Zwei Seelen in meiner Brust
Dies ist einer von 39 Lebensberichten von Menschen, die mit ihrer sexuellen Orientierung hadern. Das Buch „Weil ich es will. Homosexualität. Wandlungen. Identität“ handelt von Menschen, die sich nicht in die gewohnten Schablonen von „heterosexuell“ und „homosexuell“ einordnen lassen. Ihre Lebenssituationen passen aber auch nicht zum Typus des stereotypen homosexuellen Menschen, der von den meisten Medien vermittelt wird: promiskuitiv, linksalternativ, irgendwie progressiv.
Der Herausgeber des Buches, der Entwicklungspsychologe Markus Hoffmann, beschreibt dies im Vorwort folgendermaßen:
„Einige der Autoren leben bewusst ledig und verzichten auf Sexualität. Sie begründen das entweder mit ihrem christlichen Glauben oder mit einem inneren Konflikt, der es ihnen nicht möglich macht, eine Partnerschaft auf Augenhöhe zu führen. Andere hingegen sind verheiratet, weil sie eine Öffnung ihrer homosexuellen Gefühle in Richtung Heterosexualität erlebt haben. Manche von ihnen haben eine starke Veränderung erlebt, andere nehmen sowohl heterosexuelle als auch homosexuelle Impulse in ihrem Leben wahr.“
Gemeinsam sei den Autoren, dass sie gelernt hätten, ihre homosexuellen Impulse, ob vergangen oder fortbestehend, als Aspekt ihres Lebens anzunehmen, ohne daraus einen Lebensstil oder eine homosexuelle oder „queere“ Identität abzuleiten. Eine weitere Gemeinsamkeit sei, dass sie in je unterschiedlichen Lebenssituationen einen Weg suchen mussten, ihren christlichen Glauben in Bezug auf ihre nicht-heterosexuelle Orientierung zu verstehen: Sie mussten zu einer Lebensgestaltung finden, für die es kaum Vorbilder gibt.
Einer dieser Personen ist Marius. Corrigenda veröffentlicht exklusiv einen Vorabdruck seiner Geschichte:
In meinem Leben hat es sich oft so angefühlt, als schlügen zwei Herzen in meiner Brust: auf der einen Seite das Verlangen, von einem Mann gehalten zu werden, seine Nähe und besonders seine Kraft zu spüren, und eine innere Faszination für den männlichen Körper.
Auf der anderen Seite wollte ich als Christ unbedingt Jesus nachfolgen und hatte die Überzeugung, dass Gottes Vorstellungen für mein Leben besser sind als die meinen. Dabei hatte ich die Hoffnung, dass ich ein Leben als „normaler“ heterosexuell-fühlender Mann führen würde. Wie sollte das nur zusammenpassen? Ich fragte mich, ob etwas mit mir nicht stimmte. War ich der Einzige, der solche widersprüchlichen Gefühle in sich trug? Diese Fragen waren in meiner späten Kindheit und Jugend beständige Begleiter – und sie beschäftigen mich bis heute.
Leben in zwei Welten
Mit ungefähr acht Jahren lernte ich den christlichen Glauben kennen und nahm ihn für mich an. Damals waren meine Eltern bereits geschieden, genau gesagt, seitdem ich ein Jahr alt war. Ich wuchs bei meiner Mutter mit meinen Schwestern in einem reinen Frauenhaushalt auf. Obwohl ich auch die Väter von Freunden erlebte, hatte ich doch keine tiefe und innige Beziehung zu einer Vaterfigur. Mit dem Beginn der Pubertät und dem Entdecken meiner Sexualität empfand ich eine Faszination für das männliche Geschlecht. Ich begann, mit Freunden zu experimentieren, und fühlte mich zu Männlichkeit an sich hingezogen. Ich selbst hatte keine Ahnung davon, was es eigentlich bedeutet, ein Mann zu sein.
In meiner Gemeinde traute ich mich als Jugendlicher nicht, über meine Gefühle und mein Verlangen zu sprechen. Auch wenn dort nie direkt über solche Dinge gepredigt wurde, erschien doch klar, dass es eine gelingende Partnerschaft nur zwischen Mann und Frau geben könne. Homosexuell zu leben sah ich nicht als Option. Mit meinen Gefühlen auf mich allein gestellt, suchte ich heimlich online über Videochats und in unterschiedlichen Foren nach sexuellen Kontakten zu Männern. Dabei war es nie meine Absicht, eine wirkliche Beziehung aufzubauen, sondern ausschließlich, meiner Faszination für das männliche Geschlecht bzw. Geschlechtsteil Raum zu geben. So entwickelte sich über Jahre in mir eine parallele Welt, die sich jedoch nicht in meinem äußeren Verhalten ausdrückte.
Doch ich war nicht nur von Männern und ihrem Geschlechtsteil fasziniert. Ich fühlte mich auch zu Frauen hingezogen. Ich suchte Trost in unverbindlichen Dates und kurzen Beziehungen, doch Erfüllung und wirkliches Ankommen fand ich nicht. Am Ende meiner Schulzeit stellte ich fest, dass ich so nicht weitermachen konnte und wollte. Was war denn nun wahr? Was war richtig? Konnte ich schwul oder bisexuell sein und gleichzeitig Christ? Gab es auch einen anderen Weg?
Ich beschloss zunächst, mein Verlangen nach Männern zu unterdrücken, mir eine feste Partnerin zu suchen und alles andere als „Jugendsünde“ zu verbuchen. Dies ging vorerst gut – bis auf ein paar Ausrutscher in die Welt des Internets –, war aber nicht von Dauer. In der Mitte meines Studiums war ich festes Mitglied einer Gemeinde, organisierte Jugendfreizeiten und hatte eine feste Partnerin. Nach wie vor war im Verborgenen ein inneres Verlangen nach und eine starke Faszination für Männlichkeit da. Es fiel mir beispielsweise weiterhin schwer, in einer Gemeinschaftsdusche mit Männern zu sein, da ich dort ungewollt Dinge wahrnahm, die mich erregten. Immer wieder meldete sich ein Verlangen in mir, das ich aber durch Gebet und feste Überzeugung herunterzuschlucken versuchte. Bis eines Nachts Folgendes passierte ...
Eine Männersauna und die Folgen
Bei einer Studentenparty hatte ich etwas zu viel getrunken und wollte unbedingt noch spät abends saunieren gehen. Im Internet hatte ich schon früher eine Schwulensauna in meiner Stadt entdeckt, in der sich Männer für sexuelle Handlungen treffen. Dorthin begab ich mich. Nach einigen Stunden, in denen ich eine Reihe von sexuellen Kontakten hatte, verließ ich die Sauna und realisierte, was gerade passiert war: Mein Leben, so war ich mir sicher, hatte ich gegen die Wand gefahren. Ich fühlte mich dreckig, wertlos und wie ein Versager. Mir war klar: Ich wollte das, was ich getan hatte, nicht verschweigen. Auch Verharmlosen war keine Option mehr. Der innere Kampf in meiner Brust war offen ausgebrochen.
Direkt am nächsten Morgen erzählte ich meiner Partnerin von meinem Saunabesuch, der nicht nur ein Ausleben meiner sexuellen Fantasien war, sondern auch ein Betrug an ihr. In diesem Moment geschah für mich eins der größten Wunder: Meine Partnerin ließ mich nicht stehen, sondern nahm meine Hand und brachte zum Ausdruck, dass wir gemeinsam eine Lösung finden würden. Eine Voraussetzung für diesen Weg wäre jedoch, dass ich mich anderen anvertraue.
Erst meinem besten Freund, dann meinem Pastor und meinem Jugendleiter. Ich öffnete mich ihnen gegenüber und erzählte von meinem jahrelangen inneren Kampf, meiner Scham und meiner großen Sorge, dass etwas mit mir falsch sei und dass Gott sich von mir abwenden könnte. In diesen Gesprächen erlebte ich zum ersten Mal Verständnis. Ich wurde nicht, wie ich befürchtet hatte, aus der Gemeinde ausgeschlossen, von allen meinen Diensten entfernt oder öffentlich an den Pranger gestellt. Meinen Leitern ging es vielmehr darum, dass mir geholfen würde, geistlich und seelisch. Sie vermittelten mir einen Seelsorger, der selbst Erfahrung mit homosexuellen Gefühlen hatte.
Eine Reise begann, auf der ich mich bis heute befinde. Ich begann mich meinen inneren Fragen zu stellen. Wie konnte es zu dem Saunabesuch kommen? Warum hatte ich diese widersprüchlichen Gefühle in mir und konnte sie nicht einfach herunterschlucken? Wie konnte sich alles in mir so aufstauen, dass es eines Tages explodierte? Und wo war Gott in all dem?
Die wahren Bedürfnisse erkennen
In den Gesprächen mit meinem Seelsorger schauten wir auch zurück auf meine Kindheit. Ich durfte entdecken und lernen, dass mein Wunsch nach einem Mann in meinem Leben etwas ganz Normales und Sinnstiftendes ist. Ich hätte einen Vater gebraucht, der für mich da ist, mich hält, mich tröstet und mir Mut zuspricht. Ich hätte seine Stärke gebraucht, seine Männlichkeit und seine Kraft.
Stattdessen war dort ein Vakuum – was blieb, war ein Wunsch, eine kindliche Sehnsucht. Doch diese Sehnsucht wurde nicht erfüllt. In meiner inneren Verunsicherung darüber, was es heißt, ein Mann zu sein, reduzierte ich „Männlichkeit“ auf das männliche Geschlechtsorgan und eine muskulöse Erscheinung und sehnte mich nach diesen Dingen. Es ging in meiner Suche wenig um wirkliche Nähe, denn eigentlich wollte ich keine partnerschaftliche Beziehung zu einem Mann, sondern suchte vor allem die Erfahrung von rein körperlichem Kontakt.
In meinem inneren Prozess durfte und darf ich erkennen, dass hinter vielen Dingen, die wir Christen möglicherweise als Sünde oder Zielverfehlung beschreiben, letztlich Bedürfnisse liegen. In der seelsorgerlichen Begleitung begab ich mich auf einen Weg, auf dem ich innerlich gestärkt wurde. Ich merkte, dass ich nicht unbedingt alle Wünsche und Fantasien in die Tat umsetzen musste, sondern dass meine Bedürfnisse auf eine andere Weise ernst genommen und befriedigt werden können, als ich es bis dahin gedacht hatte.
In meiner persönlichen theologischen Auseinandersetzung – die nie abgeschlossen sein wird – lernte ich Gott als den kennen, der sich das Beste für mich wünscht. Meine echten Bedürfnisse zu erkennen, ernst zu nehmen und nach einer wahren Befriedung zu suchen – das ist nun mein Auftrag, den ich heute Tag für Tag angehe.
Der Weg geht weiter
Heute, etwa sieben Jahre später, bin ich glücklich verheiratet, weiterhin Teil einer Gemeinde und vor allem weiterhin auf dem Weg. Und damit meine ich nicht zuerst meine Sexualität. Ich habe erkannt, dass viele Wunden aus meinem Leben, insbesondere aus meiner Kindheit, noch heil werden müssen. Heil werden bedeutet für mich nicht nur, ein Gebet zu sprechen, mich einmal mit irgendjemandem zu treffen und von meinem Innersten zu berichten; heil werden bedeutet für mich, kontinuierlich dranzubleiben, immer wieder aus unterschiedlichen Richtungen zu fragen: Was ist wirklich los? Was liegt hinter meinem offensichtlichen Verlangen?
Heil werden beinhaltet auch, dass ich ehrlich mit mir und meiner Vergangenheit sein muss. Ich brauche Menschen in diesem Prozess, die die schwierigen Fragen stellen, Freunde, andere Männer und auch Mentoren, Seelsorger oder Therapeuten. Immer wieder entdecke ich schmerzhafte Erfahrungen aus meiner Kindheit, die mich heute noch beeinflussen. Diese darf ich dann in Gesprächen ans Licht holen, wo sie gesehen und wahrgenommen werden und durch Gottes Liebe und gutes menschliches Wirken heilen können. Dies ist ein langer Weg. Immer wieder gibt es Momente, in denen ich an meiner Haltung zweifle, zum Beispiel dann, wenn ich von Aufrufen in den Medien für die Akzeptanz von Homosexualität höre. Als jemand, der sich genau diese Fragen stellt, wünsche ich mir einen offenen Diskurs, ohne Scham oder die Angst, falsch verstanden oder in eine Schublade gesteckt zu werden.
Offenheit und Annahme
Ich habe diese Erfahrungen gebraucht, um zu erkennen, was wirklich in mir los ist. Ich durfte in einer Gemeinschaft sein, die mich nicht direkt verurteilt und als „schwul“ abstempelt. Nur so konnte ich tiefer gehen und erkennen, wo das eigentliche Problem, der eigentliche Schmerz liegt. Ich durfte Leiter haben, die mir zuhörten, ohne zu schnelle Schlüsse zu ziehen.
Leider kenne ich auch Geschichten, in denen Menschen nicht so Positives erlebt haben, sondern ein Umfeld voller Angst, Scham und Verurteilung oder ein Umfeld ohne Richtlinien oder moralische Grundsätze, in dem alles gewollt und sogar gut scheint. Dort darf es dann solche tieferen Fragen, denen ich mich stellen durfte, gar nicht mehr geben.
Ich glaube, wir als christliche Gemeinschaft können erkennen, dass Gottes Gnade groß genug ist, um den vermeintlichen Spalt zwischen klarer Theologie mit Grundsätzen und Glaubensüberzeugungen und der unendlichen Liebe und Annahme Gottes zu überbrücken. Ich habe ein Umfeld gebraucht, das mir zuhört, mich ermutigt, korrigiert und immer wieder darauf hinweist, dass es Hoffnung in der Person Jesus Christus gibt. Dass ich das habe erleben dürfen und heute der bin, der ich bin, ist für mich ein großes Wunder, für das ich dankbar bin.
Marius ist in einer Kleinstadt im Schwarzwald aufgewachsen, er ist verheiratet, angehender Lehrer und liebt gutes Essen, spannende Romane und das Meer.
Bei dem Text handelt es sich – mit freundlicher Genehmigung des Fontis-Verlags – um einen Auszug aus dem am 1. September 2023 erscheinenden Buch von Markus Hoffmann (Herausgeber) „Weil ich es will. Homosexualität. Wandlungen. Identität. 39 Lebensberichte“, Fontis-Verlag, 424 Seiten, 29,90 Euro.
Ich bin neugierig geworden auf das Buch, auch auf die enthaltenen Frauentexte. Dieses Buch scheint eine Begegnung mit dem Thema Homosexulalität und Geschlechtsidentität zu ermöglichen, die anders gelagert und wohl auch differenzierter ist, als ich sie bisher kenne. Danke sehr an die Autorin fürs Perlentauchen und die Empfehlung!
Nicht, weil ich es will, sondern, weil Gott es will.
Anscheinend sind Homosexuelle hetzutage schon überall. Wir Christen sollten diesem Thema keine allzu große Aufmerksamkeit schenken.
Danke für diesen wunderbaren Beitrag, der einen sehr behutsamen, differenzierten und ehrlichen Blick auf ein komplexes Lebensthema wirft. Ich freue mich schon darauf, mehr bzw dieses Buch zu lesen!
Jedes Jahrhundert hat seine eigenen Seelenschmerzen, mal ernst zu nehmen, mal redundant. Hm.
Mir geht es ähnlich wie in dem Textbeispiel. Ich fand das sehr schön. Vielleicht hilft es auch, sich über andere gleichgeschlechtliche Beziehungen zu freuen. Aber trotzdem weiß ich auch noch nicht, wie ich damit umgehen soll. Es ist echt sch... . Kann man wenigstens nicht entweder ganz schwul oder ganz hetero sein?
Wir sehen nicht die ganze Wirklichkeit der Menschen, die homosexuell sind. Es ist wunderbar, dass uns Betroffene die Augen öffnen. Es ist traurig, dass die Kirche sich diesen Menschen nicht zuwendet.
Dieses Thema einmal anders zu betrachten, finde ich sehr wertvoll. Ich freue mich auf das Buch.
Anscheinend sind Homosexuelle hetzutage schon überall. Wir Christen sollten diesem Thema keine allzu große Aufmerksamkeit schenken.
Danke für diesen wunderbaren Beitrag, der einen sehr behutsamen, differenzierten und ehrlichen Blick auf ein komplexes Lebensthema wirft. Ich freue mich schon darauf, mehr bzw dieses Buch zu lesen!
Danke für diesen Beitrag. „Dort darf es dann solche tieferen Fragen, denen ich mich stellen durfte, gar nicht mehr geben.“ ist ein erschütternder Satz. Gut, dass wir dennoch von diesen tieferen Fragen erfahren können.
Ich bin neugierig geworden auf das Buch, auch auf die enthaltenen Frauentexte. Dieses Buch scheint eine Begegnung mit dem Thema Homosexulalität und Geschlechtsidentität zu ermöglichen, die anders gelagert und wohl auch differenzierter ist, als ich sie bisher kenne. Danke sehr an die Autorin fürs Perlentauchen und die Empfehlung!
Nicht, weil ich es will, sondern, weil Gott es will.
Jedes Jahrhundert hat seine eigenen Seelenschmerzen, mal ernst zu nehmen, mal redundant. Hm.