahrzehnte später, lange nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, veröffentlichte er auch Bücher, die von Erlebnissen und Anekdoten aus seiner Jugend hinter dem Eisernen Vorhang handeln. Gut erinnert er sich an die Nacht vom 21. August 1968, als ungefähr 200.000 Sowjets in die Tschechoslowakei einmarschierten, um den Prager Frühling niederzuschlagen.
Just in dieser Nacht sollte Ráčeks obligatorische Militärübung beginnen, die alle tschechoslowakischen Männer bis zum 50. Lebensjahr jedes dritte Jahr für drei Wochen absolvieren mussten. „Es war vollkommen sinnlos“, meint er. „Die Reserverekruten, vorwiegend ältere Männer, haben sich mit Sliwowitz (Zwetschken-Obstbrand, Anm.) vollbepackt und dort nur getrunken“. Die militärische Moral sei schwach gewesen. „Kam ein Gefreiter, der sie zu einer Übung bewegen wollte, sagten sie: ‘Schleich dich!’“, beschreibt der Museologe.
Um zwei Uhr nachts des 21. Augusts kam er am Bahnhof in Olmütz an. Dort sammelten sich alle Einberufenen, die von dort in die slowakische Stadt Martin gefahren wurden. Um das Radio scharte sich eine Menschentraube: Der Rundfunk verkündete, dass die Sowjets nach Prag einmarschieren. Unterwegs in die Slowakei sahen die Einberufenen aus dem Zug die russischen Panzer anrollen. „Es war eine Blitzaktion“, beschreibt Ráček. Bei der Kaserne in Martin angekommen, erhielten die Männer den Befehl, sich wieder nach Hause zu begeben.
Die dreiwöchige militärische Auffrischung wurde kurzfristig abgesagt. Der Grund: „Die Russen könnten die Berufung zur Militärübung als Mobilmachung gegen ihre Aktion auffassen. Man wollte Provokation vermeiden“, sagt Ráček. So war er in der darauffolgenden Nacht wieder zurück in Schönberg, wo er und seine Frau Irena zu diesem Zeitpunkt wohnten. Der Schlosspark, durch den Milan Ráček gehen musste, um nach Hause zu gelangen, war voll mit stationierten Sowjets.
„Hast du eine Zigarette für mich?“, fragte ihn einer der Soldaten. Ráček reichte ihm eine mit den Worten: „Sind in Russland die Zigaretten ausgegangen, sodass du hierherkommen musstest?“. „Das ist nicht meine Sache“, antwortete der Sowjet. Diese Worte seien eine indirekte Entschuldigung für den Einmarsch gewesen, glaubt Ráček.
Eheringe für die Demokratisierung
Nachdem die Tauwetter-Periode mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes am 21. August 1968 ein jähes Ende gefunden hatte, machte sich Enttäuschung bei Milan und Irena Ráček breit. In den Jahren davor brachten gewisse Lockerungen und die Entstalinisierung einen frischen Aufwind. „Wir waren so glücklich als die Liberalisierung gekommen ist – nicht nur die Jungen, auch die Alten. Sie sammelten Goldschmuck, darunter auch Eheringe und schickten sie nach Prag, um die Demokratisierung finanziell zu unterstützen“, schwärmt der 80-Jährige. Die Zensur wurde abgeschafft und man konnte Artikel auch gegen das Regime und die Praktiken der Sowjets publizieren.
Dass die Revolution von außerhalb des kommunistischen Systems gekommen wäre, hält Ráček für unmöglich. „Die antikommunistischen Kräfte waren erledigt, es war niemand da. Das heißt, die Erneuerung kann nur von den Kommunisten kommen“, erklärt er. Natürlich seien es nicht die orthodoxen Kommunisten gewesen, sondern die Jungen, die sich durchsetzten. Sie wollten einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“.
„Ihr seid belogen worden“
Irena Ráček arbeitete zu der Zeit in einem sogenannten Kulturklub, der Literatur- Musik- und Kunstevents veranstaltete. Dort malten sie und andere Mitarbeiter 1968 spontan Plakate mit Parolen gegen die russische Okkupation und für den Generalsekretär der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei, Alexander Dubček, der zu einer Gallionsfigur wurde. „Aljoscha, geh nach Hause, Mascha wartet auf dich!“, stand als Slogan auf den Plakaten, oder: „Ihr seid belogen worden“.
Die sowjetischen Truppen seien von den Funktionären belogen worden, sagt Ráček. Sie hatten sie glauben lassen, die Westdeutschen seien im Sommer 1968 in die Tschechoslowakei einmarschiert und nun müssten die Sowjets die Bevölkerung vor den BRD-Soldaten retten.
Nach dem abrupten Ende der Tauwetter-Periode und der Zerschlagung der Hoffnung auf Demokratisierung, Presse- und Reisefreiheit machte sich bei Irena und Milan Ráček Enttäuschung breit. „Wir hatten Angst, dass wenn wir in der Heimat bleiben, wir eine Wiederholung der 1950er Jahre erleben. Das war eine schlimme Zeit“, erinnert sich der Museologe.
Kirchen wurden vom Regime instrumentalisiert
Bedrückend sei zum Beispiel die allgemeine Verstaatlichung der Landwirtschaft gewesen. Das Regime sagte den Bauern, sie könnten weiterhin selbstständig wirtschaften, dabei mussten sie zwei Drittel von allem – ihrer Ernte, ihrem Vieh – an den Staat abgeben. Schon bei Kleinigkeiten – etwa, wenn man den verbotenen Sender „Freies Europa“ hörte – riskierte man eine Gefängnisstrafe. Viele Menschen haben geglaubt, dass „im Westen viele Faschisten an der Macht sind“, wie ihnen vom Regime eingetrichtert wurde. „Das war ideologischer Druck wie unter Hitler“, resümiert Ráček.
Offiziell gab es Religionsfreiheit im Kommunismus. Doch in Wahrheit seien die Kirchen vom kommunistischen Regime instrumentalisiert worden. Die Obrigkeit habe Kirchen renoviert und sich dann damit gebrüstet, wie demokratisch sie seien. Gleichgeschaltete Bischöfe hätten finanzielle Unterstützung erhalten, „damit sie Ruhe geben oder für das Regime predigen“. „Es war eine große Schwächung der Kirche. Viele Menschen sind ausgetreten, weil sie sich dachten: So eine Kirche brauche ich nicht“, erinnert sich Ráček.
Er selbst trat als kleiner Junge gemeinsam mit seiner Mutter aus der katholischen Kirche aus. Die KPTsch drängte die Lehrer zu einem Austritt, da die Kirche als „Konkurrenz zum Kommunismus“ – so formuliert es Ráček – gesehen wurde. Gerade Lehrer sollte ganz auf marxistischer Linie sein, da sie den Nachwuchs ausbildeten. Da Marie Ráčkova nach dem Tod ihres Mannes allein für den Unterhalt für sich und ihre beiden Söhne sorgen musste, entschied sie sich für den Austritt, um sich nicht der Gefahr des Gefeuert-werdens auszusetzen.
Großzügige Aufnahme in Österreich
Am 26. Oktober 1968 war es so weit: Irena und Milan Ráček sagten ihrer Heimat und dem verhassten Regime auf Wiedersehen. Milan Ráček stand damals kurz vor seinem 25. Geburtstag. 1975 verließ auch Schriftsteller Milan Kundera mit seiner Frau das sinkende Schiff in Richtung Frankreich. Das Ehepaar Ráček hatte Glück – noch während der Tauwetter-Periode, also der Zeit vor dem 21. August 1968, als Ausreisen einfacher waren, wurde ihnen ein tschechisches Visum für einen Drei-Tage-Aufenthalt bei Freunden in Wien genehmigt.
Das Visum für Österreich erhielt das Paar bei der österreichischen Botschaft in Prag. Der Leiter der Botschaft, der spätere parteilose Bundespräsident Rudolf Kirchschläger, ignorierte das Verbot des damaligen Außenministers Kurt Waldheim, Visa für Tschechen auszustellen.
Das war nur der Anfang von Großzügigkeiten, die das geflüchtete Ehepaar in Österreich erlebte. In Wien stellten Bekannte den Beiden eine Wohnung zur Verfügung. Vier Tage nach ihrer Ankunft, am 30. Oktober 1968, entdeckte Milan Ráček das Niederösterreichische Landesmuseum, welches damals in der Herrengasse im ersten Bezirk einquartiert war. Ohne Umschweife ging er hinein und erkundigt sich, ob das Museum einen Museologen oder Restaurator gebrauchen könnte.
Das Schicksal meinte es gut mit Ráček: Der Leiter, Professor Lothar Machura, der selbst tschechische Wurzeln hatte, stellte ihn sofort ein. Und nicht nur das: Machura gab dem Flüchtling an dem Tag 1.000 Schillinge auf die Hand – das sind 72,68 Euro – mit den Worten: „Das zahlen Sie mir zurück, wenn Sie etwas verdienen“. Zu dem Zeitpunkt hatte das Ehepaar lediglich 70 Schillinge.
Kein Abschied für die Ewigkeit
Doch eine Regelung wurde an diesem 30. Oktober übersehen. Das Gesetz sieht vor, dass Mitarbeiter des Niederösterreichischen Landesmuseum österreichische Staatsbürger sein müssen. Prompt stellte Milan Ráček einen Antrag auf Staatsbürgerschaft und erhielt sie auch innerhalb von sechs Monaten. „Das ging so schnell, weil ich die Staatsbürgerschaft im Interesse des Landes bekommen habe – wie die Netrebko“, witzelt er.
Dass das kommunistische Regime in seiner alten Heimat einmal zusammenfallen wird, hat sich Ráček nicht vorstellen können. „Wir haben gedacht, es ist ein Abschied für die Ewigkeit“, sagt er. Vom Fernseher aus hat das Ehepaar den Fall des Eisernen Vorhangs miterlebt.
Die Familie Ráček hat sich 1978 in dem Dorf nahe der tschechischen Grenze niedergelassen. Dort herrschte nach dem Fall des Kommunismus Aufbruchsstimmung. In den größeren Orten wurden auf einmal tschechische Sprachkurse angeboten. Die Ráčeks organisierten grenzübergreifende Kulturtage mit Lesungen und Konzerten, auch in ihrem eigenen Garten.
Warum die Familie nicht wieder nach Tschechien gezogen ist? Milan Ráček antwortet mit einem sinngemäßen Zitat des tschechisch-österreichischen Schriftstellers Pavel Kohut: „Ich wechsle meinen Mantel nicht zwei Mal um.“
Dieses Porträt ist Teil der Reihe „Aufrecht unter Hammer und Sichel“. Hier werden Menschen vorgestellt, die im kommunistischen Ostblock aufwuchsen und dort Schikanen, Demütigungen und Denunziation erfuhren. Die Dissidenten, Andersdenkenden und bekennenden Christen haben, oft im Kleinen, dem Regime getrotzt und sich ihren Glauben bewahrt. Im ersten Porträt ging es um den Wiener Politiker Peko Baxant, der in den 1980er Jahren mit seiner Familie die Tschechoslowakei verließ. Ein Grund war ihr christlicher Glaube.
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Danke für die gefühlvolle Zusammenfassung unseres langen Gesprächs. Beim Kommentar zum "Familienfoto" ist leider ein Irrtum unterlaufen. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1963 und nicht wie erwähnt 1953.
Herzliche Grüße
Bin sehr stolz auf dich Liebe Grüße
Ein sehr guter Artikel. "Offiziell gab es Religionsfreiheit im Kommunismus. Doch in Wahrheit seien die Kirchen vom kommunistischen Regime instrumentalisiert worden. Die Obrigkeit habe Kirchen renoviert und sich dann damit gebrüstet, wie demokratisch sie seien. Gleichgeschaltete Bischöfe hätten finanzielle Unterstützung erhalten, „damit sie Ruhe geben oder für das Regime predigen“. „Es war eine große Schwächung der Kirche. Viele Menschen sind ausgetreten, weil sie sich dachten: So eine Kirche brauche ich nicht“, erinnert sich Ráček."
Das kommt mir leider nur allzu bekannt vor :-(
Ein sehr guter Artikel. "Offiziell gab es Religionsfreiheit im Kommunismus. Doch in Wahrheit seien die Kirchen vom kommunistischen Regime instrumentalisiert worden. Die Obrigkeit habe Kirchen renoviert und sich dann damit gebrüstet, wie demokratisch sie seien. Gleichgeschaltete Bischöfe hätten finanzielle Unterstützung erhalten, „damit sie Ruhe geben oder für das Regime predigen“. „Es war eine große Schwächung der Kirche. Viele Menschen sind ausgetreten, weil sie sich dachten: So eine Kirche brauche ich nicht“, erinnert sich Ráček."
Das kommt mir leider nur allzu bekannt vor :-(
Danke für die gefühlvolle Zusammenfassung unseres langen Gesprächs. Beim Kommentar zum "Familienfoto" ist leider ein Irrtum unterlaufen. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1963 und nicht wie erwähnt 1953.
Herzliche Grüße
Bin sehr stolz auf dich Liebe Grüße