Boykott der freien Meinung
Es gibt zwei Geschichten rund um X, der Marke, die der US-Unternehmer Elon Musk aus dem einstigen Twitter geformt hat. Eine ist wahr, die andere nicht. Erzählt wird fast nur die Lüge. Auf die Wahrheit hat in diesem Fall kaum jemand Lust.
Die Legende lautet, dass sich X unter seinem neuen Besitzer zum Hort von Verschwörungstheoretikern gewandelt habe, weil Beiträge kaum mehr geprüft und deshalb auch nicht mehr bei Bedarf zensiert oder gelöscht würden. Was richtig ist daran: Tesla- und SpaceX-Chef Musk lässt sehr viel mehr laufen als die Vorbesitzer. Die Schlussfolgerung, es würde deshalb mehr Unsinn und Grenzwertiges dort zu finden sein, ist aber nicht haltbar.
Die Behauptung geht darauf zurück, dass beim einstigen Twitter konsequent zensiert, gelöscht oder in die Unsichtbarkeit gebannt wurde, was den amerikanischen Behörden nicht passte. Ob beim Klima, Corona oder zu internationalen Konflikte: Die Horden von Prüfern wollten nichts stehen lassen, was der offiziellen Darstellung widerspricht. Die „Twitter-Files“, eine umfangreiche Recherche, die Elon Musk bei Amtsantritt in Auftrag gegeben hat, haben die Mechanismen und Motive dahinter offengelegt.
Manche Verschwörungstheorie wurde wahr, für manche fehlen Beweis und Gegenbeweis
Vieles von dem, was als schädliche Verschwörungstheorie aus dem Weg geräumt wurde, hat sich inzwischen bestätigt. Anderes war schlicht eine These, für die bis heute ein Beleg, aber auch ein Gegenbeweis fehlt. Bevor daraus X wurde, war Twitter in erster Linie ein Rollkommando der Wischmopps, für das nicht die Meinungsfreiheit oder der Kampf um das beste Argument der Maßstab war, sondern die Direktive von CIA und WHO.
Wo sich nicht über harte Fakten diskutieren ließ, regierte zudem die unsichtbare und von niemandem gewählte Jury der politischen Korrektheit. Auf X hätte Rassismus inzwischen freien Lauf, heißt es. Wer weiß, dass heute bereits ein historisches Gebäude in der Stadt Zürich ein Mahnmal des Rassismus sein soll, weil es seit Jahrhunderten „Zum Mohrenkopf“ heißt, hat da seine Zweifel. Man kann die Messlatte immer so tief legen, dass nichts mehr darunter durch passt.
Aber eben: Die Legende lebt, und der Markt reagiert. Seit Elon Musk die Plattform gekauft hat, sind viele einstige Anzeigenkunden abgewandert. Laut einer Übersicht der Zeitung Blick mögen inzwischen auch diverse Schweizer Unternehmen nicht mehr mit X assoziiert werden. Banken, Versicherungen oder auch die Schweizerische Post schalten dort keine Werbung mehr, weil sie befürchten, in den Sog des Unappetitlichen gezogen zu werden.
Es ist erstaunlich, wie willkürlich Milliardenkonzerne handeln
Niemand sollte ernsthaft glauben, solche Entscheidungen würden nach sorgfältigen, vertieften Evaluationen und auf der Basis rationaler Argumente fallen. Es ist erstaunlich, wie willkürlich Milliardenkonzerne handeln – beziehungsweise wie einfach sie zu steuern sind. Da reicht schon ein mediales Grundrauschen über angebliche Vorgänge, damit sie sich vorsichtshalber zurückziehen. Das nur, um die bloße Gefahr eines künftigen «Shitstorms» zu verhindern.
Hinter diesem Gebaren steckt eine ganze Wagenladung Heuchelei. Die Privatbank Julius Bär beispielsweise gab in der erwähnten Befragung an, seit 2022 keine Werbung mehr auf Twitter beziehungsweise X zu schalten. Aber das Finanzinstitut flutet den sozialen Nachrichtendienst an einzelnen Tagen fast im Stundentakt mit inhaltlichen Beiträgen. Die kosten nichts, und dann scheint es plötzlich völlig in Ordnung zu sein, angeblich in der Nachbarschaft von rassistischen oder verschwörungskriminellen Äußerungen zu stehen.
Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) würden vermutlich eine Beschwerdelawine lostreten, wenn sie X nicht mehr wie heute für aktuelle Meldungen wie Störungen im Bahnverkehr nutzen würden. Viele Fahrgäste verlassen sich auf diesen Service. Geld mag die SBB aber nicht in die Plattform investieren. Konsequent ist anders.
Elon Musk dürfte es kaum mitgekriegt haben, dass er Opfer dieses Boykotts der Zwerge wurde. Denn in der Schweizer Werbeindustrie hat Twitter auch vor ihm nie eine besonders große Rolle gespielt. In den Dimensionen, in denen sich der US-Unternehmer bewegt, ist der Entzug von Werbegeldern aus der Schweiz nicht einmal ein laues Lüftchen.
Boykott wegen freier Meinungsäußerung
Sehr viel massiver sind die Rückzugswellen im Ursprungsland, den USA. Dort hat eine Reihe von Großfirmen verbunden mit viel Marketing die protestartige Scheidung von X vollzogen und öffentlich publiziert. Disney dürfte der bekannteste von ihnen sein. Der Woke-Kurs des Unterhaltungskonzerns passt einfach nicht zu Musks Philosophie der freien Rede. Wer nun aber hämisch über den sinkenden Wert von X frotzelt, sollte sich bei Gelegenheit die Entwicklung des Aktienkurses von Disney zu Gemüte führen.
Da bleibt nicht mehr viel Spielraum nach unten. Die Erben von Walt Disney haben sich mit dem Versuch, Filmklassiker zu Umerziehungskursen zu verstümmeln, ganz schön vergaloppiert. Kaum jemand wollte die schwarze Meerjungfrau namens Arielle sehen, und das ist nur eines von vielen Beispielen.
Keine Frage: Niemand muss werben in einem Umfeld, das ihm nicht passt. Aber hier werden einem Unternehmen Gelder entzogen als Quittung dafür, dass es die freie Meinungsäußerung hochhält. Dass Firmen ernsthaft glauben, das sei ihrem Ruf einträglich, ist die wahre Tragödie dahinter.
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